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Das neue Polizeirecht in Bayern – die wichtigsten Änderungen im Überblick

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2018 hat der bayerische Gesetzgeber das neue Polizeirecht (PAG) verabschiedet. Hintergrund dieser Novellierung war die Umsetzung der JI-Datenschutzrichtlinie und die Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Maßgaben aus der Entscheidung des BVerfG zum Bundeskriminalamtsgesetz (BKAG; vgl. BVerfGE 141, 220 ff.). Darüber hinaus sollten laut der Gesetzesbegründung einige Vorschriften dem neuesten Stand der Technik angepasst sowie einige polizeiliche Befugnisnormen effektiver ausgestalten werden. Dies geschah in erster Linie als Reaktion auf den islamistischen Terror, es sollte eine neue gesetzliche Grundlage geschaffen werden, die die rechtlichen Möglichkeiten gegen das Vorgehen gegen „gefährliche Personen“ neu regelt. Im Folgenden haben wir einige der wichtigsten Änderungen und Neuerungen zusammenfasst und stellen diese näher vor.

A. Die geänderten, bzw. neu gefassten Vorschriften im Überblick

  • Art. 14 Abs. 3, 4 PAG – Molekulargenetische Untersuchungen zur Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters
  • Art. 16 Abs. 2 Satz 2 PAG – Meldeanordnung in zeitlich regelmäßigen Abständen
  • Art. 22 Abs. 2 PAG – Durchsuchung elektronischer Speichermedien
  • Art. 32 Abs. 1 Satz 2, 3 PAG – molekulargenetische Untersuchung von unbekanntem Spurenmaterial um das DNA-Identifizierungsmuster festzustellen
  • Art. 33 Abs. 4 PAG – Einsatz von sog. „Bodycams“
  • Art. 35 PAG – Sicherstellung von Post ohne Wissen des Betroffenen
  • Art. 35 PAG – Online Durchsuchung
  • Art. 47 PAG – Einsatz von Drohnen

B. Der Begriff der „drohenden Gefahr“

Mit der Novellierung des PAG wurde auch ein neuer Gefahrbegriff, die „drohende Gefahr“ neu eingeführt. Bisher war die Eingriffsschwelle und Voraussetzung für polizeiliches Handeln stets das Vorliegen einer konkreten Gefahr.

Eine konkrete Gefahr ist stets dann gegeben, wenn hinreichend konkretisierte Tatsachen vorliegen, die befürchten lassen, dass es bei ungehindertem Geschehensablauf in naher Zukunft zu einem Schaden für ein geschütztes Rechtsgut kommen wird.

Erst bei Vorliegen dieser konkreten Gefahr durfte die Polizei bisher einschreiten.

Nun hat der Gesetzgeber Eingriffsschwelle für polizeiliches Handels durch das Einführen der „drohenden Gefahr“ in Art. 11 Abs. 3 PAG herabgesetzt. Sinn und Zweck dieser Neuregelung ist es, effektiver und besser gegen sog. „Gefährder“ im Vorbereitungsstadium vorgehen zu können.

Unter „Gefährdern“ sind sind Personen zu verstehen, die bisher noch nicht strafrechtlich auffällig geworden sind, aber – aufgrund von Ergebnissen polizeilicher Ermittlungsarbeit – dennoch gefährlich erscheinen. Da von Ihnen noch keine konkrete Gefahr ausgeht, konnte bisher gegen diese Personen nicht oder nur stark eingeschränkt vorgegangen werden.

Der neu eingeführte Begriff der „drohenden Gefahr“ verlagert die Eingriffsschwelle zeitlich vor und regelt den Bereich zwischen der bisher vom PAG umfassten konkreter Gefahr und dem bisher nicht geregelten „Gefahrenvorfeld“.

Im Gegensatz zu den bisherigen Gefahrbegriffen zeichnet sich die „drohende Gefahr“ dadurch aus, dass gerade noch keine hinreichen konkretisierten Tatsachen vorliegen, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit und bei ungehindertem Geschehensablauf zu einem Schaden für ein geschütztes Rechtsgut führen.

Vielmehr ermöglicht der neu eingeführte Art. 11 Abs. 3 PAG der bayerischen Polizei unbeschadet von Art. 11 Abs. 1 und 2 PAG die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um einen Sachverhalt aufzuklären und die Entstehung einer Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut zu verhindern, wenn im Einzelfall das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit einer Gefahr eines Schadens begründet. Außerdem können Vorbereitungshandlungen für sich oder zusammen mit weiteren bestimmten Tatsachen den Schluss auf ein seiner Art nach konkretisiertes Geschehen zulassen, wonach in absehbarer Zeit Angriffe von erheblicher Intensität oder Auswirkung zu erwarten sind (=drohende Gefahr), soweit nicht die Art. 12 – 65 PAG die Befugnisse der Polizei besonders regeln.

Damit bezieht sich Art 11 Abs. 3 PAG nicht auf eine allgemein bestehende Gefahr nach der allgemeinen Lebenserfahrung sondern vielmehr auf auf einen konkreten Lebenssachverhalt, dessen Verwirklichung bereits so bestimmt ist, dass der Schluss auf eine in absehbarer Zeit eintretendes schädigendes Ereignis nahe liegt.

Eine drohende Gefahr liegt demnach immer dann vor, wenn sich aufgrund eines individuellen Verhaltens einer Person (vgl. Art. 11 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 PAG) oder aufgrund von festgestellten Vorbereitungshandlungen (vgl. Art. 11 Abs. 3 Satz1 Nr. 2 PAG) ein tatsächlicher Sachverhalt bereits so konkretisiert hat, dass man daraus auf ein in naher Zukunft liegendes schädigendes Verhalten dieser Person schließen kann. Ab diesem Zeitpunkt ist nach dem geänderten PAG nun ein polizeiliches Einschreiten möglich.

C. Die einzelnen Vorschriften im Detail

1. DNA-Analyse nach Art. 14 Abs. 3,4 PAG und Art. 32 Abs. 1 Satz 2 PAG

a) DNA- Analyse nach Art. 14 Abs. 3, 4 PAG

Nach Art. 14 Abs. 3 Satz 1, 4 PAG kann die Polizei als erkennungsdienstliche Maßnahme einem Betroffenen Körperzellen entnehmen und diese zur Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters molekulargenetisch untersuchen, wenn dies zur Abwehr einer Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut erforderlich ist und andere erkennungsdienstliche Maßnahmen nicht hinreichend sind. Dabei darf sich die molekulargenetische Untersuchung allein auf das DNA-Identifizierungsmuster erstrecken.

Mit dieser Vorschrift wurde eine polizeiliche Präventivmaßnahme geschaffen, die es ermöglicht zur Erstellung eines DNA-Identifierungsmusters DNA-Proben zu entnehmen, sofern andere – primär anzuwendende – erkennungsdienstliche Maßnahmen nicht ausreichend sind. Die Polizei darf folglich, sofern dies zur Abwehr eine konkreten Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut notwendig ist, einer Person Körperzellen entnehmen und aus diesen ein DNA-Identifizierungsmuster erstellen.

Dabei handelt es sich keineswegs um eine Standardbefugnis der Polizei. Vielmehr ist die Maßnahme an hohe Voraussetzungen geknüpft: Die Entnahme muss richterlich angeordnet sein und darf nur durch einen Arzt durchgeführt werden. Sie ergänzt die bisher in Art. 14 Abs. 2 PAG geregelten erkennungsdienstlichen Maßnahmen wie beispielsweise das Nehmen von Fingerabdrücken oder das Erstellen von Lichtbildern.

Die konkreten Voraussetzungen der DNA-Analyse nach Art. 14 Abs. 3,4 PAG sind:

  • konkrete Gefahr für bedeutendes Rechtsgut
  • Anordnung durch Richter (Art. 14 Abs. 3 Satz 4 PAG)
  • Durchführung durch Arzt (Art. 14 Abs. 3 Satz 2 PAG)
  • Beschränkung auf Erstellung des Identifizierungsmusters
  • Subsidiarität zu anderen erkennungsdienstlichen Maßnahmen nach Art. 14 Abs. 2 PAG

Das gewonnen DNA-Identifizierungsmuster kann dann mit dem aus z.B. am Tatort, an Beweisstücken oder am Opfer hinterlassenen DNA-Spuren erstellten sog. „genetischem Fingerabdruck“ abgeglichen werden. Dabei bezieht sich das molekulargenetische Erkennungsmuster auf den sog. „nicht-codierten“ Bereich der DNA, der keinerlei Erbinformationen beinhaltet.

b) DNA-Analyse nach Art. 32 Abs. 1 Satz 2 PAG

Nach Art. 32 Abs. 1 Satz 2 PAG kann die Polizei zur präventiven Gefahrenabwehr personenbezogene Daten erheben. Dabei kann die Datenerhebung durch die molekulargenetische Untersuchung aufgefundenen Spurenmaterials unbekannter Herkunft zum Zwecke der Feststellung des DNA-Identifizierungsmusters, des Geschlechts, der Augen-, Haar- und Hautfarbe, des biologischen Alters und der geographischen Herkunft des Spurenverursachers / der Spurenverursacherin erfolgen, wenn die Abwehr der Gefahr auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre.

Es kann folglich durch entsprechende Analysen ein zu Art. 14 PAG erweitertes DNA-Profil einer bei Gefahrenabwehrmaßnahmen aufgefundenen DNA-Spur unbekannter Herkunft erstellt werden. Im Gegensatz zu Art. 14 PAG umfasst dieses DNA-Identifizierungsmuster auch den sog. „codierten“ Bereich der DNA.

Diese Analysen können helfen, den Kreis potentieller Täter / Täterinnen aufgrund von Erkenntnissen über Haut-, Haar- und Augenfarbe einzugrenzen.

2. Meldeanordnung nach Art. 16 Abs.2 Satz 2 PAG

Nach Art. 16 Abs. 1, 2 Satz 2 PAG kann die Polizei zur Abwehr einer Gefahr oder einer drohenden Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut eine Person verpflichten, in bestimmten zeitlichen Abständen bei einer Polizeidienststelle persönlich zu erscheinen (Meldeanordnung).

Dies war bisher nur über die sicherheitsrechtliche Generalklausel nach Art. 11 Abs. 1 PAG möglich, mit der Neuregelung des PAGs wurde nun eine eigenständige Regelung getroffen.

3. Durchsuchung elektronischer Speichermedien nach Art. 22 Abs. 2 PAG

Art. 22 PAG regelt die Durchsuchung von Sachen. Nach dem neu eingeführten Abs. 2 können, sofern die Durchsuchung ein elektronisches Speichermedium betrifft, nun auch vom Durchsuchungsobjekt räumlich getrennte Speichermedien durchsucht werden, soweit von diesem aus auf sie zugegriffen werden kann. Der Gesetzgeber reagiert hier auf die zunehmende Digitalisierung und den daraus resultierenden Umstand, dass Daten meist nun noch elektronisch gespeichert werden. Der Begriff der räumlich getrennten Speichermedien umfasst dabei neben herkömmlich Speichermedien wie z.B. einem USB-Stick auch Clouds und Online-Speicher.

4. Bodycams nach Art. 33 Abs. 4 PAG

Nach Art. 33 Abs. 4 PAG kann die Polizei bei Maßnahmen der Gefahrenabwehr an öffentlich zugänglichen Orten Personen offen mittels automatisierter Bild- und Tonaufzeichnung, insbesondere auch mit körpernah getragenen Aufnahmegeräten, kurzfristig technisch erfassen, wenn dies zum Schutz von Polizeibeamten oder Dritten vor Gefahren für ein erhebliches Rechtsgut erforderlich ist. Die getätigten Aufnahmen sind nach Art. 33 Abs. 8 PAG spätestens zwei Monate nach der Erhebung zu löschen, es sei denn, sie werden weiterhin zur Strafverfolgung oder zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der polizeilichen Maßnahme gebraucht.

Nach Art. 33 Abs. 4 Satz. 3 PAG dürfen Bodycams – unter sehr engen Voraussetzungen – auch offen in Polizeieinsätzen in Wohnungen zum Einsatz kommen. Dies darf allerdings nur nur zur Abwehr einer dringenden Gefahr für Leben, Gesundheit oder Freiheit einer Person erfolgen und sofern damit nicht die Überwachung der Wohnung verbunden ist. Es stellt sich hier zurecht die Frage, inwieweit dies mit Art. 13 GG – dem Schutz der Privatsphäre – vereinbar ist. Hierzu ist anzumerken, dass der Einsatz der Bodycams für den Betroffenen stets offenkundig ist und hier nicht die Überwachung (wie z.B. bei der klassischen Telekommunikationsüberwachung) im Vordergrund steht, die Kamera wird hier nicht verdeckt zum Einsatz gebracht, sie wird vielmehr zu Dokumentationszwecken genutzt. Der Einsatz der Bodycams in Wohnung ist daher durch Art. 13 Abs. 7 GG geschützt.

5. Postsicherstellung nach Art. 35 PAG

Die Polizei kann nach Art. 35 PAG ohne Wissen des Betroffenen Postsendungen sicherstellen, wenn sich diese im Gewahrsam von Personen oder Unternehmen befinden, die geschäftsmäßig Post- oder Telekommunikationsdienste erbringen oder daran mitwirken (Postdienstleister), und von einer Person versandt wurden oder an eine Person gerichtet sind

1. die für eine Gefahr oder eine drohende Gefahr für ein in Art. 11 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1, 2 oder Nr. 5 PAG genanntes bedeutendes Rechtsgut verantwortlich ist, oder

2. bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie für eine Person nach Nr. 1 bestimmte oder von dieser herrührende Postsendungen entgegennimmt oder weitergibt und sie daher in Zusammenhang mit der Gefahrenlage steht, ohne diesbezüglich das Recht zur Verweigerung des Zeugnisses nach den §§ 53, 53a StPO zu haben, sofern die Abwehr der Gefahr auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Die Anordnung der Sicherstellung obliegt dem Richtervorbehalt.

6. Online-Durchsuchung nach Art. 42 PAG

Nach Art. 42 Abs. 1 PAG ist nun eine Online-Durchsuchung zur Abwehr einer drohenden Gefahr möglich. Diese beinhaltet die verdeckte Durchsuchung eines elektronischen Gerätes (PCs, Laptops, Smartphone und andere Geräte mit Speicherfunktion) durch Aufspielen einer speziellen Software. Dabei zielt die Untersuchung nicht wie bei einer herkömmlichen Telefonüberwachung auf das Abhören einer Kommunikation ab sondern auf die Erhebung von bereits auf dem durchsuchten Gerät abgespeicherten Daten.

7. Art. 47 PAG – Drohnen

Nach Art. 47 PAG darf die Polizei im Rahmen bestimmter Maßnahmen nun Drohnen (sog. „unbemannte Luftfahrtsysteme“) einsetzen. Dies kommt bei folgenden Maßnahmen in Betracht:

  • offene Bild- und Tonaufnahmen oder -aufzeichnungen nach Art. 33 Abs. 1 bis 3 PAG
  • Einsatz besonderer Mittel der Datenerhebung nach Art. 36 Abs. 1 PAG
  • Einsatz technischer Mittel in Wohnungen nach Art. 41 Abs. 1 PAG
  • Eingriffe in den Telekommunikationsbereich nach Art. 42 Abs. 1 bis 5 PAG
  • verdeckter Zugriff auf informationstechnische Systeme nach Art. 45 Abs. 1 und 2 PAG

Soweit die in Frage kommenden Maßnahme einem Richtervorbehalt unterliegt, gilt dies auch für den Einsatz der Drohne, vgl. Art. 47 Abs. 3 PAG. Die Drohen ist dabei stets unbewaffnet, vgl. Art. 47 Abs. 4 PAG.

D. Fazit

Abschließend lässt sich festhalten, dass der bayerische Gesetzgeber mit der Novellierung des PAGs das bisher bestehend Spannungsfeld zwischen schon bestehender konkreter Gefahr und dem (bisher nicht geregelten) Gefahrenvorfeld entschärft hat. Nunmehr ist es der bayerischen Polizei – wenn auch nur mit engen Grenzen – möglich auch im Vorfeld bei konkret drohenden Gefahren für bedeutende Rechtsgüter einzugreifen. Dabei ist der neu entstanden Begriff der „drohenden Gefahr“ stets grundrechtschonend auszulegen. Betrachtet man nämlich die Änderungen des PAG im Licht des Grundgesetzes und des Rechtsstaatsprinzips lässt sich feststellen, dass die geänderten und nunmehr viel weitreichenderen Befugnisse der bayerischen Polizei insbesondere durch den erforderlichen Richtervorbehalt gerade noch verfassungsrechtlich zulässig sind.

Vielen Dank, dass Sie diesen Beitrag gelesen haben. Wir hoffen, dass er Ihnen weiterhelfen oder zumindest Ihr Interesse wecken konnte. Hier finden Sie den Beitrag Das neue Polizeirecht in Bayern – die wichtigsten Änderungen im Überblick auf unserer Website Jura Individuell.


Musteraufbau Verfassungsbeschwerde

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Dieser Artikel soll mustergültig die Prüfung einer Verfassungsbeschwerde darstellen. Ob für den Jurastudenten im ersten Semester, der die Verfassungsbeschwerde i.d.R. erstmals als Gegenstand der Vorlesung und späteren Klausur kennenlernt oder für den Examenskandidaten, der sich angesichts der Relevanz im Examen auch mit diesem außerordentlichen Rechtsbehelf auseinandersetzen muss – dieses Schema bietet eine Übersicht über die einzelnen Prüfungspunkte. Wie Sie sicherlich schnell merken, werden einzelne Punkte recht ausführlich im Gutachtenstil gelöst, während bei anderen nur eine Definition angegeben wird. Ziel des Artikels ist die schnelle Übersicht über alle relevanten Punkte der Verfassungsbeschwerde. Andererseits fällt es vielen Studierenden nach wie vor schwer, in der Klausur den Gutachtenstil anzuwenden. Deshalb sollen schwierige Punkte im Gutachtenstil erläutert werden.

Nachfolgend wird exemplarisch die Prüfung einer Urteilsverfassungsbeschwerde dargestellt.

Die Verfassungsbeschwerde hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

A.        Zulässigkeit

I.         Zuständigkeit

Die Zuständigkeit des BVerfG für Verfassungsbeschwerden ergibt sich aus Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG.

II.        Beteiligtenfähigkeit

Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) müsste auch beschwerdefähig sein. Wer beschwerdefähig ist, bestimmt sich nach § 90 I BVerfGG. Danach kann „jedermann“ Verfassungsbeschwerde erheben. „Jedermann“ ist derjenige, der Träger von Grundrechten oder der in § 90 I BverfGG aufgeführten grundrechtsgleichen Rechte ist.

III.      Prozessfähigkeit

Weiterhin müsste der BF auch prozessfähig sein. Darunter versteht man die Fähigkeit, Prozesshandlungen selbst bzw. durch einen Vertreter vor- bzw. entgegenzunehmen.

→ Das ist i.d.R. unproblematisch. Meist wird man in der Examensklausur eine natürliche, volljährige Person haben. Diese ist immer prozessfähig. Hier sollte man deshalb, wenn der Sachverhalt nichts Weiteres hergibt, keine allzu ausführlichen Ausführungen machen. In einem Satz sollte man den Punkt der Vollständigkeit halber allerdings schon erwähnen. Dann kann der Korrektor sein Häkchen drunter setzen.

A ist als erwachsene Person auch prozessfähig.

IV.      Beschwerdegegenstand

Es müsste ein tauglicher Beschwerdegegenstand vorliegen. Nach Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG kann jeder Akt der öffentlichen Gewalt tauglicher Beschwerdegegenstand sein. Bei einer Urteilsverfassungsbeschwerde kommen mehrere Beschwerdegegenstände in Betracht. Es wird regelmäßig einen Ausgangs-VA und eventuell auch einen Widerspruchsbescheid gegeben haben (in Bundesländern, in denen ein Vorverfahren durchzuführen ist), gegen den der BF bereits vorgegangen ist. Weiterhin sind die Urteile der vorausgegangenen Instanzen Akte der öffentlichen Gewalt. Hier sollte festgestellt werden, dass Gegenstand der Verfassungsbeschwerde zumindest auch das letztinstanzliche Urteil ist.

V.        Beschwerdebefugnis

Der BF müsste ferner beschwerdebefugt sein. Das ist er, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass zumindest die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung besteht und er durch den Akt der öffentlichen Gewalt selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen ist. An dieser Stelle kann bereits erwähnt werden, dass das BVerfG keine Superrevisionsinstanz verkörpert und sich der BF im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde somit nicht auf die Verletzung unterhalb der Verfassung stehender Rechtsnormen wie z.B. Gesetzen, Rechtsverordnungen oder Satzungen berufen darf.

1. Möglichkeit der Grundrechtsverletzung

Es darf nicht von vornherein ausgeschlossen sein, dass der BF in seinen Grundrechten oder in einem grundrechtsgleichen Recht verletzt wurde.

2. Betroffenheit des Beschwerdeführers

Als Adressat des Urteils ist der BF auch selbst betroffen.

Unmittelbare Betroffenheit liegt jedenfalls dann vor, wenn kein weiterer Vollzugsakt notwendig ist.

Gegenwärtig ist die Beeinträchtigung, wenn die Grundrechtsverletzung schon begonnen hat oder zumindest unmittelbar bevorsteht.

VI.      Rechtsschutzbedürfnis

1. Rechtswegerschöpfung im weiteren Sinne: Subsidiarität

Aus dem Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde folgt, dass der BF vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde alle zur Verfügung stehenden und zumutbaren prozessualen Möglichkeiten ergreifen muss, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern. Der BF muss daher alle ihm möglichen Rechtsbehelfe unterhalb der Verfassungsbeschwerde ausgeschöpft haben. Denn grds. ist es zunächst Aufgabe der ordentlichen Gerichte und Fachgerichte Rechtsschutz zu gewähren.

2. Rechtswegerschöpfung im engeren Sinne

Die Rechtswegerschöpfung im engeren Sinne ergibt sich aus § 90 II BVerfGG. Danach kann die Verfassungsbeschwerde erst nach Erschöpfung jeglicher anderer Rechtswege erhoben werden. Dies wird bedeutsam, sofern eine prinzipale Normenkontrolle in Betracht kommt. D.h. zu fragen ist, ob Rechtsschutz vor dem Verwaltungsgericht mit einer inzidierten Überprüfung des entsprechenden Gesetzes erreicht werden kann. Hiervon ausgeschlossen ist die Überprüfung von Parlamentsgesetzen. Denn gegen Parlamentsgesetze ist ein Rechtsweg im Sinne einer prinzipalen Normenkontrolle nicht eröffnet und von § 90 II S. 1 BVerfGG nicht umfasst.

VII.     Form und Frist

Die Verfassungsbeschwerde muss schriftlich verfasst sein, § 23 I 1 BVerfGG. Sie ist ferner zu begründen, § 23 I 2 BVerfGG.

Darüber hinaus gilt für die Urteilsverfassungsbeschwerde die Frist aus § 93 I BVerfGG. Danach ist die Verfassungsbeschwerde binnen eines Monats nach Zustellung der Entscheidung einzureichen (§ 93 I 2 BVerfGG).

Wenn alle Voraussetzungen vorliegen, ist die Verfassungsbeschwerde zulässig.

→ Vergessen Sie im Gutachten nicht Zwischenergebnisse einzufügen.

B. Begründetheit (Aufbau der Prüfung eines Freiheitsgrundrechts)

Die Verfassungsbeschwerde müsste ferner begründet sein. Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn der BF durch das letztinstanzliche Urteil in einem seiner Grundrechte verletzt ist.

→ Wichtig ist, dass bei der Begründetheit einer Urteilsverfassungsbeschwerde nur geprüft wird, ob das dem letztinstanzlichen Urteil zugrundeliegende Gesetz grundrechtskonform ist und ob die konkrete Anwendung des Gesetzes gegen die Verfassung verstößt. Folglich wird nicht geprüft, ob das einfache Gesetz richtig angewendet wurde, denn das BVerfG soll gerade keine Superrevisionsinstanz sein.

I. Schutzbereich

1. Persönlicher Schutzbereich

Der persönliche Schutzbereich bestimmt den Personenkreis, der sich auf das verletzte Grundrecht berufen kann. So unterscheidet man zwischen sog. Jedermanngrundrechten oder Menschenrechten, z.B. Art. 4 GG, Art. 2 I GG und den sog. Deutschengrundrechten, z.B. Art. 8 GG. Bei Letzteren können nur deutsche Bürger Träger des Grundrechts sein. Eine Besonderheit gilt es jedoch bei EU-Ausländern zu beachten. Auch EU-Ausländer können sich auf Deutschengrundrechte berufen, wobei die dogmatisch richtige Herleitung umstritten ist: Eine Ansicht leitet die Anwendbarkeit vom Diskriminierungsverbot des Art. 18 I AEUV her, welcher Anwendungsvorrang genieße und eine Diskriminierung aufgrund der (EU-) Staatsangehörigkeit verbiete. Nach einer anderen Ansicht können sich EU-Ausländer zwar aufgrund des eindeutigen Wortlauts des Grundgesetzes nicht auf Deutschengrundrechte berufen, sie genießen jedoch über Art. 2 I GG einen ebenso effektiven Grundrechtsschutz indem die Rechtfertigungsmaßstäbe der Deutschengrundrechte auf Art. 2 I GG übertragen werden. Im Ergebnis einig ist man sich jedoch, dass sich Nicht-EU-Ausländer nicht auf die Deutschengrundrechte berufen können.

2. Sachlicher Schutzbereich

Hier muss man nun die einzelnen Grundrechte betrachten und prüfen, ob das Handeln des einzelnen sich unter den Schutzbereich dieses Grundrechts subsumieren lässt.

Ist die Aussage des BF von der Meinungsfreiheit aus Art. 5 I 1, 1. Alt GG gedeckt? Handelt es sich bei dem Ritual des BF um eine Handlung, die von der Religionsfreiheit geschützt wird?

II. Eingriff

→ Hier empfiehlt es sich mit dem modernen Eingriffsbegriff zu arbeiten. Der Grund dafür liegt darin, dass der klassische Eingriffsbegriff mit seinen Merkmalen (Finalität, Unmittelbarkeit, Regelung und die Durchsetzbarkeit mit Befehl und Zwang) zu eng geworden ist und daher viele gravierende Beeinträchtigungen von Seiten des Staats nicht mehr erfasst werden.

Deshalb ist nach dem modernen Begriff jedes Handeln, das dem Staat zugerechnet werden kann und dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich des in Rede stehenden Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht, als Eingriff zu werten. Lesenswert dazu: http://www.servat.unibe.ch/dfr/vw087037.html (Die Glykolwein-Entscheidung).

III.      Rechtfertigung

1. Schranke

Hat das Grundrecht einen Gesetzesvorbehalt? Ist es schrankenlos gewährleistet (dann verfassungsimmanente Schranken)?

Hier geht man der Frage auf den Grund, wie das grundrechtlich geschützte Verhalten einschränkbar ist. Denn auch ein schrankenlos gewährleistetes Grundrecht erlaubt dem Träger nicht alles zu tun, was ihm beliebt. Vielmehr finden die Grundrechtsausübungen des einen dort ihre Grenzen, wo sie mit den Rechten Dritter oder anderen Gemeinschaftswerten von Verfassungsrang kollidieren.

2.  Schranken-Schranke

→ Jedes staatliche Handeln muss eine hinreichende gesetzliche Grundlage haben. In einer Urteilsverfassungsbeschwerde wird in der Regel in der Ausgangssituation gegen einen auf einem Gesetz basierenden Verwaltungsakt vorgegangen. Deshalb muss im Folgenden die formelle und materielle Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Grundlage untersucht werden.

→ Hier findet eine abstrakte Prüfung des Gesetzes statt. Ein gravierender Fehler in der Klausur wäre es, wenn bei der Untersuchung der Verfassungsmäßigkeit der konkrete Sachverhalt einbezogen würde.

a) Formelle Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Grundlage

Die Zuständigkeit beim Gesetzgebungsverfahren, die sich nach den Art. 30 I, 70 ff. GG bestimmt, ein ordnungsgemäßes Verfahren nach Art. 76 ff. GG und etwaige formelle Anforderungen sind zu beachten.

Das Zitiergebot gem. Art. 19 I 2 GG gilt nur für Grundrechte mit sog. Einschränkungsvorbehalten (erkennbar an der Formulierung „beschränkt“ in Art. 8 II GG oder „Beschränkungen“ in Art. 10 II GG). In der Regel birgt die formelle Verfassungsmäßigkeit keine allzu großen Schwierigkeiten in Klausuren. Sie darf dennoch nicht vergessen werden.

b) Materielle Verfassungsmäßigkeit
aa) Wesentlichkeitstheorie

Ursprünglich für Verordnungen i.S.d. Art. 80 GG entwickelt, besagt diese Theorie vom BVerfG heute, dass die wesentlichen (grundrechtsrelevanten) Fragen vom Gesetzgeber selbst geregelt werden müssen (BVerfGE 47, 46ff.).

bb) Bestimmtheitsgebot aus Art. 20 III GG

Danach muss die Norm hinreichend bestimmt sein. Das heißt, sie muss klar und eindeutig formuliert sein, so dass jeder Bürger sein Verhalten danach ausrichten kann.

cc) Verhältnismäßigkeit
(1) Legitimer Zweck

Der Gesetzgeber muss mit dem Gesetz einen legitimen Zweck verfolgen. Dabei hat er einen weiten Beurteilungsspielraum.

(2)  Geeignetheit

Geeignet ist die Norm, wenn sie den Zweck irgendwie fördert. Auch dies betreffend hat der Gesetzgeber einen weiten Beurteilungsspielraum.

(3) Erforderlichkeit

Erforderlich ist die Norm, wenn kein milderes Mittel ersichtlich ist, das in gleicher Weise effektiv ist.

(4) Angemessenheit

Hier muss die Frage aufgeworfen werden, ob das von der Norm vorgegebene Verbot nicht außer Verhältnis zu dem mit der Norm verfolgten Zweck steht.

Es ist nun eine ausführliche Güterabwägung vorzunehmen.

Die Verhältnismäßigkeit ist regelmäßig das Herzstück der Begründetheitsprüfung. Deshalb sollte man schematische Ausführungen vermeiden und nun diskutieren. Meist sind im Sachverhalt auch schon Argumente für beide Seiten angelegt, die sodann abzuarbeiten sind.

→ Kommt man hier zu dem Ergebnis, dass die Norm in formeller und materieller Hinsicht verfassungsmäßigen Anforderungen entspricht, muss die konkrete Einzelmaßnahme unter die Lupe genommen werden. Das wird bis zum Examen häufig übersehen, ist aber eine essentielle Unterscheidung. Unterlaufen hier Fehler, kostet das wertvolle Punkte.

Zwischenergebnis: Die gesetzliche Grundlage ist verfassungsmäßig.

3. Verfassungsmäßigkeit der konkreten Maßnahme

a) Formelle Verfassungsmäßigkeit

Wiederum ist zu prüfen, ob Zuständigkeit, Verfahren und Form verfassungsgemäß sind.

b) Materielle Verfassungsmäßigkeit

→ Wenn die konkrete Maßnahme geprüft wird, wird einzig herausgearbeitet, ob eine spezifische Grundrechtsverletzung durch das vom Gericht ausgesprochene Urteil vorliegt. Dies heißt aber nicht, dass die Richtigkeit der Anwendung der Tatbestandsmerkmale des Gesetzes auf den konkreten Sachverhalt, sondern der Sachverhalt dahingehend geprüft wird, ob durch die Entscheidung des Gerichts der Beschwerdeführer in seinen Grundrechten verletzt ist.

→ Anders als in der Verhältnismäßigkeitsprüfung oben soll jetzt nicht die abstrakte Norm Gegenstand der Betrachtung sein. Nun soll vielmehr am konkreten Fall gearbeitet und argumentiert werden. Es ist also jeder Punkt mit den Interessen des BF abzugleichen und in Relation zu bringen.

(1) Legitimer Zweck

Es müsste ein legitimer Zweck gegeben sein. Der legitime Zweck des VA ist …

(2) Geeignetheit

Geeignetheit meint die Förderung des legitimen Zwecks. Die Maßnahme verfolgt den Zweck … Die Handlung ist förderlich das verfolgte Ziel zu erreichen.… Sie war mithin geeignet.

(3) Erforderlichkeit

Des Weiteren müsste sie erforderlich gewesen sein.

→ Hier liegt nun ein Diskussionsschwerpunkt. Ihrer Fantasie und Argumentation sind (fast) keine Grenzen gesetzt. Diskutieren Sie mildere Mittel. Argumentieren Sie, warum diese in der konkreten Situation vielleicht doch versagen.

(4) Angemessenheit

In der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ist wiederum ein Schwerpunkt auszumachen. Auch hier müssen Sie anders als oben bei der Angemessenheit am konkreten Fall eine Güterabwägung vornehmen. Stellen Sie beide Seiten sauber da. Erläutern Sie Punkte für die eine und die andere Seite. Das Argumentieren bringt hier Zusatzpunkte. Und im Ergebnis werden Sie bei guter Begründung keinen Punktabzug erhalten, wenn Sie sich für einen anderen Weg entscheiden als den, den die herrschende Meinung in der Sache geht.

→ Beenden Sie Ihre Ausführungen mit dem Zwischenergebnis, ob die Maßnahme verfassungsmäßig ist oder eben nicht.

Dann schreiben Sie als weiteres Zwischenergebnis, ob die Verfassungsbeschwerde begründet ist und am Ende folgt ein letzter Satz zur Erfolgsaussicht der Verfassungsbeschwerde insgesamt.

 

Wenn sich Fragen zu dem Thema Verfassungsrecht ergeben sollten, können Sie sich jederzeit an das Team von Jura Individuell wenden. Wir werden Ihre Fragen aufgreifen und mit Ihnen gemeinsam lösen.

Anmerkungen

siehe auch Prüfungsschema zu Art. 14 I 1 GG, „Klausur zur Berufsfreiheit„,  Caroline von Monaco I„.

Vielen Dank, dass Sie diesen Beitrag gelesen haben. Wir hoffen, dass er Ihnen weiterhelfen oder zumindest Ihr Interesse wecken konnte. Hier finden Sie den Beitrag Musteraufbau Verfassungsbeschwerde auf unserer Website Jura Individuell.

Klausur zu § 80 Abs.5,S.1,Alt.2 VwGO

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A. Sachverhalt

Physiker P hat sich in dem Keller seiner in der bayrischen kreisfreien Stadt S gelegenen Villa ein Labor eingerichtet. Zu diesem Zweck hat er auch einige tragende Wände entfernt. Der Umbau ist zwar ohne die nach Art. 68 I BayBO erforderliche Baugenehmigung, jedoch in technisch einwandfreier Weise erfolgt. In dem Labor arbeitet P an fast jedem Wochenende an der Entwicklung neuer Metall-Legierungen. Dabei verwendet er Galvanikflüssigkeiten, die Arsenik, Quecksilber, Blei und Zyanid enthalten. Selbst bei der Anwendung größter Sorgfalt kann er nicht verhindern, dass bei jeder Versuchsreihe mehrere Liter dieser Flüssigkeiten auf den Betonfußboden tropfen, von dort aus bis in das unter dem Gebäude befindliche Erdreich hindurchsickern und schließlich in die -undichte- Abwasserleitung gelangen. Das führt dazu, dass bei den Einwohnern von S wiederholt rötlich, grünlich bzw. bläulich gefärbtes Wasser aus den Wasserhähnen kommt. Als immer mehr Einwohner von S über Kopfschmerzen, Schwindelgefühle und Erbrechen klagen und sich die Ursache dieser Erkrankungen nicht aufklären lässt, machen die Nachbarn von P den Oberbürgermeister (OB) der Stadt S auf die Aktivitäten des P aufmerksam. Am Samstag, den 04.01.2020, erscheinen zwei Außendienstmitarbeiter des OB bei P und fordern ihn- ohne ihm zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben- mündlich auf, den Laborbetrieb einzustellen und die baulichen Veränderungen rückgängig zu machen. Sie ordnen sodann die sofortige Vollziehung dieser Maßnahmen an. In der Begründung geben sie an, dass sich die Stadt S im Sommer an dem Landeswettbewerb „Aktion sauberes Trinkwasser“ beteiligen wolle und daher der Weiterbetrieb des Labors nicht bis zum Abschluss eines möglicherweise über Jahre währenden Rechtsmittelverfahrens geduldet werden könne. Außerdem sei der Keller- was unzutreffend ist- infolge des Umbaus einsturzgefährdet. Das mache eine umgehende Wiederherstellung des ursprünglichen baulichen Zustands erforderlich. Um ihren Anordnungen Nachdruck zu verleihen, versiegeln sie schließlich die Schränke, in denen P die für seine Forschungen erforderlichen technischen Instrumente aufbewahrt. Am Dienstag, den 07.01.2020, wird dem P ein Schreiben des OB zugestellt, in dem die Maßnahmen vom 04.01.2020 bestätigt und ausführlich begründet werden. Als Ermächtigungsgrundlagen gibt der OB Vorschriften des LStVG, der Bauordnung und des bayrischen Verwaltungsvollstreckungsgesetzes an.

P ist über das, was ihm widerfahren ist, empört. Er reicht am 22.01.2020  Klage ein und stellt noch am selben Tag beim zuständigen Verwaltungsgericht einen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Er ist der Ansicht, die Behörde sei bereits deshalb gehindert gewesen, die Vollziehungsanordnung zu erlassen, weil kein Bedarf bestehe. Zumindest hätte man ihn vorher anhören müssen. Wird der Antrag des P auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes Erfolg haben?

Bearbeitervermerk: Wasserrechtliche Vorschriften sind nicht zu prüfen.

B.Lösung

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird Erfolg haben, wenn er zulässig und begründet ist.

I. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs § 40 I S.1 VwGO

Es müsste sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art handeln. Nach der Sonderrechtstheorie ist eine Streitigkeit öffentlich-rechtlich, wenn die streitentscheidenden Normen dem öffentlichen Recht zuzuordnen sind. Hier sind die Vorschriften des LStVG, der BayBO und des VwZVG entscheidend. Nach der modifizierten Subjektstheorie ist eine Norm öffentlich-rechtlich, wenn sie ausschließlich Hoheitsträger berechtigt oder verpflichtet. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 II S.1 Nr. 4 VwGO ist nur durch eine Behörde möglich. Ferner ist ausschließlich die Polizei als Hoheitsträger berechtigt polizeirechtliche Maßnahme, wie das Versiegeln der Schränke vorzunehmen.  Es ist auch keine anderweitige Rechtswegzuweisung ersichtlich. Art. 23 EGGVG ist nicht von Relevanz, da die Polizei nicht repressiv, sondern präventiv tätig wird um die Bevölkerung vor weiteren Schäden zu schützen und die Gefahr zu beseitigen. Mithin ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet.

II. Zulässigkeit

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes müsste zulässig sein.

1. Statthafte Antragsart

Die statthafte Antragsart richtet sich nach dem Begehren des Antragstellers gem. §§ 122, 88 VwGO. P möchte sich gegen die Aufforderung seinen Betrieb einzustellen, sowie gegen die Rückbauanordnung und die Versiegelung der Schränke zur Wehr setzen. Nach § 123 V VwGO ist die Anwendung der §§ 80, 80a VwGO vorrangig. Demnach ist der Antrag nach § 80 V VwGO auf Anordnung/Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nur statthaft, wenn in der Hauptsache Anfechtungswiderspruch oder -klage gegeben sind, denen entgegen § 80 I VwGO keine aufschiebende Wirkung zukommt. Die Aufforderung zur Betriebseinstellung, die Rückbauanordnung und die Versiegelung sind selbstständige Verwaltungsakte i.S.d Art. 35 S. 1 BayVwVfG, sodass im Hauptsacheverfahren die Anfechtungsklage statthafte Klageart wäre. Hier käme damit ein Antrag gem. § 80 V VwGO in Betracht. Die Anordnungen den Betrieb einzustellen und die baulichen Veränderungen rückgängig zu machen wurden gem. § 80 II S.1 Nr. 4 VwGO für sofort vollziehbar erklärt. Somit wäre gem. § 80 V 1 Alt.2 VwGO nur die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung einschlägig. Etwas anderes ergibt sich aber bei der Versiegelung der Schränke, da durch die Versiegelung der Grund-VA bereits vollzogen wurde, sodass hier die Aufhebung der Vollziehung gem. § 80 V 3 VwGO verlangt werden kann.

2. Antragsbefugnis

Nach § 42 II VwGO analog müsste P geltend machen durch die Anordnungen der sofortigen Vollziehung in subjektiven Rechten verletzt zu sein. Dabei genügt bereits die Möglichkeit einer Rechtsverletzung. Hier könnte er in seinem Recht aus Art. 14 I GG, 12 I GG und 2 I GG verletzt sein. Auch die Beeinträchtigung der Forschungsfreiheit nach Art. 5 III GG kann nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Damit ist P antragsbefugt.

3. Beteiligtenfähigkeit

P ist gem. § 61 Nr. 1 Alt 1 VwGO beteiligten- und gem. § 62 I Nr. 1 VwGO prozessfähig. Die Stadt S ist nach § 61 Nr.1 Alt.2 VwGO beteiligtenfähig. Für die Stadt S handelt deren Bürgermeister (OB) gem. Art. 38 I, 34 I 2 GO als Vertreter der Kommune und ist somit gem. § 62 III VwGO prozessfähig.

4. Rechtsschutzbedürfnis

P müsste rechtsschutzbedürftig sein. Fraglich ist, ob nicht das Rechtsschutzbedürfnis entfällt, weil P nicht zuerst einen Antrag bei der Behörde gem. § 80 IV VwGO gestellt hat, da dies einen einfacheren Weg darstellen würde sein Rechtsschutzziel zu erreichen. Eine vorherige Antragstellung bei der Behörde ergibt aber nur in Fällen des § 80 II Nr. 1-3 VwGO Sinn, denn nur dort wird die sofortige Vollziehung per Gesetz angeordnet und nicht durch die Behörde selbst. Deshalb hat die Behörde nur in diesen Fällen objektiv die Möglichkeit über die Aussetzung der sofortigen Vollziehung zu entscheiden. Hat die Behörde gerade durch die Anordnung des Sofortvollzugs die aufschiebende Wirkung beseitigt ist im Antragsverfahren nach § 80 IV VwGO kein anderes Ergebnis zu erwarten. Nach § 80 VI VwGO ist der Weg über § 80 IV VwGO nur in dem Fall des § 80 II S.1 Nr. 1 VwGO obligatorisch. Daraus könnte sich ein allgemeiner Rechtsgedanke für die übrigen Fälle des § 80 II VwGO ergeben. Eine Ansicht vertritt, dass wenn ein Antrag bei der Behörde rechtzeitig möglich wäre das Rechtsschutzbedürfnis bei fehlender Antragstellung entfällt. Nach h.M. ist das Antragserfordernis aber nur im Falle der Nr. 1 erforderlich. Begründet wird dies damit, dass der Antrag bei der Behörde nur aus fiskalischen Gründen nötig ist. Dies ist bei den anderen Fallkonstellationen nicht so. Aufgrund der fehlenden Verweisung auf die Nr.2-4 des § 80 II VwGO ist von einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers auszugehen, wodurch eine Analogie entfällt. Im Übrigen stehen die Verfahren gem. § 80 IV und V selbständig nebeneinander. Damit würde es keinen Sinn machen eine Voraussetzung des einen Verfahrens als zwingende Voraussetzung des anderen Verfahrens zu sehen. Im Ergebnis ist eine vorherige Antragstellung nach § 80 IV VwGO entbehrlich. Im Übrigen ist das Hauptsacheverfahren nicht offensichtlich unzulässig, die Klage nämlich fristgerecht erhoben, sodass P rechtsschutzbedürftig ist.

III. Begründetheit

Der Anträge sind begründet, wenn sie sich gegen den richtigen Antragsgegner richten, die Vollzugsanordnungen rechtswidrig waren und eine eigene Interessenabwägung des Gerichts ergibt, dass das jeweilige Aussetzungsinteresse schwerer wiegt als das Vollziehungsinteresse und wenn die Versiegelung rechtswidrig war.

1. Richtiger Antragsgegner § 78 I Nr. 1 VwGO analog

Der Antrag ist gegen die Stadt S zu richten, da deren Oberbürgermeister die belastenden Anordnungen erlassen hat.

2. Rechtmäßigkeit der Vollziehungsanordnung gem. § 80 II 1 Nr. 4 VwGO bzgl. der Verfügung den Laborbetrieb einzustellen

a) Ermächtigungsgrundlage

Ermächtigungsgrundlage für die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist § 80 II 1 Nr. 4 VwGO.

b) Formelle Rechtmäßigkeit
aa) Zuständigkeit

Zuständig ist nach § 80 II 1 Nr. 4 VwGO die Behörde, die den VA erlassen hat. Hier hat der Oberbürgermeister der Stadt S die Verfügung erlassen. Folglich war auch er für die Anordnung des Sofortvollzugs zuständig.

bb) Verfahren

Fraglich ist, ob P vor der Anordnung der sofortigen Vollziehung hätte angehört werden müssen. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung hat keinen Regelungscharakter i.S.d. Art. 35 S.1 BayVwVfG, weshalb es sich nicht um einen VA handelt. In Betracht kommt die analoge Anwendung des Art. 28 I BayVwVfG. Aufgrund der belastenden Wirkung der sofortigen Vollziehung ist grundsätzlich eine Anhörung des Betroffenen geboten. Gegen eine analoge Anwendung spricht aber, dass die Voraussetzungen der sofortigen Vollziehung in einem Bundesgesetz geregelt sind. Hier handelt aber eine bayrische Behörde, für die das VwVfG Bayerns (BayVwVfG) gilt. Das in Art. 30 GG enthaltene Trennungsprinzip verbietet es den Ländern im Kompetenzbereich des Bundes Regelungen vorzunehmen. Eine analoge Anwendung scheidet deshalb aus. Wäre das Anhörungserfordernis zwingende Voraussetzung, so hätte der Gesetzgeber dies in § 80 VwGO entsprechend geregelt. Da dies nicht der Fall ist, ist eine vorherige Anhörung nicht erforderlich gewesen.

cc) Form

Das besondere öffentliche Interesse an der Anordnung der sofortigen Vollziehung muss gemäß den Vorgaben des § 80 III VwGO ausführlich und gesondert schriftlich begründet werden. Sinn und Zweck dieses Formerfordernisses ist es der Behörde den Ausnahmecharakter der Anordnung des Sofortvollzugs vor Augen zu führen und diese Frage besonders gründlich zu prüfen und den Betroffenen und das Gericht über die Beweggründe zu informieren. Die Außendienstmitarbeiter des Bürgermeisters haben den Sofortvollzug aber lediglich mündlich ausgesprochen und begründet. Möglicherweise könnte dieser Formfehler aber gem. Art. 45 I Nr. 2 BayVwVfG analog nachgeholt werden. Eine Nichtigkeit gem. Art. 44 I, II BayVwVfG scheidet aus, da keiner der aufgezählten Regelfälle des Absatzes 2 vorliegt und die Nichtbeachtung der Form auch keinen schwerwiegenden Fehler darstellt. Eine Nachholung ist durch den Bürgermeister am 07.01.2020 mit Zustellung des Schreibens an P erfolgt. Durch die Nachreichung wird der Sinn des Formerfordernisses auch nicht unterlaufen. Das behördliche Verfahren ist weiterhin der Kontrolle zugänglich und dem Betroffenen P entstehen auch keine Nachteile, da seine Rechte und prozessualen Möglichkeiten nicht beschnitten werden. Damit wurde dem Formerfordernis durch die Heilung nach Art. 45 I Nr. 2 BayVwVfG genüge getan.

Die Anordnung des Sofortvollzugs ist damit formell rechtmäßig.

c) Materielle Rechtmäßigkeit

Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO materiell rechtswidrig, wenn das private Wiederherstellungsinteresse des P gegenüber dem öffentlichen Vollzugsinteresse überwiegt. Dies wäre auf jeden Fall dann anzunehmen, wenn die Einstellungsanordnung des Oberbürgermeisters der Stadt S bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur gebotenen summarischen Prüfung offensichtlich rechtswidrig ist, denn an der Vollziehung eines offensichtlich rechtswidrigen Verwaltungsaktes kann kein öffentliches Interesse bestehen. Es ist demnach zu prüfen, ob die Verfügung den Laborbetrieb des P einzustellen rechtswidrig ist.

aa) Ermächtigungsgrundlage

Als Ermächtigungsgrundlage ist Art. 7 II Nr. 3 LStVG zu prüfen.

bb) Formelle Rechtmäßigkeit
(a) Zuständigkeit

Die Gemeinden haben gem. Art. 6 LStVG als Sicherheitsbehörden die Aufgabe, die öffentliche Sicherheit und Ordnung durch Gefahrenabwehrmaßnahmen aufrechtzuerhalten. Die in Art. 6 LStVG genannten Behörden stehen kompetenzrechtlich gleichrangig nebeneinander. Das Handeln der Polizei ist grundsätzlich subsidiär und scheidet aus, da die Gefahrenabwehr durch die Sicherheitsbehörde rechtzeitig möglich ist, Art. 3 PAG. Der Oberbürgermeister handelt gem. Art. 38 GO als Vertreter der Stadt S. Die örtliche Zuständigkeit ergibt sich aus Art. 3 I Nr. 1 VwVfG.

(b) Verfahren

Vor Erlass des HauptVA müsste P ordnungsgemäß angehört worden sein gem. Art. 28 I VwVfG. Ihm wurde aber keine Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben. Jedoch ist eine Anhörung gem. Art. 28 II Nr. 1 BayVwVfG entbehrlich, wenn eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug notwendig erscheint. Die Bevölkerung ist durch die Chemikalien im Trinkwasser akut gefährdet. Damit bedurfte es keiner Anhörung des P.

(c) Form

Für den Erlass des VAs ist keine besondere Form erforderlich gem. Art. 37 II BayVwVfG. Er konnte somit auch mündlich erlassen werden. Allerdings ist eine Begründung gem. Art. 39 BayVwVfG erforderlich. Die Mitarbeiter haben dem P mündlich mitgeteilt, warum sie den VA erlassen. Gem. Art. 39 I BayVwVfG ist aber die Einhaltung der Schriftform nötig. Durch das Schreiben des Bürgermeisters vom 14.8. wurde die Begründung nachgeholt und der Formfehler damit gem. Art. 45 I Nr.2 BayVwVfG geheilt.

Die formelle Rechtmäßigkeit der Rückbauverpflichtung ist somit gegeben.

cc) Materielle Rechtmäßigkeit

Der Bürgermeister hätte eine Verfügung dieses Inhalts treffen können, wenn dies der Gefahrenabwehr dient. Gefahr ist eine Sachlage, die in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für die öffentliche Sicherheit und Ordnung führen wird. P hat  durch seinen Laborbetrieb bereits erhebliche Verunreinigungen des Trinkwassers verursacht, da bei jeder Versuchsreihe mehrere Liter chemischer Mittel in das Erdreich sickern. Die Einwohner klagen über Kopfschmerzen, Schwindel und Erbrechen, sodass die Gesundheit der Bevölkerung erheblich gefährdet ist, mithin hat sich die Gefahr bereits realisiert. Es kann zwar nicht mit letzter Gewissheit nachgewiesen werden, dass die Vergiftungserscheinungen der Bürger gerade durch den Betrieb des P hervorgerufen wurden. Da aber mit großer Sicherheit ein Zusammenhang besteht ist eine Einstellung des Betriebs zur Beseitigung der Gefahr geboten. Die Anordnung des Bürgermeisters den Laborbetrieb einzustellen diente damit der unmittelbaren Gefahrenabwehr.

P ist gem. Art. 9 LStVG auch unzweifelhaft Handlungsstörer, da er durch seinen Laborbetrieb die Gefahren verursacht. Eine mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit der Verursachung genügt dafür.

Die Einstellungsverfügung des Bürgermeisters müsste auch verhältnismäßig sein. Sie ist geeignet das legitime Ziel, die Trinkwasserverunreinigung zu beseitigen, zu verwirklichen. Erforderlich wäre sie, wenn sie aus mehreren zur Verfügung stehenden Mittel das relativ mildeste wäre. Vorliegend ist keine andere Vorgehensweise ersichtlich, die den P weniger beeinträchtigen würde und zur Gefahrenabwehr ebenso geeignet wäre. Auch kann die Angemessenheit der Maßnahme bejaht werden. Die Verfügung den Laborbetrieb einzustellen ist damit auch materiell rechtmäßig.

dd) Interessenabwägung

Zu fragen ist, ob das Vollziehungsinteresse der Behörde das Aussetzungsinteresse des P überwiegt. Hier überwiegt eindeutig das Vollziehungsinteresse, da die Gesundheit der Bewohner akut gefährdet ist und eine weitere Hinauszögerung der Einstellungsverfügung nicht angemessen erscheint. Es besteht dringender Handlungsbedarf, da die Folgen für das Erdreich und das Grundwasser nicht absehbar sind und die Langzeitfolgen beim Verzehr des vergifteten  Wassers nicht überschaubar sind. Die geplante Teilnahme an dem Wettbewerb „sauberes Trinkwasser“ genügt nicht um ein solches Vorgehen zu rechtfertigen. Aufgrund der erheblichen Gesundheitsgefährdung muss aber das Aussetzungsinteresse des P zurückstehen.

Im Ergebnis ist der Antrag des P auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung unbegründet.

3. Rechtmäßigkeit der Vollziehungsanordnung gem. § 80 II 1 Nr.4 VwGO bzgl. der Rückbauverpflichtung

Die Anordnung der sofortigen Vollziehung stützt sich wieder auf § 80 II 1 Nr. 4 VwGO. Bezüglich der formellen Rechtmäßigkeit wird auf obige Ausführungen im Punkt II verwiesen. Fraglich ist, ob die Anordnung des Sofortvollzugs auch materiell rechtmäßig ist. Dann müsste die Rückbauverpflichtung rechtmäßig sein und eine Interessenabwägung das Überwiegen des Vollzugsinteresses ergeben.

a) Ermächtigungsgrundlage

Als Ermächtigungsgrundlage für die Anordnung der sofortigen Vollziehung kommt wiederum § 80 II 1 Nr. 4 VwGO in Betracht.

b) Formelle Rechtmäßigkeit

Hinsichtlich der formellen Rechtmäßigkeit ergibt sich nichts anderes als bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Vollziehungsanordnung bzgl. der Einstellung des Laborbetriebs. Insofern ist auf obige Ausführungen zu verweisen (Punkt 2. b))

c) Materielle Rechtmäßigkeit

Schließlich müsste die Anordnung der sofortigen Vollziehung auch materiell rechtmäßig erlassen worden sein. Dazu muss das öffentliche Interesse an der Vollziehung des VA mit dem privaten Interesse der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung abgewogen werden.

aa) Ermächtigungsgrundlage

Ermächtigungsgrundlage könnte Art. 7 II Nr. 3 LStVG sein. Die baulichen Veränderungen könnten dazu führen, dass der Keller nun einsturzgefährdet ist und damit eine Gefahr für Arbeiter und Besucher darstellt. Es ist aber laut Sachverhalt unzutreffend, dass die Gefahr eines Einsturzes des Kellers besteht. Damit scheidet auch die Anwendbarkeit des Art. 7 aus.

Richtige Ermächtigungsgrundlage ist damit Art. 76 S.1 BayBO.

bb) Formelle Rechtmäßigkeit
(a) Zuständigkeit

Gem. Art. 53 I 1, 54 I Hs. 1 BayBO i.V.m. Art. 37 I 2 LKrO und Art. 9 I GO  ist die Stadt und als dessen Vertreter der Oberbürgermeister gem. Art. 38 I, 34 I 2 GO zuständig. Die örtliche Zuständigkeit ergibt sich aus Art. 3 I Nr. 1 VwVfG.

(b) Verfahren und Form

Die fehlende Anhörung kann gem. Art. 45 I Nr. 3 BayVwVfG nachgeholt werden.  Die Mitarbeiter haben den VA mündlich an P übermittelt, dies genügt gem. Art. 37 II BayVwVfG dem Formerfordernis. Jedoch hätte der VA schriftlich begründet werden müssen nach Art. 39 I BayVwVfG, was aber vorliegend nicht geschah. Aber auch die fehlende Begründung kann gem. Art. 45 I Nr. 2 BayVwVfG  nachgeholt werden, was am 07.01.2020 auch erfolgte.

cc) Materielle Rechtmäßigkeit

Fraglich ist, ob die Voraussetzungen des Art. 76 S.1 BayBO gegeben sind. Ist der VA nämlich rechtswidrig, kann die Anordnung der sofortigen Vollziehung nie im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten liegen. Dies ergibt sich aus Art. 20 III GG, wonach die Verwaltung an Recht und Gesetz gebunden ist.

Die Anlage müsste im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet worden sein. P hat den Umbau ohne die nach Art. 55 I BayBO erforderliche Baugenehmigung (Art. 68 I 1 BayBO) gebaut. Das Endergebnis des Umbaus zeigt, dass aus technischer Sicht nichts gegen den Bau einzuwenden ist. Fraglich ist ob sich nun allein aus dem Verstoß gegen die formellen Voraussetzungen eine Rückbauverpflichtung ergeben kann. Würde man nun davon ausgehen, dass die formelle Baurechtswidrigkeit eine derartige Verfügung des Bürgermeisters nicht rechtfertigt, würde man dem Schwarzbau Tür und Tor öffnen. Das gesamte Baurecht basiert aber auf dem Gedanken des präventiven Bauverbots mit Erlaubnisvorbehalt, damit die bauliche Entwicklung von den zuständigen Behörden entsprechend kontrolliert und gelenkt werden kann. Dies dient nicht zuletzt sicherheitsrechtlichen Erwägungen. Dieser Grundsatz würde aber ausgehöhlt, wenn man über das Vorliegen einer Baugenehmigung hinwegsieht sobald der Bau nur technisch einwandfrei und im Übrigen mit dem materiellen Recht im Einklang steht.

Zu prüfen ist weiterhin die Verhältnismäßigkeit der Rückbauverpflichtung bzw. des damit einhergehenden teilweisen Abrisses. Die Anordnung einen materiell einwandfreien Bau, der zwar genehmigungspflichtig, aber womöglich auch genehmigungsfähig ist, abzureißen ist ein sehr drastisches Vorgehen. Eine mildere Alternative ist jedoch nicht ersichtlich, zumal ein teilweiser Abriss nicht in Frage kommt. Um aber das Grundsystem des Baurechts zu wahren und konsequent gegen den Schwarzbau vorzugehen kann auch nicht im Einzelfall ein solches Vorgehen genehmigt werden. Dies würde zu einer Ungleichbehandlung der Bauherren führen und es gäbe auch keine überschaubare Regelung wann nun Ausnahmen von der gesetzlichen Regelung zulässig sind. Dies kann nicht allein den Behörden überlassen bleiben, da es keine verlässliche Kontrollmöglichkeit anhand des Gesetzes gäbe. Die Anordnung des Rückbaus war somit auch materiell rechtmäßig.

dd) Interessenabwägung

Abzuwägen ist das Vollzugsinteresse der Stadt mit dem Aussetzungsinteresse des P. Eine besondere Eilbedürftigkeit besteht nicht, die eine Anordnung des Sofortvollzugs rechtfertigen könnte. Allerdings führt auch die Aussetzung nicht zu einem anderen Ergebnis, da P bei Abwarten der Hauptsacheentscheidung kein anderes Ergebnis erzielen wird. Damit ist die Anordnung des Sofortvollzugs vorrangig. Dass die Entscheidung der Behörde auf der Annahme beruht, dass der Keller einsturzgefährdet ist, ändert daran auch nichts, da es entscheidend auf das Vorliegen der Baugenehmigung ankommt, die P nicht hat.

Im Ergebnis ist der Antrag des P auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung unbegründet.

4. Rechtmäßigkeit der Anordnung der Aufhebung der Vollziehung bzgl. der Versiegelung der Schränke

Die Prüfung von EGL und formeller Rechtmäßigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehung ist identisch mit obigen Anordnungen.

Weiterhin ist die materielle Rechtmäßigkeit der Versiegelungsmaßnahme zu prüfen. In Betracht kommt eine Vollstreckung durch unmittelbaren Zwang gem. Art. 34 VwZVG.

a) Ermächtigungsgrundlage

Art. 29 I, II Nr. 4 i.V.m. Art. 34 VwZVG

b) Allgemeine Vollstreckungsvoraussetzungen
aa) Vollstreckungstitel

Zunächst müsste ein VA vorliegen, der vollstreckt werden kann, Art. 29 I VwZVG. Das Versiegeln der Schränke selbst ist kein VA, da es sich dabei um rein tatsächliches Handeln eines Hoheitsträgers, damit um einen Realakt handelt. Mangels GrundVA stellt sich die Frage, ob ein solcher im vorliegenden Fall entbehrlich ist. Ein Verzicht auf einen vorausgehenden VA käme nur in unaufschiebbaren Fällen gem. Art. 35 VwZVG in Frage. Allerdings besteht keine Eilsituation, in der sofortiges Handeln unumgänglich wäre . Die Außendienstmitarbeiter hätten den P zunächst auffordern können, die Schränke selbst zu verschließen. Anhaltspunkte dafür, dass P dieser Anweisung nicht nachgekommen wäre sind nicht ersichtlich. Damit liegt kein unaufschiebbarer Fall vor. Es fehlt bereits am Vollstreckungstitel, weshalb ein Vorgehen durch unmittelbaren Zwang nicht zulässig war.

bb) Ergebnis

Die sofortige Vollziehung hätte somit nicht angeordnet werden dürfen. Sie ist rechtswidrig. Das Gericht wird die Aufhebung der Vollziehung nach § 80 V S.3 VwGO anordnen.

5. Gesamtergebnis

Die beiden Anträge des P gegen die Rückbauverpflichtung und das Einstellen des Laborbetriebs sind unbegründet und haben keine Aussicht auf Erfolg. Der Antrag der sich gegen die Versiegelung der Schränke richtet ist hingegen begründet und wird Erfolg haben.

C. Anmerkungen

Zur Vertiefung siehe auch die Beiträge „Antrag nach § 80 V VwGO – Aufbau in der ÖR-Klausur“ sowie „Sofortige Vollziehung eines VA nach § 80 II Nr.4 VwGO“ sowie die Klausur zu einem „Langfristigem Aufenthaltsverbot durch die Polizei“.

Vielen Dank, dass Sie diesen Beitrag gelesen haben. Wir hoffen, dass er Ihnen weiterhelfen oder zumindest Ihr Interesse wecken konnte. Hier finden Sie den Beitrag Klausur zu § 80 Abs.5,S.1,Alt.2 VwGO auf unserer Website Jura Individuell.

Klausur Nebenbestimmungen gem.§ 36 VwVfG

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A. Sachverhalt

K betreibt mit seiner Ehefrau ein Mietwagenunternehmen. K ist dafür bekannt, dass er gerne während seiner Arbeitszeit alkoholische Getränke zu sich nimmt. Während einer Beförderungsfahrt wird der K von der Polizei angehalten. Der stark nach Alkohol riechende K wird zu einer Blutprobe auf das Revier mitgenommen. Er hat einen Blutalkoholwert von 1,5 Promille. In einem ordnungsgemäßen Verfahren wird K für ein Jahr der Führerschein entzogen. Als die Ehefrau des K die Genehmigung für die Betreibung eines Mietwagenunternehmens stellt, wird ihr die Genehmigung erteilt, mit der Bedingung ein Fahrtenbuch über sämtlche Fahrten im Unternehmen zu führen. Desweiteren wird ihr verboten, den K als Fahrer einzusetzen. Die Genehmigung wir der Ehefrau des K ohne Rechtsmittelbelehrung und als Durchschrift an den K zugestellt. Die Ehefrau des K verzichtet auf die Einlegung jeglicher Rechtsmittel. Nach 13 Monaten erhebt K gegen den Bescheid Klage. Er macht mehrere Grundrechtsverletzungen geltend und meint die Auflagen seien nicht verhältnismäßig.

B. Lösung

Die Klage hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.

I. Verwaltungsrechtsweg, § 40 I 1 VwGO

Genehmigung und Auflage richten sich nach dem VwVfG sowie dem PBefG. Beide Gesetze enthalten Normen, welche ausschließlich einen Träger hoheitlicher Gewalt berechtigen und/oder verpflichten. Damit liegt nach der modifizierten Subjektstheorie eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit vor. Diese ist auch nichtverfassungsrechtlicher Art und eine andere Rechtswegzuweisung ist nicht ersichtlich. Damit ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet.

II. Zulässigkeit

Die Klage müsste weiterhin zulässig sein.

1. Statthafte Klageart

Die Statthaftigkeit der Klageart richtet sich nach dem klägerischen Begehr gem. § 88 VwGO. Die Ehefrau erhielt die Genehmigung für das Betreiben des Mietwagenunternehmens. Ihr wurde zusätzlich vorgeschrieben den K nicht als Fahrer einzustellen. K wendet sich demnach gegen den dem VA beigefügten Zusatz, nicht als Fahrer tätig werden zu dürfen. Um dagegen vorgehen zu können bieten sich grundsätzlich sowohl die Verpflichtungsklage auf Erlass einer neuen Genehmigung ohne den Zusatz an, sowie die isolierte Anfechtungsklage gegen den Zusatz. Vereinzelt wird vertreten, dass die isolierte Anfechtungsklage stets unstatthaft ist, da Nebenbestimmungen untrennbare Bestandteile des HauptVA sind. Folglich wäre nur die Verpflichtungsklage einschlägig. Eine andere Ansicht unterscheidet nach  Art der Nebenbestimmung, d.h. zwischen selbständigen und unselbständigen Nebenbestimmungen. So sind Bedingung, Befristung, Widerrufsvorbehalt integrierte unselbständige Bestandteile des VA, Auflage und Auflagenvorbehalt hingegen eigenständige Regelungen, die isoliert anfechtbar sind. Die Auflage ist als Ge- bzw. Verbot ein selbständiger VA, der auch selbständig vollstreckbar ist. So kann sichergestellt werden, dass der VA keinen völlig anderen Inhalt als von der Behörde intendiert bekommt. Wieder andere differenzieren nach der Art des HauptVA. So wird die Anfechtungsklage bei gebundenen VAs bejaht, bei ErmessensVA hingegen abgelehnt. Dafür spricht, dass die Behörde bei einem gebundenen VA keinen Ermessenspielraum hat und der ordnungsgemäße Rechtszustand vom Gericht ohne Verzögerung hergestellt werden kann. Nach heute zutreffender Ansicht des BVerwG und des Schrifttums sind sämtliche Nebenbestimmungen als Bestimmungen neben der Hauptregelung isoliert anfechtbar. Der Wortlaut „soweit“ in § 113 I 1 VwGO lässt die Teilaufhebung eines VAs zu. Folgerichtig müssen auch Teilanfechtungen möglich sein. Im Gegensatz zu einer Inhaltsbestimmung eines VA geht § 36 VwVfG gerade von einer Trennbarkeit von HauptVA und Nebenbestimmung aus („Ein VA…der mit einer Nebenbestimmung…versehen werden“). Daher müssen Nebenbestimmungen prinzipiell auch isoliert anfechtbar sein. Zudem ist dem Betroffenen nicht zuzumuten mit einer erneuten Verpflichtungsklage das schon Erreichte zur Disposition zu stellen. Eine isolierte Aufhebbarkeit darf nur nicht offenkundig und von vornherein ausgeschlossen sein. Aus diesem Grund ist auch die isolierte Anfechtung einer modifizierenden Auflage ausgeschlossen, da sie als Inhaltsbestimmungen einzuordnen ist und damit nicht vom HauptVA trennbar ist. Probleme können sich aber ergeben, wenn ein RestVA verbleibt, der so von der Behörde nie gewollt war oder rechtswidrig ist.

Fraglich ist demnach wie das Verbot den K als Fahrer einzustellen einzuordnen ist. Die Ehefrau erhält die von ihr beantragte Genehmigung. Insofern handelt es sich nicht um ein aliud, womit die modifizierende Auflage ausscheidet. Es könnte sich aber um eine Inhaltsbestimmung handeln. Dazu müsste der Zusatz nur die Reichweite des HauptVA bestimmen ohne dass ihm ein eigener Regelungsgehalt zukommt. Hier könnte die Vorschrift einen bestimmten Fahrer nicht einzustellen den Umfang der Genehmigung eingrenzen. Allerdings wird die Genehmigung unbedingt erteilt. Es wird nur eine zusätzliche Regelung hinzugefügt, die die Genehmigung als solche nicht beeinträchtigt. Es könnte sich aber auch nur um einen bloßen Hinweis auf die Rechtslage handeln. Gem. § 21 I Nr. 2 StVG ist es Haltern von Kfz untersagt Personen ohne Führerschein fahren zu lassen. Auch hier wird der Ehefrau untersagt, den K, der nicht im Besitz eines Führerscheins ist als Fahrer einzustellen. Insofern wäre diese Untersagung also nur ein Verweis auf die geltende Rechtslage. Jedoch wurde dem K der Führerschein nur für 1 Jahr entzogen, das Verbot aber unbefristet erteilt. Damit hat der Zusatz einen eigenständigen Regelungsgehalt und ist nicht lediglich ein Hinweis auf die Rechtslage. Man könnte annehmen, dass die Genehmigung nur so lange besteht, wie sich die Ehefrau an das Beschäftigungsverbot hält. Ab Eintritt dieses Ereignisses würde die Genehmigung dann erlöschen. Dies würde auf eine auflösende Bedingung schließen lassen. Die Bedingung suspendiert jedoch, was dazu führen würde, dass der VA mit Eintritt des ungewissen Ereignisses unwirksam wird. Dies ist hier aber von der Behörde nicht gewollt. Die Ehefrau erfüllt die Voraussetzungen gem. § 13 PBefG für den Betrieb des Unternehmens und verliert sie nicht durch den Verstoß gegen das Beschäftigungsverbot. Natürlich muss die Behörde bei Zuwiderhandeln dagegen vorgehen, dies hat aber grundsätzlich keine Auswirkung auf die ursprünglich erteilte Genehmigung. Somit käme noch die Auflage in Frage. Dies ist gem. § 36 II Nr. 4 VwVfG eine Bestimmung, durch die dem Begünstigten ein Tun, Dulden oder Unterlassen vorgeschrieben wird. Sie kann selbständig angefochten, erstritten und vollstreckt werden. Die Ehefrau soll es Unterlassen K als Fahrer einzustellen. Diese Vorgabe wird dem eigentlichen HauptVA, der Genehmigung hinzugefügt. Ferner ist die Auflage nur dann zu erfüllen, wenn von dem HauptVA Gebrauch gemacht wird. Der HauptVA, also die Genehmigung, ist nämlich widerrufbar, wenn die Ehefrau die Auflage nicht innerhalb einer ihr gesetzten Frist erfüllt. Trotz der Selbständigkeit der beiden Regelungen riskiert der Begünstigte damit den Verlust des begünstigenden VA. Die Auflage erscheint deshalb vorliegend am geeignetsten das von der Behörde Gewollte durchzusetzen. Demzufolge ist hier eine Auflage richtige Nebenbestimmung.

Zu prüfen ist weiterhin die Trennbarkeit von HauptVA und Nebenbestimmung. Hierzu kommt es entscheidend darauf an, ob die Nebenbestimmung in der Weise abtrennbar ist, dass der VA als solcher noch bestehen bleiben kann, wenn die Nebenbestimmung aufgehoben wird. Hier ist zu fragen, ob die Genehmigung auch ohne das zusätzliche Verbot bestehen bleiben kann. Nach Aufhebung des Verbotes hat der HauptVA jedoch noch einen selbständigen Regelungsgehalt. Die Genehmigung kann getrennt von der Auflage bestehen. Belastung und Begünstigung stehen nebeneinander und sind nicht ineinander verwoben.

Zuletzt muss geklärt werden, ob es sich um eine Ermessensentscheidung oder um einen gebundenen VA handelt. Auf die Frage des Ermessens, sowie die Rechtmäßigkeit der verbleibenden Begünstigung ist im Folgenden noch einzugehen.

Statthaft ist damit die isolierte Anfechtungsklage nach § 42 I 1. Alt. VwGO.

2. Klagebefugnis

K müsste gem. § 42 II VwGO klagebefugt sein. Zwar wurde die Genehmigung mit den Zusätzen an die Ehefrau des K gerichtet. Allerdings enthält sie das Verbot K als Fahrer einzustellen und eine Durchschrift des an die Ehefrau gerichteten Bescheides wird auch dem K zugestellt. Damit ist auch K Adressat der Belastung. Er müsste geltend machen in einem subjektiv öffentlichen Recht verletzt zu sein. Laut Sachverhalt macht er mehrere Grundrechtsverletzungen geltend. In Frage kämen die Grundrechte aus Art. 12 I, 14 I, 2 I GG. Eine Rechtsverletzung ist daher möglich.

3. Klagefrist

Die Klage müsste gem. § 74 I VwGO innerhalb eines Monats erhoben werden. K erhebt aber erst nach 13 Monaten Klage. Allerdings fehlt dem Bescheid eine Rechtsmittelbelehrung, was gem. § 57 II VwGO dazu führt, dass die Klage innerhalb eines Jahres erhoben werden kann. Aber auch dann ist K noch einen Monat zu spät dran. Folglich wurde die Klagefrist nicht gewahrt. Die Klage des K ist damit unzulässig.

Jura Individuell-Tipp: Bei einer verfristeten Klage ist immer noch an die Wiedereinsetzung nach § 60 I VwGO zu denken. Im vorliegenden Sachverhalt sind allerdings keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass K die Frist schuldlos hat verstreichen lassen, womit auch die Wiedereinsetzung keinen Erfolg hätte.

– Hilfsgutachten –

III. Begründetheit

Die Klage des K ist begründet, soweit die Nebenbestimmung rechtswidrig ist und im materiellen Sinne vom VA teilbar ist, also wenn der RestVA weder rechtswidrig noch sinnlos ist.

1. Rechtmäßigkeit der Nebenbestimmung

Eine Ansicht sieht bei der Aufhebung der Nebenbestimmung bei Ermessensentscheidungen das Problem, dass durch die gerichtliche Überprüfung ein unzulässiger Eingriff in den Ermessensspielraum der Behörde erfolgt. Nach Ansicht der Rechtsprechung ist die Aufhebung dennoch möglich. Allein entscheidend ist, ob der VA ohne die Nebenbestimmung rechtmäßig und sinnvoll ist. Begründet wird dies damit, dass die Behörde den VA stets nach den §§ 48, 49 VwVfG zurücknehmen oder widerrufen kann. Die Literatur hält dem entgegen, dass der VA bei Rechtmäßigkeit nur nach § 49 VwVfG widerrufen werden kann, dessen strenge Voraussetzungen aber in der Regel wohl nicht vorliegen werden. Somit wird der Spielraum der Behörde doch wieder in unzulässigerweise Weise beschränkt. Für die Rechtsprechung spricht aber, dass das Gericht auch im Rahmen der §§ 44 IV, 47 VwVfG prüft, wie die Behörde entschieden hat, insofern also auch kein unzulässiger Eingriff in das Ermessen vorliegt.

a) Ermächtigungsgrundlage

Ein VA, auf den ein Anspruch besteht, darf gem. § 36 I VwVfG mit einer Nebenbestimmung nur versehen werden, wenn sie durch Rechtsvorschrift zugelassen ist oder wenn sie die Erfüllung gesetzlicher Voraussetzungen sicherstellen soll. Fraglich ist, ob es sich bei der Genehmigung nach § 13 I PBefG um einen gebundenen VA oder um einen ErmessensVA handelt. Der Betrieb eines Taxengewerbes ist nach §§ 2, 46 PBefG an die Erteilung einer Genehmigung unter den Voraussetzungen des § 13 PBefG gebunden. Es handelt sich hierbei um ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt. § 13 PBefG gewährt als Ausfluss des Art. 12 I GG, § 1 GewO dem Einzelnen ein subjektives Recht auf Erteilung der Genehmigung bei Vorliegen der Genehmigungsvoraussetzungen. Entgegen dem Wortlaut „darf erteilt werden, wenn“ in § 13 I PBefG, der auf ein Ermessen schließen lässt, liegt ein gebundener VA vor. Somit käme hier die Zulassung mittels Rechtsvorschrift in Frage. Nach § 15 III PBefG kann die Genehmigung zum Betrieb eines Mietwagenunternehmens unter Bedingungen und Auflagen erteilt werden.

Ermächtigungsgrundlage für den Erlass der Auflage ist somit § 15 III PBefG.

b) Formelle Rechtmäßigkeit

Für die formelle Rechtmäßigkeit gelten die allgemeinen Vorschriften über VAs. Die Zuständigkeit der Behörde für die Erteilung einer Genehmigung und damit auch für die Erteilung von Auflagen nach dem PBefG ergibt sich aus § 11 I, II Nr. 2 PBefG. Eine Anhörung des K gem. § 28 VwVfG vor Erlass der Nebenbestimmung fand nicht statt. Da die Nebenbestimmung gleichzeitig mit dem VA erteilt wurde, ist zu fragen, ob eine Anhörung vor Erlass des VA erfolgte. K wurde mangels Angaben im Sachverhalt nicht zuvor angehört. Die Anhörung kann aber gem. § 45 I Nr. 3 VwVfG nachgeholt werden. Auch kann die erforderliche Begründung gem. § 45 I Nr. 2 VwVfG nachträglich erfolgen. Vom Vorliegen der übrigen formellen Voraussetzungen ist auszugehen.

c) Materielle Rechtmäßigkeit

Die Genehmigung kann gem. § 15 III PBefG unter einer Auflage erteilt werden, sofern sich diese Nebenbestimmung im Rahmen des Gesetzes und der auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen hält. Fraglich ist, ob die Erteilung einer Auflage im vorliegenden Fall rechtmäßig und die Ermessensausübung verhältnismäßig war.

aa) Voraussetzungen der Genehmigungserteilung § 13 BPefG

Gem. § 13 I Nr. 1 PBefG darf die Genehmigung nur erteilt werden, wenn die Sicherheit und Leistungsfähigkeit des Betriebes gewährleistet sind. Fraglich ist, wie es sich auf den Betrieb auswirkt, dass K keine Fahrerlaubnis mehr hat. § 21 I Nr. 2 StVG untersagt es dem Halter eines Kfz zuzulassen, dass jemand das Fahrzeug führt, der die dazu erforderliche Fahrerlaubnis nicht hat. Die Ehefrau ist Halterin der Fahrzeuge des Mietwagenunternehmens und als solche verpflichtet, niemanden fahren zu lassen, der keinen Führerschein besitzt. Andernfalls würde die Sicherheit des Betriebes erheblich gefährdet und zudem gegen das StVG verstoßen. Damit kann die Behörde dem VA gem. § 15 III BPefG eine Auflage hinzufügen, um die Einhaltung des § 13 I Nr. 1 PBefG sicherzustellen.

bb) Ermessen

Nach § 15 III BPefG steht es im Ermessen der Behörde der Genehmigung eine Auflage oder Bedingung hinzuzufügen. Zu fragen ist, ob das Ermessen im vorliegenden Fall fehlerfrei angewendet wurde, insbesondere ob kein Fall der Ermessensüberschreitung vorliegt. Die Auflage müsste deshalb verhältnismäßig sein.

(a) Legitimes Ziel und Geeignetheit

Mit der Auflage müsste ein legitimes Ziel verfolgt werden. Die Behörde fügt die Auflage hinzu, um die Einhaltung der Sicherheitsbestimmungen gem. § 13 I Nr. 1 PBefG sicherzustellen. Damit verfolgt sie einen legitimen Zweck. Ferner müsste die Auflage geeignet sein, dieses Ziel zu erreichen. Dem K wird verboten als Fahrer tätig zu werden. Das Verbot ist geeignet die Sicherheit des Betriebs zu gewährleisten.

(b) Erforderlichkeit

Die Auflage müsste erforderlich sein. Aufgrund des drohenden Verstoßes gegen § 21 I Nr. 2 StVG ist eine solche Maßnahme auch notwendig.

(d) Angemessenheit

Die Auflage müsste auch angemessen sein. Dies wäre der Fall, wenn die von der Auflage zu schützenden Interessen und Rechtsgüter gegenüber den durch die Auflage beeinträchtigten Rechtsgüter von größerem Gewicht sind. Zu prüfen ist, welche Rechtsgüter des K durch die Auflage beeinträchtigt sein könnten.

(aa)  Art. 12 GG

K könnte durch die Auflage in seinem Grundrecht aus Art. 12 I GG verletzt sein, da er seinem Beruf nicht mehr in gewünschter Weise nachkommen kann. Die Fahrertätigkeit des K fällt unzweifelhaft in den Schutzbereich des Art. 12 I GG. Weiterhin ist zu fragen, ob ein Eingriff vorliegt. Voraussetzung dafür  ist, dass der ergriffenen Maßnahme eine objektive oder subjektive berufsregelnde Tendenz innewohnt. Nach der Drei-Stufen-Theorie muss zwischen den drei verschiedenen Eingriffsebenen unterschieden werden. Dies ist deshalb von Bedeutung, da das BVerfG unterschiedliche Anforderungen an die Rechtfertigung des jeweiligen Eingriffs festgelegt hat. Einen Eingriff auf erster Stufe stellt eine Regelung bezüglich der Berufsausübung dar. Diese Regelung dürfte die Tätigkeit nicht schlechthin verbieten, sondern lediglich das “ Wie“ der Ausübung regeln. Der Ehefrau des K wird jedoch unbefristet untersagt ihren Mann als Fahrer einzusetzen. Das gänzliche Fahrverbot betrifft daher nicht die Ausübung des Berufs. Die zweite Stufe nimmt auf subjektive Zulassungsvoraussetzungen Bezug. Dies sind Voraussetzungen, die für die Wahl eines Berufes oder den Verbleib im Beruf persönliche Eigenschaften und Fähigkeiten des Berufsbewerbers vorschreiben. Die Behörde untersagt dem K als Fahrer tätig zu werden. Zurückzuführen ist diese Untersagung auf die fehlende Fahrerlaubnis des K. Allerdings fehlt diese Bezugnahme in der Auflage. Die Behörde hat dem K das Verbot nicht befristet erteilt, also nicht bis zu dem Zeitpunkt in dem er die Fahrerlaubnis wieder zurückerwirbt. Ein Anknüpfen an persönliche Eigenschaften ist demnach nicht ersichtlich. Deshalb kann es sich bei der Auflage nur um einen Eingriff auf dritter Stufe handeln, der objektive Zulassungsvoraussetzungen betrifft, die den Verbleib im Beruf an Voraussetzungen binden, die mit der Person des Bewerbers nichts zu tun haben. Solche Eingriffe sind jedoch nur zulässig, wenn sie dem Schutz überragend wichtiger Gemeinschaftsgüter zu dienen bestimmt sind. Im Ergebnis kann aber dahingestellt bleiben, ob es sich um einen Eingriff auf zweiter oder dritter  Stufe handelt, da in keinem Fall der Eingriff dem Schutz wichtiger Rechtsgüter dient. Natürlich ist es geboten ein Fahrverbot zu erteilen, allerdings nur bis zur Wiedererlangung der Fahrerlaubnis. Eine darüberhinausgehende Beeinträchtigung ist nicht gerechtfertigt. Somit ist das unbefristete Beschäftigungsverbot in jedem Fall unverhältnismäßig. Damit ist K in seinem Grundrecht auf Berufsfreiheit aus Art. 12 I GG verletzt.

(bb) Art. 14 GG

K könnte zusätzlich in seinem Grundrecht aus Art. 14 I GG verletzt sein. Ihm ist es untersagt beliebig mit den in seinem Eigentum stehenden Fahrzeugen umzugehen. Auch hier ist eine Einschränkung möglich, aber wiederum unverhältnismäßig, da keine Befristung hinzugefügt wurde. Insofern kann K neben Art. 12 GG auch die Verletzung seines Grundrechts aus Art. 14 GG geltend machen.

Somit ist die Auflage nicht angemessen.

2. Ergebnis

Die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage für den Erlass einer Auflage liegen nicht vor. Die Klage des K ist damit begründet.

Anmerkungen

siehe auch Prüfungsschema zu Art. 14 I 1 GG, „Klausur zur Berufsfreiheit

Vielen Dank, dass Sie diesen Beitrag gelesen haben. Wir hoffen, dass er Ihnen weiterhelfen oder zumindest Ihr Interesse wecken konnte. Hier finden Sie den Beitrag Klausur Nebenbestimmungen gem.§ 36 VwVfG auf unserer Website Jura Individuell.

Die Regelungstaktik der §§ 214 ff. BauGB

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Die §§ 214 ff. BauGB befassen sich mit der Beachtlichkeit von Verstößen gegen das Baugesetzbuch. In der Regel spielen diese in der Klausur vor allem bei der Prüfung von Bebauungsplan oder dem Flächennutzungsplan eine Rolle. Der folgende Artikel soll einen Überblick über die Inhalte von §§ 214 ff. BauGB verschaffen und wie sich diese auf die Wirksamkeit von Bebauungsplan/ Flächennutzungsplan auswirken. Abschließend wird ein kurzes Prüfschema für die Klausurbearbeitung dargestellt.

A. Allgemeines

§§ 214 ff. BauGB erfasst die Beachtlichkeit von Rechstverstößen nach dem Inkrafttreten von städtebaulichen Satzungen (also Bebauungsplan und Flächennutzungsplan).

In der Klausur sollte man sich daher immer zunächst darüber klar werden, in welchem Verfahrensstadium sich der Bebauungsplan oder der Flächennutzungsplan gerade befindet.

a) Bebauungsplan / Flächennutzungsplan ist noch nicht genehmigt:

Befinden sich die Pläne noch im Genehmigungsverfahren nach §§ 6 Abs. 1 und 10 Abs.2 BauGB so richtet sich die Bewertung von möglicherweise vorgekommenen Fehlern nur nach § 216 BauGB. Dann ist grundsätzlich jeder formelle und materielle Fehler beachtlich und kann zur Versagung der Genehmigung des Bebauungsplanes/Flächennutzungsplanes führen, vgl. § 216 BauGB.

b) Bebauungsplan / Flächennutzungsplan ist bereits genehmigt:

Sind die Pläne jedoch bereits genehmigt und in Kraft getreten, so bewertet sich die Relevanz des möglicherweise aufgetretenen Fehlers allein nach §§ 214 ff. BauGB. § 216 BauGB findet keine Anwendung! § 216 BauGB und §§ 214 ff. BauGB schließen sich gegenseitig aus!

In der Klausur oder im Examen ist die unter b) dargestellte Variante der Regelfall.

Jura- Individuell-Tipp: Um die §§ 214 ff. BauGB verstehen zu können, ist eine saubere Unterscheidung von formellen und materiellen Voraussetzungen der Bauleitplanung erforderlich. Um dies nocheinmal genauer nachzuarbeiten eignet sich unser Artikel zur „Wirksamkeit eines Bebauungsplanes“.

B) Die Systematik der §§ 214 ff. BauGB

Im Folgenden wird die Systematik der § 214 ff. BauGB näher dargestellt. Die Regelungen mögen auf den ersten Blick für manchen Studenten oder Examenskandidaten vielleicht etwas verwirrend wirken, macht man sich jedoch einmal die Logik klar, die der Gesetzgeber hinter diese Normen gestellt hat, merkt man, dass das das Gesetz eigentlich sehr systematisch und logisch ist. Im Grund wir nur zwischen Verfahrens- und Formfehlern, materiellen Fehlern sowie Abwägungsfehlern unterschieden.

a) Die Relevanz von Verfahrensfehlern nach § 214 Abs. 1 BauGB

aa) Verfahrens- und Formfehler nach § 214 Abs. 1 BauGB

§ 214 Abs. 1 BauGB befasst sich in abschließender Form mit Verfahrens- und Formfehlern nach dem BauGB. Es wird abschließend aufgezählt, welche Verfahrens- und Formvorschriften für die Wirksamkeit eines Bebauungsplans, eines Flächennutzungsplans oder einer sonstigen städtebaulichen Satzung beachtlich sind.

Jura-Individuell-Tipp: Lesen Sie die Vorschrift genau! § 214 Abs. 1 BauGB spricht von Verfahrens- und Formfehler nach diesem Gesetz, also dem BauGB. Landesrechtliche Vorschriften sind davon nicht erfasst. Dies bedeutet, dass Verfahrens- und Formfehler nach Landesrecht (z.B. BayBO, HBO) nicht von § 214 Abs. 1 BauGB erfasst sind. § 214 Abs. 1 BauGB findet hier keine Anwendung, d.h. Fehler nach einer landesrechtlichen Vorschrift sind grds. beachtlich!

Nur die in § 214 Abs. 1 BauGB genannten Fälle sind beachtliche Fehler in Bereichen, die nicht in § 214 Abs. 1 BauGB aufgeführt sind, sind daher grundsätzlich für die Wirksamkeit des Bebauungsplans / des Flächennutzungsplans unbeachtlich.

Beispiel: Bei der Überprüfung des Bebauungsplanes wurde vergessen die Öffentlichkeit nach § 3 Abs. 1 BauGB frühzeitig zu beteiligen. Der Bebauungsplan ist deshalb aber nicht nichtig, da § 3 Abs. 1 BauGB nicht explizit in § 214 Abs. 1 BauGB als beachtlicher Verfahrens-/Formfehler genannt wird ( 3 § Abs. 2 BauGB hingegen ja, s. weiter untern!). Der Fehler ist also unbeachtlich. Wurde hingegen aber vergessen, die Bauleitpläne nach § 3 Abs. 2 Satz 1 BauGB bei Vorliegen eines wichtigen Grundes entsprechend der Vorschrift nach § 3 Abs. 2 Satz 1 BauGB auszulegen, so wäre dieser Fehler, da er in § 214 Abs.1 BauGB ausdrücklich genannt ist, beachtlich.

Man sollte sich folglich an diesem Prüfungspunkt stets die Frage stellen, ob der festgestellte Fehler in § 214 Abs. 1 BauGB genannt und evtl. unbeachtlich ist!

aaa) Ermittlungs- und Bewertungsfehler nach § 214 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BauGB

Nach dieser Vorschrift liegt ein grundsätzlich zu beachtender Fehler vor, wenn entgegen § 2 Abs. 3 BauGB von der Planung berührten Belange in wesentlichen Punkten nicht zutreffend ermittelt oder bewertet worden sind und diese Belange der Gemeinde bekannt waren oder zumindest hätten bekannt sein müssen.
Die Gemeinde hat die zu berücksichtigen Belange folglich gar nicht oder nur unzutreffend ermittelt, obwohl diese hätte erfolgen müssen.
Darüber hinaus muss nach Abs. 1 Nr. 1 HS 2 der nicht berücksichtige Mangel offensichtlich auf das Ergebnis Einfluss gehabt haben. Dies ist nach der Rechtsprechung dann der Fall, wenn nach den Umständen des Einzelfalls die konkrete Möglichkeit besteht, dass die Planung die Planung anders ausgefallen wäre (vgl. BVerwG, 21.08.1981 – 4 C 57.80). Es wäre also die gleiche Entscheidung auch bei Vermeidung des Fehlers gefallen.

bbb) Fehler bei der Beteiligung der Öffentlichkeit und Behörden nach § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB

Nach Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 sind Fehler hinsichtlich der aufgezählten Normen, die im Bezug auf die Vorschriften über die Öffentlichkeits- und Behördenbeteiligung erfolgt sind, grundsätzlich beachtlich, es sei denn es liegen die in § 214 Abs. 1 Nr 2 a –g BaugGB festgeschriebenen Ausnahmetatbestände vor. Unterbleibt die notwendige Öffentlichkeits- oder Behördenbeteiligung jedoch vollständig, so liegt nach Ansicht der Rechtsprechung ein beachtlicher Fehler vor (vgl. BVerwG, 11.12.2002 – 4 BN 16.02).

ccc) Fehler bzgl. der Begründung des Flächennutzungsplans, der Satzungen und ihrer Entwürfe nach § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BauGB

Fehler die sich hinsichtlich der erforderlichen Begründungen nach den aufgezählten Normen ereignet haben, sind grundsätzlich beachtlich. § 214 Abs. 1 Nr.3 HS 2 BauGB beinhaltet jedoch eine interne Unbeachtlichkeitsklausel: Danach ist unbeachtlich, wenn die Begründung hinsichtlich Flächennutzungsplan oder Satzung, bzw. deren Entwürfe, nur unvollständig sind. Die Begründung muss ganz fehlen.
Nach der Rechtsprechung ist eine Begründung dann unbeachtlich, wenn entweder zu einer für die Planung bedeutenden Regelung nicht alle tragenden Gesichtspunkte behandelt wurden oder wenn zu einzelnen, bedeutenden Regelungen eine Begründung fehlt (vgl. BVerwG, 21.02.1986 – 4 N 1.85).
Eine Ausnahme von der internen Unbeachtlichkeitsklausel ist hinsichtlich des Umweltberichtes nach § 2a BauGB zu beachten: Dieser darf nur in unwesentlichen Punkten unvollständig sein, ansonsten liegt ein beachtlicher Fehler nach § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 HS. 1 BauGB vor.

bb) Materielle Fehler nach § 214 Abs. 2 BauGB

§ 214 Abs. 2 BauGB regelt die Beachtlichkeit von materiellen Fehler. Im Gegensatz zu Abs. 1 ist § 214 Abs. 2 BauGB so aufgebaut, dass grundsätzlich alle materiellen Fehler beachtlich sind. § 214 Abs. 2 BauGB legt demnach fest, welche Fehler ausnahmsweise unbeachtlich sind.

cc) Abwägungsfehler nach § 214 Abs. 1 Nr. 1 BauGB

§ 214 Abs. 1 Nr. 1 BauGB normiert die Beachtlichkeit von Abwägungsmängeln, die die für die Rechtswirksamkeit des Flächennutzungsplans und des Bebbauungsplans beachtlich sind, sofern bei der Aufstellung von Flächennutzungsplan / Bebauungsplan die von der Planung berührten Belange in wesentlichen Punkten nicht zutreffend ermittelt oder bewertet worden sind und dieser Mangel offensichtlich und auf das Abwägungsergebnis auschlaggebend war. Dabei müssen die berührten Belange der Gemeinde bekannt gewesen sein. Nach § 2 Abs. 3 BauGB hätten diese Belange berücksichtigt werden müssen.

c) Prüfschema für die Klausur

Für die Klausurbearbeitung bietet sich folgendes Prüfschema an:

  1. Ist der im Sachverhalt aufgeworfene Fehler von § 214 BauGB umfasst (Vorschrift lesen!)
  2. Ist dieser Fehler bereits nach § 214 BauGB unbeachtlich?
  3. Wenn der Fehler nach § 214 BauGB beachtlich ist, ist er unter Umständen nach § 215 BauGB unbeachtlich (Vorschrift lesen!)?
  4. Sollte der Fehler nach beiden Vorschriften (§§ 214 und 215 BauGB) beachtlich sein, ist er in einem ergänzenden Verfahren nach § 214 Abs. IV BauGB behebbar?

214 ff. Grafik

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Einkommensteuerrecht Klausuraufbau

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Steuerrechtsklausuren im universitären Schwerpunktbereich können verschiedene Aufgabenstellungen haben. Zum Einen gibt es Klausuren, in denen ein Gutachten über die Steuerpflicht eines Bürgers ertragssteuerlich oder umsatzsteuerlich zu erstellen ist und zum Anderen gibt es Klausuren, in denen die Rechtmäßigkeit von Steuerverwaltungsakten zu überprüfen ist. Diese Aufgabenstellungen können auch kombiniert vorkommen. Sehr häufig sind Fragen zu beantworten, die das Einkommenssteuerrecht betrifft. Dieser Artikel soll daher einen Einblick geben, wie eine einkommensteuerrechtliche Klausur aufgebaut werden kann.

I. Person

Sind mehrere Personen zu begutachten, ist die Klausur nach den Personen zu ordnen.

II. Veranlagungszeitraum

Sind mehrere Jahre bzw. Veranlagungszeiträume zu behandeln, sind diese chronologisch zu ordnen.

III. Subjektive/persönliche Steuerpflicht

Die persönliche Steuerpflicht richtet sich nach § 1 EStG. Jede natürliche Person mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland ist unbeschränkt einkommensteuerpflichtig § 1 Abs. 1 EStG.
Falls dies nicht der Fall ist, kann die Person beschränkt steuerpflichtig sein § 1 Abs. 4 EStG, der erweiterten unbeschränkten Steuerpflicht unterliegen § 1 Abs. 2 EStG, fiktiv unbeschränkt steuerpflichtig sein § 1 Abs. 3 EStG oder der erweiterten beschränkten Steuerpflicht gem. §§ 2, 5 AStG unterliegen.

IV. Objektive/sachliche Steuerpflicht

Die sachliche Steuerpflicht richtet sich nach § 2 Abs. 1 S. 1 EStG.

1. Erste Tätigkeit/Einkunftsquelle

A. Einkunftsart

In dieser Stufe sind die Einkünfte einer Einkunftsart zuzuordnen.

Die Einkunftsarten sind gem. § 2 Abs. 1 S. 1 EStG:

  1. Land- und Forstwirtschaft
  2. Gewerbebetrieb
  3. selbständige Arbeit
  4. nichtselbständige Arbeit
  5. Kapitalvermögen
  6. Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung
  7. sonstige Einkünfte im Sinne des § 22 EStG

B. Höhe der Einkünfte

Die Einkünfte sind bei Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb und selbständiger Arbeit der Gewinn und durch die passende Gewinnermittlungsart gem. §§ 4 bis 7k und 13a EStG zu ermitteln.
Bei Einkünften aus nichtselbstständiger Arbeit, Kapitalvermögen, Vermietung und Verpachtung und sonstigen Einkünften, sind die Einkünfte der Überschuss der Einnahmen über den Werbungskosten und gem. §§ 8 bis 9a EStG zu ermitteln. Für Einkünfte aus Kapitalvermögen sind §§ 20 Abs. 9, 32d Abs. 2 EStG zu berücksichtigen.

Jura Individuell Hinweis:

Werden Einkünfte durch eine Mitunternehmerschaft erwirtschaftet, untergliedern sich die Prüfungspunkte wie folgt:

A. Einkunfstart
a. Gesellschaftsebene
b. Gesellschafterebene

B. Höhe der Einkünfte
a. Gesellschaftsebene
b. Gesellschafterebene

 

Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die Mitunternehmerschaft nicht selbst Steuersubjekt ist, sondern nur Gewinnermittlungsebene.

2. Weitere Tätigkeit/Einkunftsquelle

3. Weitere Tätigkeit/Einkunftsquelle

V. Summe der Einkünfte

Sind die Einkünfte in den jeweiligen Einkunftsarten ermittelt, sind diese zu addieren.

VI. Gesamtbetrag der Einkünfte

Von der Summe der Einkünfte sind gem. § 2 Abs. 3 EStG abzuziehen:

  • der Altersentlastungsbetrag gem. § 24a EStG
  • der Entlastungsbetrag für Alleinerziehende gem. § 24b EStG
  • der Freibetrag für Land und Forstwirte gem. § 13 Abs. 3 EStG

Nach Abzug dieser Beträge erhält man den Gesamtbetrag der Einkünfte.

VII. Einkommen

Vom Gesamtbetrag der Einkünfte sind gem. § 10d EStG vorrangig Verluste abzuziehen.
Danach sind gem. § 2 Abs. 4 EStG die

  • Sonderausgaben § 10 ff. EStG
  • Außergewöhnlichen Belastungen § 33 ff. EStG

abzuziehen.

Der Betrag nach Abzug dieser Posten ist das Einkommen.

VIII. Zu versteuerndes Einkommen

Vom Einkommen sind gem. § 2 Abs. 5 EStG

  • Freibeträge für Kinder gem. §§ 31, 32 Abs. 6 EStG
  • Härteausgleich gem. § 46 Abs. 3 EStG

abzuziehen.

Der Betrag nach Abzug ist das zu versteuernde Einkommen.

IX. Steuer

1. Tarifliche Einkommensteuer

Die tarifliche Einkommensteuer berechnet man, indem das zu versteuernde Einkommen mit dem Einkommensteuertarif gem. § 32a EStG multipliziert wird.

2. Festzusetzende Einkommensteuer

Die tarifliche Einkommensteuer ist gem. § 2 Abs. 6 S. 1 EStG, um ausländische Steuern und Steuervergünstigungen zu vermindern, um die festzusetzende Steuer zu erhalten.

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Wahlrechtsgrundsätze – Bundeswahlgesetz

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Auf Grund der hohen Aktualität und enormen Examensrelevanz soll dieser Aufsatz sich mit den Wahlrechtsgrundsätzen in Deutschland befassen und die aktuelle Gesetzeslage aufzeigen. Bereits am 3. Juli 2008 erklärte das Bundesverfassungsgericht das deutsche Wahlgesetz für verfassungswidrig und forderte die Regierung auf bis zum 30. Juni 2011 eine Neuregelung zu schaffen, die im Einklang mit der Verfassung steht. Allerdings scheiterte die Wahlrechtsreform 2011 zunächst erneut 2012 in Karlsruhe an der Verfassungswidrigkeit. Es musste jedoch noch vor der Neuwahl des Bundestages im Herbst 2013 eine Neuregelung her. Im Zuge dessen einigten sich die Fraktionen im Oktober 2012 (Inkraftreten Mai 2013) auf die Einführung von Ausgleichsmandaten im Bundeswahlgesetz.

Vor Augen zu halten ist, dass es kein gültiges Recht für die Sitzverteilung im Bundestag gab. Damit fehlte zunächst die Rechtsgrundlage für die anstehende Bundestagswahl im Herbst 2013.

Dem Studenten sollte spätestens jetzt klar werden, dass die Thematik heiß ist für alle anstehenden Prüfungen, denn die Kenntnis der Wahlrechtsgrundsätze und auf Grund der Aktualität auch die Kenntnis der sich hierum rankenden Probleme wird absolut vorausgesetzt. Wer sich einmal näher damit befasst hat kann leicht Punkten und mit einem guten Ergebnis aus der Prüfung gehen.

Aus diesem Grund wollen wir uns der Thematik einmal genauer widmen. Hierfür wollen wir aber zunächst einmal die einzelnen Wahlrechtsgrundsätze wiederholen, bevor wir auf die aktuelle Gesetzeslage näher eingehen.

I) Wahlrechtsgrundsätze in der Bundesrepublik Deutschland

Für die Wahlen zum Bundestag müssen besondere Grundsätze eingehalten werden, die sich aus der Verfassung, also unserem Grundgesetz ergeben. Warum das so sein muss wird klar, wenn man sich vor Augen führt, dass der Bundestag seine demokratische Legitimation unmittelbar durch Wahlen erhält. Damit die Wahlen aber tatsächlich diese Legitimation begründen können ist es Voraussetzung, dass diese bestimmte Anforderungen einhalten.

1) Grundsatz des Art 38 I GG

Art 38 I des Grundgesetzes regelt für die demokratische Wahl in der Bundesrepublik Deutschland:

„Die Abgeordneten des Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.“

Sodann obliegt es dem Gesetzgeber die Einzelheiten diese hier benannten Wahlrechtsgrundsätze näher auszugestalten, denn Art 38 III GG sagt insofern:

„Das Nähere regelt ein Bundesgesetz“

Dieses Bundesgesetz ist das Bundeswahlgesetz. Voraussetzung der näheren Bestimmung ist allerdings, dass dieses Bundesgesetz, dass die Ausgestaltung näher regelt die in § 38 I GG aufgezeigten Grundsätze einhält. Das Grundgesetz enthält insofern Regelungen, die aufgrund des Vorrangs des höheren Gesetzes durch alle niedrigeren Gesetze eingehalten werden müssen.

Bisher war das wie oben schon erwähnt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes nicht der Fall, weshalb nun ein neues Bundeswahlgesetz her muss. Wir wollen uns aber erst einmal ansehen, was eigentlich unter „Allgemein“, „Unmittelbar“, „Frei“,  „Gleich“ und „Geheim“ zu verstehen ist, bevor wir uns ansehen wollen, was das Bundesverfassungsgericht eigentlich am bisherigen Bundeswahlgesetz auszusetzen hatte. Die Wahlrechtsgrundsätze sind das Kernstück der Demokratie, bei der alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht und haben grundrechtsgleichen Charakter, weshalb sie auch in einer Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht gerügt werden können.

2) Allgemeinheit der Wahl

Als allererstes spricht das Grundgesetz von einer allgemeinen Wahl. Das bedeutet, dass allen Bürgen ein Wahlrecht zustehen soll. Insofern konkretisiert das Grundgesetz noch das Wahlrecht, indem es in § 38 II GG eine Altersgrenze voraussetzt. Der Grund dafür ist, dass der Wähler ein Mindestmaß an Einsichtsfähigkeit haben und die Bedeutung und Tragweite der Wahl abschätzen kann. Eine weitere Einschränkung in Bezug auf die Allgemeinheit ergibt sich aus dem Grundgesetz aber noch, nämlich diejenige, dass das Wahlrecht nur den deutschen Staatsbürgern zustehen soll, Denn das „ Volk“, von dem gemäß Art 20 II GG alle Staatsgewalt ausgehen soll ist nur das deutsche Volk (zusätzlich noch die sogenannten Statusdeutschen). Das sieht auch das Bundesverfassungsgericht so. Das ergibt sich nicht nur aus der Präambel des Grundgesetzes, die ausschließlich vom deutschen Volk spricht, sondern auch aus weiteren Normen, wie beispielsweise Art 146 GG, der ebenfalls betont, dass das Grundgesetz für das gesamte deutsche Volk gilt.

Grundsätzlich soll hiermit aber sichergestellt werden, dass alle Staatsangehörigen unabhängig von ihrem Geschlecht ihrer Rasse, ihrem Stand oder Besitz bzw. Vermögen, ihrer Bildung und auch ihrer religiösen Ansicht ein Stimmrecht haben. Das soll das Wort „allgemein“ hervorheben.

3) Unmittelbarkeit der Wahl

Als nächstes spricht das Grundgesetz von einer unmittelbaren Wahl. Unmittelbarkeit bedeutet, dass es zwischen den Wählern und den gewählten Kandidaten keine Wahlmänner oder anderer Instanzen geben darf, die dann wiederum ihrerseits Wählen. Der Wählerwille der deutschen Bevölkerung muss sich unmittelbar im Ergebnis widerspiegeln und dieses bestimmen. Eine unzulässige Zwischenschaltung wäre nach dem Grundgesetz also das US Amerikanische Wahlsystem bei der Wahl zum Präsidenten, bei der eine Zwischenschaltung von Wahlmännern ja zulässig ist.

4) Freiheit der Wahl

Nun spricht Art 38 GG auch von einer freien Wahl. Insofern wird also verlangt, dass der Staat die Bürger nicht inhaltlich zu einer Entscheidung verpflichtet. Vielmehr muss der Wähler die Möglichkeit haben seine Stimme abseits von jeglichem Zwang und ohne irgendwelche unzulässigen Beeinflussungen abzugeben. Das beinhaltet sicherlich nicht nur, dass die Stimmabgabe selbst frei von diesen Beeinflussungen ist, sondern auch, dass das Urteil, dass die Wähler sich machen einem freien und offenen Meinungsbildungsprozess entspringt.

5) Geheime Wahl

Dass die Wahl zum deutschen Bundestag geheim erfolgen muss wird ebenso vorausgesetzt. Das heißt nichts anderes, als dass es im Endeffekt nicht gestattet sein kann, dass die Möglichkeit besteht festzustellen, wie die einzelnen Personen gewählt haben. Das erfolgt meist durch eine besondere Sicherung der Wahlzellen und versiegelte Urnen etc. Der Bürger muss also insofern bei seiner Stimmabgabe unbeobachtet sein.

6) Gleichheit der Wahl

Als nächstes spricht das Grundgesetz noch von der Gleichheit der Wahl. Im Prinzip kann man hier festhalten, dass eine Wahl dann gleich ist, wenn den Stimmen der Wähler derselbe Zählwert (Jede Stimme zählt gleich viel) und auch der gleiche Erfolgswert zukommt (Jede Stimme wiegt gleich viel). Das Stimmgewicht oder die Anzahl der Stimmen darf in keinem Fall von Bildung, Konfession oder Geschlecht, politischer Einstellung oder Ähnlichem abhängig gemacht werden. Formal muss also die Möglichkeit für die Bürger bestehen das Wahlrecht in formal gleicher Weise auszuüben.

7) Anmerkung:

In Bezug auf all die oben dargestellten Wahlrechtsgrundsätze stellt sich eine Vielzahl von Problemen, die allesamt gerne zu Klausurstoff verarbeitet werden. Innerhalb dieses Artikels wollen wir uns allerdings nur näher mit denjenigen Wahlrechtsgrundsätzen befassen, die gerade in Bezug auf das aktuelle Bundeswahlgesetz in Zusammenhang mit der Verfassung problematisch sind und die das Bundesverfassungsgericht gerügt hat. Zu den näheren einzelnen Problemen der anderen Wahlrechtsgrundsätze muss schon aus Platzgründen an dieser Stelle auf ein einschlägiges Skript oder Lehrbuch verwiesen werden.

II) Das vorherige Wahlverfahren in der Bundesrepublik und seine Probleme

Nachdem wir uns also nun noch einmal ins Gedächtnis gerufen haben, was es eigentlich mit den Wahlrechtsgrundsätzen auf sich hat, die schon das Grundgesetz normiert, wollen wir uns einmal ansehen, warum das Bundesverfassungsgericht nun der Ansicht ist, dass das bisherige Werk (Bundeswahlgesetz), dass diese Grundsätze näher ausgestalten sollte, eigentlich verfassungswidrig ist. Hierzu müssen wir aber zunächst einmal verstehen, wie die Wahl zum deutschen Bundestag eigentlich bisher abgelaufen ist.

1) Die zur Auswahl stehenden Wahlsysteme- Mehrheits- oder Verhältniswahl

Zunächst einmal müssen wir festhalten, dass es im Groben zwei verschiedene Möglichkeiten gibt eine Wahl zu gestalten, nämlich das Prinzip der Mehrheitswahl und das der Verhältniswahl.

Mehrheitswahl:

Mehrheitswahl bedeutet, dass eine Stimmenmehrheit in einem Wahlgebiet darüber entscheidet wer gewählt ist. Die Mehrheit würde also gewinnen, die üblichen Stimmen blieben unberücksichtigt. Würde man das Parlament auf diese Art und Weise wählen, so wäre jeder Abgeordnete, der in seinem Wahlkreis die Mehrheit erhält praktisch der Vertreter dieses Wahlkreises und die üblichen Stimmen hätten keine Auswirkung auf die Zusammensetzung des Parlamentes. Würde Kandidat X also 54 % und damit eine Mehrheit erhalten und Kandidat Y nur 46 % wäre nach diesem System Kandidat X gewählt und Kandidat Y nicht.

Verhältniswahl:

Verhältniswahl hingegen würde bedeuten, dass die zur Verfügung stehenden Plätze nach dem Stimmenverhältnis verteilt werden würden, so dass auch die Stimmen, die keine Mehrheit erreichen berücksichtigt werden. Das politische Kräfteverhältnis innerhalb einer Gesellschaft wird durch dieses System genauer wiedergegeben. Entfallen demnach 2/3 der Stimmen auf Partei X und 1/3 der Stimmen auf Partei Y, so würde Partei X 2/3 der Plätze erhalten und Partei Y 1/3 der Plätze.

In Bezug auf die Entscheidung, welches der Wahlsysteme der Gesetzgeber nun Wählt ist er prinzipiell frei, solange er sich nur an die oben dargestellten Grundsätze hält, die prinzipiell durch keines der Systeme negativ beeinträchtigt würde.

2) Bisherige Regelungen: Personalisierte Verhältniswahl

Bisher lief die Wahl zum Bundestag in der Bundesrepublik nach einer Mischung der beiden oben aufgezeigten Wahlsysteme ab, man bezeichnet eine Mischung dieser Systeme in dieser Art und Weise als personalisierte Verhältniswahl (Achtung das ganze gilt nicht auch automatisch für alle Landtagswahlen! Wir reden gerade nur über die Wahlen zum Bundestag).

Die Wahl der Hälfte der Abgeordneten erfolgt bei dieser sogenannten Mischform (der personalisierten Verhältniswahl) durch eine Mehrheitswahl, die andere Hälfte der Abgeordneten erfolgt durch eine Verhältniswahl.

Das wollen wir uns einmal näher ansehen:

Wenn nun die eine Hälfte der Abgeordneten so und die andere wiederum so gewählt wird klar, dass es zwei Stimmen geben muss. Und das ist in der Bundesrepublik Deutschland der Fall- Jeder Bürger hat zwei Stimmen:

a) Erststimme (Wahlkreisstimme)

Die Bundesrepublik wird bisher in 299 Wahlkreise eingeteilt. In jedem Wahlkreis wird im Wege der Mehrheitswahl ein Direktkandidat gewählt. Hier ist wie im Mehrheitswahlsystem in jedem Wahlkreis derjenige gewählt, der die relative Mehrheit der Stimmen in seinem Wahlkreis erhält. Sodann haben wir also 299 Gewinner.

Die hier errungenen Mandate werden als Direktmandate bezeichnet. Das behalten wir erst einmal so im Hinterkopf. Direktmandate werden diese deshalb genannt, weil die gewählten Repräsentanten direkt ins Parlament einziehen. Diese Plätze sind also quasi schon vergeben.

Wichtiger ist aber nun die Zweitstimme, denn die Zweitstimme ist eigentlich der Indikator dafür, wie viele Plätze einer Partei eigentlich im Bundestag zustehen sollen. Die Erststimme ist prinzipiell nur dazu da Einfluss auf die Personelle Besetzung dieser Plätze zu nehmen. Man kann sich das in etwas so vorstellen, dass die Zweitstimme bestimmt wie viele Plätze eine Partei erhalten soll und die Erststimmen darüber entscheiden wer diese Plätze vorrangig belegen wird, da die Plätze die einer Partei nach dem Zweitstimmenverhältnis zustehen als erstes mit den Gewinnern der Erststimmenwahl besetzt werden und erst die restlichen verbleibenden Plätze über die Listen (Sogenannte Landeslisten) vergeben werden.

Wir wollen uns aber zunächst einmal ansehen wie die Zweitstimmenwahl abläuft. Hierdurch wird ja erst einmal festgelegt wie viele Plätze im Parlament einer Partei eigentlich zustehen sollen:

b) Zweitstimme

Mit der Erststimme wird wie eben geschildert ein Direktkandidat in einem Wahlkreis gewählt. Generell entscheidet aber wie gerade erklärt eigentlich die Zweitstimmen der Wähler darüber wie viele Sitze einer Partei im Bundestag eigentlich zustehen. Um die Anzahl der Plätze zu beeinflussen, die einer Partei zustehen sollen, hat jeder Bürger seine zweite Stimme. Mit dieser Stimme wählt der Bürger für eine sogenannte Landesliste, die von den Parteien eingereicht werden kann. Diese Landeslisten der gleichen Parteien gelten dann zunächst mal als eine große Bundesliste (Obgleich es in jedem Land eine eigene Liste gibt). Es gibt also zwar in jedem Bundesland eine Liste, fingiert wird aber erst mal eine Große Liste, die das gesamte Bundesgebiet umfasst, um zu berechnen, wie viele Plätze einer Partei bundesweit nach der Zweitstimmenwahl zustehen. Das Ganze Prozedere nennt man dann Oberverteilung. Die Plätze werden dann im Anschluss auf die Bundesländer verteilt, also auf die einzelnen Landeslisten. Dieses Prozedere wiederum wird als Unterverteilung bezeichnet.

Je nachdem wie viele Zweitstimmen die Partei nun bundesweit für die große fingierte Gesamtliste erhält bekommt sie also nun eigentlich Plätze im Bundestag (Möglichst gleiches Verhältnis von Stimmen zu Plätzen). Dieser Wahl liegt demnach eine Verhältniswahl zu Grunde, da nicht nur die Mehrheitspartei gewinnt und Plätze erhält, bzw. der Mehrheitskandidat wie bei der Erststimme, bei welcher ja die Stimmen für die nicht Mehrheitskandidaten unter den Tisch fallen. Vielmehr werden hier die Plätze so vergeben, wie die Stimmen ihr Verhältnis auch ausdrücken. Die Berechnungsweise erfolgte früher über das sogenannte Hare/Niemeyer Verfahren und wurde später über das Sainte- Laguä- Verfahren vorgenommen. Das klingt kompliziert, ist es aber gar nicht. Interessierte können den eingeschobenen Text lesen um einen Einblick in das Berechnungsverfahren zu erhalten. Für die Anfänger empfehlen wir diese Passage zu überspringen.

Das Sainte- Laguä- Verfahren funktioniert so:

Die Zweitstimmen für die Landeslisten (Alle Listen zusammen) werden alle erst einmal zusammengezählt. Dann wird ermittelt wie viele Stimmen von dieser Gesamtsumme auf die einzelnen Parteien entfallen. Diese Werte (Auf die einzelnen Parteien entfallenden Stimmen) werden dann alle erst einmal durch 0,5 geteilt. Für jede Partei erhält man dann ein Ergebnis. Die Ergebnisse werden notiert. Dann werden die Ursprünglichen Werte anstatt durch 0,5 durch 1,5 geteilt und die Ergebnisse notiert. Dann werden sie durch 2,5 geteilt und notiert. Weiter geht’s mit 3,5 dann 4,5 dann 5,5 und so weiter.

So jetzt stehen da Ergebnisse in einer Tabelle. Die Partei die das Höchste Ergebnis innerhalb der Tabelle hat bekommt Platz 1 von den zu verteilenden 598 Plätzen (Generell hat der Bundestag 598 Plätze). Den 2. Platz erhält die Partei die das zweithöchste Ergebnis hat, den dritten Platz erhält die Partei, die das dritthöchste Ergebnis hat und so weiter. Man braucht natürlich 598 Mal ein Ergebnis, damit letztlich auch 598 Plätze vergeben werden können.

Wir nehmen mal als Beispiel an, dass 10.000 Zweitstimmen bundesweit abgegeben wurden und 10 Plätze zu vergeben sind. Wir nehmen an Partei X erhält von diesen 10.000 Wählerstimmen 5200, Partei Y 1700 und Partei Z 3100.

Wir teilen jetzt die 5200 Stimmen von Partei X durch 0,5, die 1700 Stimmen von Partei Y durch 0,5 und die 3.100 Stimmen von Partei Z durch 0,5 und erhalten:

Für Partei X=10.400 Für Partei Y=3.400 und für Partei Z=6200

Jetzt teilen wir die 5200 Stimmen von Partei X durch 1,5 die 1700 Stimmen von Partei Y durch 1,5 und die 3.100 Stimmen von Partei Z durch 1,5 und erhalten:

Für Partei X=3.466,6 Für Partei Y=1.133,3 und für Partei Z=2.066,6

Jetzt teilen wir die 5200 Stimmen von Partei X durch 2,5 die 1700 Stimmen von Partei Y durch 2,5 und die 3.100 Stimmen von Partei Z durch 2,5 und erhalten:

Für Partei X=2.080 Für Partei Y=680 und für Partei Z=1.240

Das Ganze geht so lange weiter und zwar geteilt durch 3,5 dann 4,5, dann 5,5 usw., bis wir so viele Ergebnisse haben, wie Plätze zu vergeben sind. Normalerweise 598. Die Ergebnisse werden alle notiert und der höchste Wert bekommt Platz 1, der zweithöchste Platz 2 usw.

Das muss man so genau aber gar nicht verstehen. Das war jetzt mehr für die ganz detailverliebten Kandidaten.

Wichtig ist nun vielmehr, dass man Versteht, wo der Unterschied der Zweitstimme zur Erststimme eigentlich liegt. Und der liegt darin, dass bei der Zweitstimmenwahl ja die Plätze über Listen vergeben werden und zwar möglichst genau in dem Verhältnis, wie eine Partei auch Zweitstimmen erhalten hat. Bei der Erststimmenwahl hingegen gibt es nur Gewinner oder Verlierer. Die Stimmen die an den Kandidaten im Wahlkreis gegangen sind, der letztlich nicht die relative Mehrheit erreicht fallen einfach unter den Tisch. Das ist bei der Zweitstimmenwahl eben anders. Erwähnenswert ist noch, dass aufgrund der 5 % Sperrklausel diejenigen Parteien gar keine Listenplätze über die Zweitstimme erhalten, die weder 5% der Zweitstimmen noch 3 Plätze über die Erststimmen erhalten haben. Das wiederum basiert auf dem Gedanken das Parlament durch Vermeidung von Splitterparteien auch funktionsfähig zu halten, soll hier aber nur erwähnt und nicht näher erläutert werden.

c) Verteilung der Plätze im Einzelnen

So wir wissen jetzt wie die Erststimmenwahl erfolgt und wir wissen, wie die Anzahl der Plätze berechnet wird, die einer Partei eigentlich insgesamt im Wege der Listenverteilung zustehen. Wichtig ist als erstes einmal, dass die Gesamtanzahl der Sitze, die einer Partei eigentlich zustehen zunächst mal ausschließlich über die Zweitstimme bestimmt wird.

Die Zweitstimmen wurden ja zunächst für eine fingierte Bundesliste berechnet (Oberverteilung). Nun müssen die Plätze ja noch auf die einzelnen Länder verteilt werden (Unterverteilung). Die Plätze die nun jede einzelne Landesliste  von der Gesamtzahl der Sitze die einer Partei nach den Zweitstimmen bundesweit für die fingierte Bundesliste zustehen erhalten soll bestimmt sich nach der Zahl der Wähler in jedem Land. Je mehr Zweitstimmenwähler ein Land vorweist, desto mehr Plätze entfallen also auf die Landesliste dieses Bundeslandes. Das wird später noch ganz wichtig!

Nachdem das geschehen ist, wird untersucht, ob die Partei in dem jeweiligen Bundesland schon Direktmandate erworben hat. Ist das der Fall, werden die Direktmandate auf die Listenplätze die der Partei nun ursprünglich nach dem Zweitstimmenverhältnis in dem jeweiligen Bundesland zustehen angerechnet. Genauer gesagt die Plätze werden zunächst mit den Gewinnern der Erststimmenwahl besetzt. Die übrig bleibenden Plätze (und nur diese) werden dann aus den Landeslisten der jeweiligen Parteien besetzt.

Wichtig ist also, dass die Plätze, die einer Partei nach der Zweitstimmenwahl in einem Bundesland zustehen erst einmal mit Leuten einer Partei besetzt werden, die ein Direktmandat erringen konnten. Die restlichen Plätze die noch übrig bleiben werden dann über die Listen besetzt.

3) Probleme

So, bisher war das eigentlich auch noch recht unproblematisch. Jetzt gibt es aber einige Probleme, die durch die Verbindung der beiden Wahlsysteme entstehen können.

a) Überhangmandate

Wie oben bereits erwähnt, ist es so, dass die Gesamtanzahl der Sitze, die einer Partei von den 598 Bundestagssitzen zustehenden eigentlich ja über die Zweitstimme ermittelt werden. Die Erststimme soll im Prinzip nur besonders starken Einfluss auf die personelle Zusammensetzung des Bundestages haben, weil die Direktkandidaten einer Partei, die die Mehrheit der Erststimme erhalten haben, ja direkt ins Parlament einziehen. Diese Sitze werden dann grundsätzlich von den Sitzen abgezogen, die einer Partei nach dem Zweitstimmenverhältnis für ihre Liste eigentlich zustehen sollen. Nur die restlichen Plätze werden dann über die Landeslisten besetzt.

Was passiert denn aber, wenn eine Partei mehr Abgeordnete über die Erststimme in den Bundestag schicken könnte, als ihr eigentlich Plätze nach dem Zweitstimmenverhältnis zustehen würden?

Ist das der Fall, hat also eine Partei mehr Direktmandate erworben, als ihr eigentlich Mandate nach dem Zweitstimmenverhältnis zustehen dürften, dann hat man sogenannte Überhangmandate. Bisher darf die Partei diese Überhangmandate behalten. Das heißt, dass sich hierdurch also die Gesamtanzahl der Sitze im Bundestag erhöht. Wenn Überhangmandate entstehen, ergeben sich doch aber eigentlich Probleme mit den bereits erläuterten Wahlrechtsgrundsätzen. Das wollen wir einmal näher betrachten:

Wenn Überhangmandate entstehen, dann entspricht die Zusammensetzung des deutschen Bundestages nicht mehr dem Verhältnis der gültigen Zweitstimmen, sodass den Wählerstimmen anscheinend unterschiedliches Gewicht zukommt und der Proporz verzerrt wird. Dem 17. Deutschen Bundestag (seit 27. Oktober 2009) gehören zum Beispiel 622 Mitglieder an, d.h. es gab nach der Wahl 24 Überhangmandate. Überhangmandate haben eine widersprüchliche Sitzverteilung im Bundestag zur Folge. Damit würden die Überhangmandate eigentlich gegen den Grundsatz der Gleichheit der Wahl verstoßen.

Das Bundesverfassungsgericht war bisher der Ansicht, dass sich die Überhangmandate selbst nicht als verfassungswidrig herausstellen, da sie sich als Folge der personalisierten Verhältniswahl darstellen. Wegen des Grundcharakters der Bundestagswahl als Verhältniswahl muss sich allerdings die Anzahl der Überhangmandate in Grenzen halten.

Andere gehen jedoch davon aus, dass sich die Überhangmandate schon deshalb als verfassungswidrig darstellen, weil der Bürger allein mit der Zweitstimme darüber entscheiden soll, wie viele Sitze einer Partei im Parlament zustehen. Die Erststimme solle hingegen nur die Abgeordneten in personeller Hinsicht bestimmen, soll sich aber keinesfalls auf die Anzahl der Sitze auswirken, die einer Partei zustehen sollen.

b) Negatives Stimmgewicht

Zusätzlich zu den allgemeinen Problemen der Überhangmandate tritt aber auch noch das Problem des negativen Stimmgewichts, das sich aus dem gesamten Verteilungsprinzip das der Bundestagswahl zu Grunde liegt und in direktem Zusammenhang mit den Überhangmandaten steht.

Unter dem negativen Stimmgewicht, dem sogenannten inverser Erfolgswert, ist zu verstehen, dass sich Wählerstimmen auf einmal entgegen dem Wählerwillen auswirken.

Das kann in der Form geschehen, dass abgegebene Stimmen letztendlich zur Folge haben, dass die Partei Sitze verliert anstatt diese zu bekommen, oder auch in der Form, dass nicht abgegebene Stimmen zu mehr Mandaten führen. Die Wählerstimme wirkt sich in diesen Fällen quasi gegen den Wählerwillen aus. Das klingt zunächst verwirrend deswegen wollen wir uns das einmal näher ansehen, wie es dazu kommen kann, obgleich unser Wahlsystem doch so toll klingt.

Bereits oben haben wir ja gesehen was Überhangmandate sind und wie diese entstehen können. Zunächst wird die Anzahl der Sitze die einer Partei bundesweit nach den Zweitstimmen zustehen ja über die Zweitstimmenergebnisse berechnet (Oberverteilung). Sodann werden die Plätze entsprechend den abgegebenen Zweitstimmen auf die Länder verteilt (Unterverteilung). Dann wird untersucht ob in dem Bundesland Direktmandate errungen wurden, die auf diese Plätze angerechnet werden. Die übrigen Sitze werden dann auf die Landesliste verteilt.

Die Überhangmandate, die ja entstehen, wenn in einem Bundesland mehr Direktmandate von einer Partei erworben wurden, als ihr eigentlich Plätze nach dem Zweitstimmenverhältnis zustehen, können nun im Zusammenhang mit der Unterverteilung der eigentlichen Plätze nach dem Zweitstimmenverhältnis zu einem negativen Stimmgewicht führen. Das wollen wir einmal genauer betrachten:

Wir nehmen mal an eine Partei X hat in einem Bundesland A ein Überhangmandat erhalten. Wir nehmen mal an sie hätte nach dem Zweitstimmenverhältnis eigentlich nur 2 normale Mandate, die sie mit Kandidaten besetzen könnten aber 3 Direktmandate.  Sie hat also eigentlich gar nicht genug Plätze nach dem Zweitstimmenverhältnis (nach der Unterverteilung) zur Verfügung, die sie mit ihren Gewinnern der Erststimmenwahl besetzen könnte. Wir nehmen weiter an, dass die Partei X im Bundesland B keine Überhangmandate hat, sondern lediglich 4 normale Mandate (Nach dem Zweitstimmenverhältnis- zu besetzen über die Landesliste).

Würden in diesem Bundesland A nun noch mehr Menschen zur Wahl gehen und der Partei X ihre Zweitstimme geben, dann würde sich eventuell die Unterverteilung der Plätze für eine Partei an die einzelnen Länder dahingehend ändern, dass auf dieses Bundesland A mehr normale Mandate entfallen als auf das Bundesland B.

Wir erinnern uns noch mal an die Unterverteilung, die die Zweitstimmenplätze auf die Landeslisten daran ausrichtet, wie viele Zweitstimmen in diesem Bundesland abgegeben wurden.

Wenn jetzt in Bundesland A mehr Zweitstimmen abgegeben werden ist es möglich, dass dieses auf Grund der nun mehr abgegebenen Zweitstimmen in dem Land ein normales Mandat mehr erhält als vorher. Nur würde sich das dann ja auf Grund des Überhangmandates nicht im Bundesland A auswirken. Die Partei würde im Bundesland A also keinen Platz dazu gewinnen. Auswirkungen kann aber die neue Unterverteilung in Bundesland B haben, das jetzt einen Platz verliert, weil in Bundesland A mehr Menschen gewählt haben als in Bundesland B. Dieses Bundesland B kann nun weil hier weniger Zweitstimmen abgegeben wurden als in Bundesland A einen Sitz, also ein normales Mandat verlieren. Das wäre ja nicht schlimm wenn der Sitz übergehen würde auf Bundesland A, wo ja die Stimmen nun mehr sind als vorher. Das wäre aber dann nicht der Fall, wenn wie hier beschrieben im Bundesland A ein Überhangmandat existiert. Dann würde also eine Partei in einem Bundesland (B) ein Mandat verlieren und in dem Bundesland (A), in dem nun aufgrund der erhöhten Wählerstimmen ein normales Mandat hinzutritt aber keinen weiteren Platz erhalten. Auf gut Deutsch: Ihr geht ein Sitz verloren- nämlich im Bundesland B. Zusammengefasst ist jetzt die Situation da, dass trotz insgesamt mehr Stimmen für eine Partei diese gar nicht mehr Plätze erhält, sondern insgesamt sogar weniger.

Genau das ist es, was das Bundesverfassungsgericht kritisiert. Es könne nicht sein, dass ein Zuwachs an Stimmen, auf welchen Umwegen auch immer, letztlich zu einem Mandatsverlust führe. Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl ist hier verletzt. Das Gericht führte hierzu aus:

„Die Erfolgswertgleichheit fordert, dass der Erfolgswert jeder Stimme, für welche Partei sie auch immer abgegeben wurde, gleich ist. Dies bedeutet auch, dass sie für die Partei für die sie abgegeben wurde, positive Wirkung entfalten können muss.“

Der Effekt des negativen Stimmgewichts ist auch keine zwangsläufige Folge einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl. Der Effekt hängt von verschiedenen Faktoren, vor allem aber von der Konzeption der Verrechnung der Erst- mit den Zweitstimmenmandaten ab, die das Wahlsystem als solche nicht determinieren.

Von verfassungswegen ist der Gesetzgeber nicht gehindert, eine mit der Personenwahl verbundene Verhältniswahl ohne den Effekt des negativen Stimmgewichts anzuordnen. Der Wahlfehler hat auch Mandatsrelevanz. Es handelt sich bei diesem Effekt nicht um eine sehr seltene Ausnahme, sondern er wirkt sich regelmäßig auf das Wahlergebnis aus, wenn bei einer Wahl zum Deutschen Bundestag Überhangmandate entstehen.

Das Problem ist also letztendlich nicht das Überhangmandat an sich, wobei das Gericht auch dieses kritisch beäugt. Viel Problematischer ist das Zusammenspiel der Überhangmandate mit dem Unterverteilungssystem der Listenplätze auf die Länder. Hierdurch kann der Effekt des negativen Stimmgewichts entstehen. Dieser Effekt musste nach Aussage des Gerichts behoben werden.

 

II. Aktuelle Gesetzeslage seit Mai 2013

Im Mai 2013 trat die Neuerung der Sitzverteilung, auf die sich die Fraktionen im Oktober 2012 geeinigt haben in Kraft.

a) Erststimme (Wahlkreisstimme)

Hierbei treten keine Änderungen auf. Die gewählten Direktmandate ziehen direkt ins Parlament ein.

b) wesentliche Änderung bei Verteilung der Zweitstimme

Rechtsgrundlage für die Verteilung der Zweistimmen stellt § 6 BWG dar. Das Zweitstimmenverfahren richtet sich dabei nach dem bereits oben erläuterten Sainte-Laguë/Schepers Verfahren. Die Verteilung erfolgt in zwei Stufen.

Zunächst werden die 598 Mindestsitze proportional zu ihrer Bevölkerungszahl nach dem Verfahren auf die Länder verteilt.

Danach werden die Sitze jedes Landes den Parteien anhand der Zahl der im jeweiligen Land erhaltenen Zweitstimmen zugeteilt. Von  der Sitzverteilung ausgeschlossen sind nach wie vor die Parteien, die weniger als 5 % der Zweitstimmen erhalten (sog. Sperrfrist, vgl. eingehende Erörterung oben) und nicht mindestens drei Direktmandate gewonnen haben. Eine Partei muss daher entweder 5% der Zeitstimmen erlangen oder drei Direktmandate gewinnen, um bei der Verteilung berücksichtigt zu werden.

Im Sonderfall der bereits oben erörterten Überhangmandate, erhält die entsprechende Partei auch diese gewonnen Mandate.

Auf zweiter Stufe wird die endgültige Sitzverteilung berechnet. Den Parteien werden hierbei ihre Sitze entsprechend ihrem Zweitstimmenergebnis zugeteilt.

Wesentliche Änderung im Gegensatz zur Rechtslage vor der Gesetzesform ist nun, dass die errechnete Sitzzahl gegebenenfalls durch die in der ersten Stufe bestimmte Mindestsitzzahl und die rechnerische Überhangmandate verändert wird. Um den Zweitstimmenproporzes zu wahren, wird der Bundestag korrektiv vergrößert. Das bedeutet, dass sich die Anzahl aller im Bundestag zu vergebenden Sitze in Form von sogenannten Ausgleichsmandaten so lange erhöht, bis das proportionale Größenverhältnis der Parteien gemäß Zweitstimmenergebnis wieder hergestellt ist.

c) Fazit

Zwar wurde das Problem des Effekts des negativen Stimmgewichts durch die Wahlgesetzreform behoben, denn durch das aktuelle Bundeswahlgesetz profitiert eine Partei nicht mehr von Überhangmandaten, da diese durch sogenannte Ausgleichsmandate für die anderen Parteien ausgeglichen werden. Dies hat jedoch zur Folge, dass sich die Zahl der Abgeordneten im Bundestag erheblich vergrößern kann.

2013 führte das neue Berechnungsverfahren dazu, dass 631 Abgeordnete in den neuen Bundestag einzogen. Zu der regulären Mindestzahl von 598 Abgeordnete kamen nach den Berechnungen des neuen Wahlrechts weitere vier Überhangmandate und 29 Ausgleichsmandate.

Schlusswort:

Für die Bundestagswahl 2017 war eine vorherige Reformierung des Bundeswahlgesetzes geplant. Dies galt jedoch bereits im März 2017 als gescheitert.

Wie die Gesetzeslage sich weiterhin entwickeln wird, bleibt wohl aber bis auf weiteres fraglich und es wird empfohlen die Entwicklung im Auge zu behalten. An dieser Stelle sollte lediglich für Verständnis der Problematik gesorgt werden, damit der Begriff des negativen Stimmgewichts verstanden wird und in Zusammenhang mit den Wahlrechtsgrundsetzen gesetzt werden kann.

Anmerkungen:

Zu dem Thema dieses Beitrages kann jederzeit ein vertiefender Crashkurs gebucht werden.

Das Thema ist ebenfalls Gegenstand des Repetitoriums.

Zur Ergänzung siehe auch die weiteren Beiträge für das Öffentliche Recht.

Vielen Dank, dass Sie diesen Beitrag gelesen haben. Wir hoffen, dass er Ihnen weiterhelfen oder zumindest Ihr Interesse wecken konnte. Hier finden Sie den Beitrag Wahlrechtsgrundsätze – Bundeswahlgesetz auf unserer Website Jura Individuell.

Einstweiliger Rechtsschutz nach § 80 a VwGO

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I. Einführung

II. Grundsätzlicher Umgang mit § 80 a VwGO

III. Allgemeines Prüfungsschema einstweiliger Rechtsschutz bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung nach §§ 80 V, 80 a VwGO

IV. Typische Klausurkonstellation mit Fallbeispielen zu § 80 a VwGO

I. Einführung

Es gibt in der VwGO verschiedene Arten des Eilrechtsschutzes. Einstweiliger Rechtsschutz ist über § 123 VwGO, § 80 V VwGO, § 80 a VwGO und im Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO zu erlangen.

Im Folgenden soll der vorläufige Rechtsschutz bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung nach § 80a VwGO näher betrachtet werden. Die Norm wurde mit der vierten Gesetzesänderung der Verwaltungsgerichtsordnung zum 01.01.1991 in die VwGO eingefügt.

In der Klausur ist meistens die einstweilige Anordnung nach § 123 VwGO von dem Verfahren nach § 80 V VwGO oder § 80 a VwGO abzugrenzen.

Die Abgrenzung erfolgt anhand der statthaften Klageart in der Hauptsache. Immer wenn in der Hauptsache eine Anfechtungsklage statthaft ist, finden §§ 80, 80 a VwGO Anwendung.

Alle übrigen Klagearten werden von § 123 VwGO erfasst. Die Rangfolge bestimmt § 123 V VwGO: wenn nach §§ 80, 80 a VwGO vorläufiger Rechtsschutz möglich ist, ist ein Antrag nach § 123 VwGO unzulässig.

Vorläufiger Rechtsschutz kommt nicht nur für den Adressaten eines belastenden Verwaltungsaktes in Betracht, sondern auch für einen Dritten, der von diesem Verwaltungsakt betroffen ist (Verwaltungsakt mit Doppelwirkung). Nach § 80 a VwGO kann auch der Drittbelastete vorläufigen Rechtsschutz erlangen.

Dabei ist § 80 a VwGO jedoch keine selbständige Regelung, sondern eine spezielle Bestimmung für Verwaltungsakte mit Doppelwirkung. Diese ergänzt die Regelungen nach § 80 VwGO  (siehe hierzu § 80 I Satz 2 VwGO, „… das gilt auch bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung“).

Bei der Doppelwirkung handelt es sich um ein Dreiecksverhältnis zwischen dem Adressaten eines Verwaltungsaktes, der handelnden Behörde und einem Dritten. Ein Verwaltungsakt mit Doppelwirkung ist ein VA, der zugleich einen Betroffenen begünstigt und einen anderen belastet.

§ 80 a VwGO ist unterteilt:

§ 80 a I VwGO handelt die Möglichkeiten des vorläufigen Rechtsschutzes bei einem begünstigenden Verwaltungsakt mit belastender Drittwirkung ab (z. B. Baugenehmigung), § 80 a II VwGO betrifft den vorläufigen Rechtsschutz bei einem den Adressaten belastenden VA mit begünstigender Drittwirkung (z. B. Abrissverfügung).

II. Grundsätzlicher Umgang mit § 80 a VwGO

Wichtig bei § 80 a VwGO ist es, richtig einzuordnen, um welche Variante des § 80 a VwGO es sich im Fall handelt, um dann die einschlägige Variante zu prüfen und festzustellen, was für Möglichkeiten für Eilrechtsschutz bestehen. Die Behörde und auch das Gericht haben unterschiedliche Möglichkeiten zu handeln und darauf muss entsprechend reagiert werden.

1. Möglichkeiten des VA-Begünstigten gegen einen Dritten

Der erste Fall ist der, dass nach § 80 a I VwGO ein Dritter einen Rechtsbehelf (Widerspruch, Anfechtungsklage) gegen den einen anderen begünstigenden VA einlegt.

Der Begünstigte hat dann folgende Möglichkeiten (- der Begünstigte ist hierbei der ursprünglich Begünstigte des Verwaltungsakts):

a. Nach § 80 a I Nr. 1 VwGO kann die Behörde auf Antrag des Begünstigten Sofortvollzug anordnen.

Ein Meinungsstreit besteht, ob die Behörde auch ohne Antrag des Begünstigten selbständig iS des § 80 II Nr. 4 VwGO handeln darf.  Eine Meinung nimmt an, dass § 80 a VwGO eine abschließende Sonderregelung darstellt, die § 80 II Nr. 4 VwGO verdrängt. Für § 80 a VwGO wäre das Antragsprinzip maßgebend und dem Begünstigten dürfe seitens der Behörde keine „Wohltat“ aufgedrängt werden.

Nach Kopp/Schenke spricht § 80 a I Nr. 1 VwGO (und auch § 80 a I Nr. 2, II VwGO) zwar ausdrücklich von einem Antragsrecht. Daraus dürfe aber nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass die Behörde nicht von sich aus die Vollziehbarkeit anordnen könne. Das Antragsrecht in § 80 a VwGO stelle nur den Rechtsschutzcharakter des in § 80 a VwGO geregelten Rechtsbehelfes klar, habe jedoch nicht die behördliche Befugnis zum Ausspruch der sofortigen Vollziehung zum Gegenstand.

Bei sofortiger Vollziehung durch die Behörde kann sich der Dritte nach § 80 a III VwGO mit einem Antrag auf Aufhebung der behördlichen Anordnung zur Wehr setzen.

b. Nach §§ 80 a III, I Nr. 1, 80 II 1 Nr. 4 VwGO kann der Begünstigte auch einen Antrag bei Gericht auf Anordnung des sofortigen Vollzuges stellen.

Beide Anträge, der bei der Behörde nach § 80 a I Nr. 1 VwGO und der bei Gericht nach § 80 a III VwGO sind nebeneinander möglich.

Eine Ausnahme besteht bei öffentlichen Abgaben oder Kosten im Sinne des § 80 II Nr. 1 VwGO: Nach §§ 80 a III 2, 80 VI VwGO kann ein Antrag bei Gericht erst eingereicht werden, wenn die Behörde einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung abgelehnt hat. § 80 a II 2 VwGO stellt eine Rechtsgrund- und keine Rechtsfolgenverweisung dar und ist daher nicht auf § 80 II Nr. 4 VwGO anwendbar.

c. Bei Aussetzung der sofortigen Vollziehung auf  den Antrag eines Dritten durch eine Behörde kann sich der Begünstigte bei Gericht nach § 80 a III, I Nr. 1 VwGO wehren. Hat das Gericht die Aussetzung angeordnet, kann der vom Verwaltungsakt Begünstigte mit einer Beschwerde nach § 146 I VwGO beim Oberverwaltungsgericht dagegen vorgehen.

2. Möglichkeiten des VA-Belasteten gegen einen Dritten

a. Ein Dreiecksverhältnis ist auch dann gegeben, wenn ein Adressat von einem Verwaltungsakt belastet und ein Dritter begünstigt wird. Der Adressat kann gegen einen von der Behörde auf Antrag des Dritten (§§ 80 a II, 80 II Satz 1 Nr. 4 VwGO) angeordneten Sofortvollzug gemäß § 80 a III VwGO bei Gericht einen Antrag auf Aussetzung stellen. Hat ein Gericht die Anordnung getroffen, kann er sich gemäß § 146 I VwGO beim Oberverwaltungsgericht mit der Beschwerde dagegen wehren.

Bei einem faktischen Vollzug durch die Behörde, kann der Adressat nach §§ 80 a III Satz 2, 80 V Satz 1 VwGO analog eine Feststellung durch das Gericht veranlassen, ob aufschiebende Wirkung bestand. Bestand eine aufschiebende Wirkung und die Behörde hat dies nicht beachtet, ist der Antrag begründet. Das Gericht nimmt bei einer faktischen Vollziehung keine Interessensabwägung vor, da kein gerichtlicher Ermessensspielraum besteht, wenn sich die Behörde rechtswidrig verhält, das heißt, sich der aufschiebenden Wirkung widersetzt.

b. Erhebt bei einem für ihn belastenden Verwaltungsakt mit begünstigender Drittwirkung der Adressat Widerspruch oder Anfechtungsklage und ist ein Fall des § 80 I Nrn. 1-3 VwGO gegeben, haben Anfechtungsklage und Widerspruch keine aufschiebende Wirkung. Der Adressat des belastenden Verwaltungsaktes kann sich dennoch gegen den Sofortvollzug wehren. Er kann bei der Behörde nach § 80 IV VwGO oder bei Gericht nach § 80 V VwGO einen Antrag auf Aussetzung des Sofortvollzugs stellen. Beide Anträge sind nebeneinander möglich. Eine Ausnahme besteht bei öffentlichen Abgaben und Kosten im Sinne des § 80 II Nr. 1 VwGO.

Ein solcher Antrag ist nach § 80 IV Satz 3 VwGO analog begründet, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes bestehen und die Vollziehung eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte.

3. Vorläufige Rechtsschutzmöglichkeiten des durch einen Verwaltungsakt belasteten Dritten

Dritter i.S. des § 80 a VwGO ist derjenige, der durch die Vollziehbarkeit eines an einen anderen gerichteten Verwaltungsakt belastet wird (nach Kopp/ Schenke).

Auch der Dritte, auf den der Verwaltungsakt des Begünstigten belastend wirkt, hat in diesem Dreiecksverhältnis Rechtsschutzmöglichkeiten. In Klausuren ist der Dritte meist der Nachbar im Baurecht.

Für den Antrag des Dritten auf einstweiligen Rechtsschutz muss unterschieden werden, ob die Behörde oder ein Gericht die sofortige Vollziehbarkeit angeordnet hat, oder ob der Verwaltungsakt kraft Gesetzes sofort vollziehbar ist. Die Regelung des § 80 a I Nr. 2 VwGO gilt aber nur für Verwaltungsakte, die nicht an den Dritten selbst adressiert sind.

a.  Auf Antrag des Dritten nach §§ 80 a I Nr. 2, 80 II Nr. 4 VwGO kann die Behörde die (sofortige) Vollziehung aussetzen und einstweilige Maßnahmen zur Sicherung der Rechte des Dritten treffen.

b.  Nach § 80 a III VwGO kann auch das Gericht auf Antrag nach den Absätzen 1 und 2 des § 80 a VwGO anstelle der Behörde Maßnahmen treffen oder über von der Behörde getroffene Maßnahmen entscheiden. Die Rechtsgrundlage für die Befugnis des Gerichts, die Entscheidung zu treffen, folgt dann aus §§ 80 a III, I, 80 II Nr. 4 VwGO.

Hat das Gericht selbst nach §§ 80 a III, I Nr. 1, 80 II 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung angeordnet, kann der Dritte dagegen Beschwerde nach § 146 I VwGO einlegen. Hier sind dann die Einlegungsfrist gemäß § 147 VwGO von zwei Wochen und die Begründungsfrist – innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung, § 146 IV VwGO – zu beachten.

aa. Faktischer Vollzug: Wenn ein durch einen Verwaltungsakt Begünstigter trotz gerichtlicher Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung oder gesetzlichen Eintritts der aufschiebenden Wirkung nach § 80 I VwGO die aufschiebende Wirkung nicht beachtet (faktischer Vollzug), kann das Gericht in analoger Anwendung von §§ 80 a III 2, 80 V 1  VwGO auf Antrag des Dritten durch Beschluss feststellen, dass der VA aufschiebende Wirkung hat. Die analoge Anwendung wird folgendermaßen begründet: Eine Regelung für einen faktischen Vollzug gibt es nicht. Die VwGO kennt nur Eilrechtsschutz für die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung, die in diesem Fall jedoch nicht weiterhilft, da die aufschiebende Wirkung bereits besteht. Den Fall einer rechtswidrigen Nichtbeachtung der aufschiebenden Wirkung regelt die VwGO nicht. Es liegt damit eine planwidrige Regelungslücke vor, denn erst recht muss bei einem faktischen Vollzug Eilrechtsschutz möglich sein. Die Interessenlage, die beim einstweiligen Rechtsschutz zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung zugrunde liegt, ist vergleichbar, sodass die für diesen Fall vorgesehenen Regelungen bei einem faktischen Vollzug analog zur Anwendung kommen.

bb. Darüber hinaus kann das Gericht analog §§ 80 a III, I Nr. 2, 80 V 3 VwGO die Verwaltung verpflichten gegenüber dem Begünstigten Sicherungsanordnungen, also Unterlassung oder Rückgängigmachung der Vollziehung, zu treffen.

Für die Klausur: Bei einer faktischen Vollziehung bedarf es keiner Interessensabwägung (wie sonst beim Prüfungsschema von 80 V VwGO), da bei der Entscheidung kein gerichtlicher Ermessensspielraum gegeben ist. Der faktische Vollzug ist rechtswidrig und zu Gunsten des rechtswidrig Handelnden darf nichts in die Waagschale geworfen werfen. Bei dem „Ob“ der Vollzugsanordnung ist das Gericht zur Anordnung verpflichtet.

c. Das häufigste Beispiel in Klausuren ist die Bauerlaubnis für einen Adressaten, gegen die der Dritte einen „Baustopp“ erreichen möchte. Nach § 212 a BauGB haben bei einer bauaufsichtlichen Zulassung (z. B. Baugenehmigung) Anfechtungsklage und Widerspruch des Dritten keine aufschiebende Wirkung. Bei dem Fall eines sofort vollziehbaren Verwaltungsaktes kraft Gesetztes muss der Dritte die Aussetzung der Vollziehung beantragen – nach § 80 a I Nr. 2 VwGO bei der Behörde oder nach § 80 a I Nr.2, III VwGO bei Gericht. Diese Anträge sind wieder nebeneinander möglich, die Ausnahme besteht wie oben bei Abgaben und Kosten gemäß § 80 II Nr. 1 VwGO.

Hält sich der vom Verwaltungsakt Begünstigte nicht an die Aussetzung des Sofortvollzugs und baut beispielsweise weiter, kann der Dritte nach § 80 a I Nr. 2 VwGO einstweilige Maßnahmen zur Sicherung seiner Rechte (zum Beispiel Stillegung des Bauvorhabens, Unterbindung des Betriebs einer Anlage) bei der Behörde beantragen oder nach § 80 a I Nr. 2, III VwGO bei Gericht.

Eine Rückgängigmachung eines bereits vollzogenen Verwaltungsaktes ist in analoger Anwendung der §§ 80 a III 2, 80 V 3 VwGO möglich.

3. Mögliche Rechtsschutzmöglichkeiten des durch den Verwaltungsakt begünstigten Dritten

Geht ein vom Verwaltungsakt mit begünstigender Drittwirkung belasteter Adressat mit einer Anfechtungsklage oder Widerspruch gegen den Verwaltungsakt vor, haben Anfechtungs- und Widerspruch aufschiebende Wirkung (§ 80 I Satz 1 VwGO). Der Verwaltungsakt darf nicht mehr vollzogen werden.

a. Nach § 80 a II VwGO kann der Dritte bei der Behörde einen Antrag auf Anordnung der sofortigen Vollziehung stellen. In der Klausur ist dann eine Interessensabwägung vorzunehmen: Die Behörde  ordnet die Sofortvollziehung dann an, wenn das Interesse des Dritten an der Vollziehung dem  Aussetzungsinteresse des vom Verwaltungsakt Belasteten überwiegt.

Hierbei kann der oben ausgeführte Meinungsstreit eine Rolle spielen, ob die Behörde von Amts wegen die sofortige Vollziehung anordnen darf (Argumente siehe oben).

b. Der Dritte kann auch bei Gericht nach § 80 a III 1 VwGO einen Antrag auf Sofortvollzug stellen. Der Antrag bei der Behörde und bei dem Gericht sind nebeneinander möglich. Eine Ausnahme besteht bei öffentlichen Abgaben und Kosten im Sinne des § 80 II Nr. 1 VwGO (siehe oben).

Auch bei dem Antrag bei Gericht gilt für die Klausur:

Eine Interessensabwägung findet statt. Das Gericht ordnet die Sofortvollziehung dann an, wenn das Interesse des Dritten an der Vollziehung dem  Aussetzungsinteresse des vom Verwaltungsakt Belasteten überwiegt.

c. Stellt bei einem kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Verwaltungsakt der belastete Adressat einen Antrag auf Aussetzung des Sofortvollzugs und hat damit Erfolg, kann der Dritte sich nach § 80 a II VwGO bei der Behörde oder nach § 80 a III, II VwGO bei Gericht dagegen zur Wehr setzen. Sein Antrag hat Erfolg, wenn sein Vollzugsinteresse das Aussetzungsinteresse des Belasteten überwiegt.

Bei einer gerichtlichen Aussetzung des Sofortvollzuges kann der begünstigte Dritte Beschwerde nach § 146 I VwGO beim Oberverwaltungsgericht erheben.

III. Allgemeines Prüfungsschema der Zulässigkeit des einstweiligen Rechtsschutzes bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung nach §§ 80 V, 80 a VwGO

A. Zulässigkeit

1. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs nach § 40 I VwGO, Gericht der Hauptsache (§ 80 V VwGO)

2. Statthaftigkeit:

Der Antrag ist statthaft, wenn die Anfechtungsklage in der Hauptsache zulässig, § 80 V VwGO

3.  Antragsbefugnis, § 42 II VwGO analog

4. Rechtschutzbedürfnis

Nach § 80 VI Satz 1 VwGO ist ein behördliches Verfahren in § 80 II Nr. 1 VwGO notwendig. Im Umkehrschluss ist ein solches behördliches Verfahren in den Fällen des § 80 II Nrn. 2, 3 und 4 VwGO nicht notwendig.

b. Der Verwaltungsakt ist noch anfechtbar und noch nicht erledigt.

c. Anfechtungsklage oder Widerspruch muss noch nicht erhoben, aber noch möglich sein, siehe auch § 80 V Satz 2 VwGO.

IV. Typische Klausurkonstellation mit Fallbeispielen zu § 80 a VwGO

Meist ist in Klausuren § 80 a III VwGO zu prüfen.

Typischerweise möchte ein Nachbar im Baurecht gerichtlich gegen eine Baugenehmigung vorgehen.

In den Folgenden Fallbeispielen soll keine komplette Lösung aufgezeigt, sondern veranschaulicht werden, wie § 80 a VwGO in Klausuren eingebaut wird.

(1) Fallbeispiel:

Gastronom G ist Eigentümer eines unbebauten Grundstücks in einem allgemeinen Wohngebiet (§ 4 BauNVO) der Stadt A. Er möchte einen Nachtclub eröffnen und beantragt eine Baugenehmigung, die er erhält. Er beauftragt eine Baufirma, die mit den Bauarbeiten beginnt. Der Eigentümer des bebauten Nachbargrundstücks N erfährt erst von dem Bauvorhaben mit Beginn der Bauarbeiten. N sieht dadurch seinen Schlaf gefährdet und möchte unverzüglich gegen das Bauvorhaben mit einem Antrag auf einstweiligen Rechtschutz beim zuständigen Verwaltungsgericht vorgehen.

Zulässigkeit des Antrags nach §§ 80 a VwGO

1.Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs

Der Verwaltungsrechtsweg ist eröffnet, da es sich bei den streitentscheidenden Normen um solche des öffentlichen Baurechts handelt.

2. Statthafte Antragsart

Die statthafte Antragsart richtet sich nach dem Klagebegehren in der Hauptsache. N möchte gegen die an G erteilte Baugenehmigung vorgehen. In der Hauptsache wäre daher eine Anfechtungsklage statthaft. Der vorläufige Rechtsschutz richtet sich daher gemäß § 123 V VwGO nach den §§ 80 V, 80 a VwGO. Nach §§ 212 a I BauGB, 80 II Satz 1 Nr. 3 VwGO hat eine Klage gegen eine Baugenehmigung keine aufschiebende Wirkung. N muss daher nach § 80 a III, I Nr. 2 VwGO die Aussetzung der Vollziehung der Baugenehmigung beantragen.

Ein Antrag nach § 80 a III, I Nr. 2 VwGO ist daher statthaft.

3. Antragsbefugnis, § 42 II VwGO analog

Die Antragsbefugnis verhält sich akzessorisch zur Anfechtungsklage nach § 42 II VwGO analog.

Die Adressatentheorie hilft hier nicht weiter, da N als Dritter nicht Adressat des Verwaltungsaktes ist. Bei einem Verwaltungsakt mit Doppelwirkung, bei welchem der Adressat begünstigt und der Dritte belastet ist, besteht für den Dritten Antragsbefugnis, wenn die Möglichkeit der Verletzung einer drittschützenden Norm besteht. Im Baurecht sind nachbarschützende Vorschriften drittschützend.

a. Nachbarn im Sinne des Baurechts sind nur die Eigentümer und sonst dinglich Berechtigte. Hierbei sind neben den unmittelbaren Grenznachbarn auch diejenigen umfasst, deren Grundstücke im Einwirkungsbereich der baulichen Anlage liegen.

N ist Nachbar.

b. N muss sich zusätzlich noch auf eine drittschützende Norm berufen können.

In Klausuren ist meist in der BauNVO nach einer passenden Norm zu suchen. Die Normen der BauNVO sind drittschützend. Dabei kann die Schutznormtheorie herangezogen werden, nach welcher eine Norm drittschützend ist, wenn sie nicht ausschließlich dem Allgemeininteresse, sondern auch dem Schutz von Individualinteressen dient.

Innerhalb des Prüfungspunktes „drittschützende Norm“ muss in Klausuren noch die Art und das Maß der baulichen Nutzung geprüft werden. Weiterhin kann an dieser Stelle die „Nachbarbeteiligung“ im Baurecht einen Problemschwerpunkt darstellen. Im vorliegenden Beispielsfall werden diese Punkte nicht geprüft, da lediglich die Einarbeitung des § 80 a VwGO in die Zulässigkeit dargestellt werden soll.

 N ist klagebefugt.

4. Zuständiges Gericht ist gem. § 80 V 1 VwGO das Gericht der Hauptsache, bei einem Antrag nach § 80 V VwGO gibt es keine Frist.

5. Rechtsschutzbedürfnis

In Klausuren ist bei diesem Prüfungspunkt ein oben noch nicht thematisierter Meinungsstreit zu eröffnen:

a. Fraglich ist, ob N zunächst bei der zuständigen Behörde einen Antrag auf Aussetzung der sofortigen Vollziehung zu stellen hat, da § 80 a III 2 VwGO auf § 80 VI VwGO verweist. Nach herrschender Ansicht handelt es sich bei dem Verweis um ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers. Nur bei öffentlichen Abgaben oder Kosten nach § 80 II Nr. 1 VwGO ist der vorherige Antrag bei der Behörde erforderlich.

Das Rechtsschutzbedürfnis des N ist gegeben. Er kann sein Ziel nicht auf andere Weise schneller und effektiver erreichen.

b. Widerspruch

Hier kommt es darauf an, ob im  jeweiligen Bundesland ein Widerspruchsverfahren nach § 68 VwGO erforderlich ist. In Bayern ist das Widerspruchsverfahren abgeschafft ( s. § 68 S. 2 VwGO, Art. 15 II AGVwGO). Ansonsten ist der Dritte jedenfalls nicht verpflichtet Widerspruch vor Ablauf einer Widerspruchsfrist einzulegen, da dies Rechtsbehelfsfristen verkürzen würde. Nach § 80 V 2 VwGO ist der Antragsteller nicht verpflichtet eine Anfechtungsklage vor einem Antrag nach § 80 V VwGO zu erheben. Dies lässt sich auch auf den Widerspruch anwenden.

(2) Fallbeispiel Abwandlung:

Wie im Grundfall, N hat aber mit Antrag beim zuständigen Landratsamt erreicht, dass der Vollzug der Baugenehmigung des G ausgesetzt wird.  Daraufhin wendet sich G an das Verwaltungsgericht und erreicht dort in einem Verfahren, bei welchem N beigeladen ist, dass er doch mit dem Bau beginnen kann. N möchte gegen den Beschluss des Gerichts vorgehen. Er wendet sich an Rechtsanwalt R.

Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts:

1. Zuständigkeit

Über die Beschwerde entscheidet nach §§ 46 Nr. 2, 146 I VwGO das OVG.

2. Zulässigkeit der Beschwerde

Die Beschwerde ist nach § 146 I VwGO statthaft, da sie sich gegen einen Beschluss des Verwaltungsgerichts nach § 80 a III VwGO richtet.

N als Beschwerdeführer ist durch die angegriffene Entscheidung als Beigeladener des Ausgangsverfahrens materiell beschwert. Er ist durch die Vollziehbarkeit der Baugenehmigung in seinen rechtlichen Interessen berührt.

3. Begründetheit der Beschwerde

Die Beschwerde ist begründet, wenn die angegriffene Entscheidung fehlerhaft ist und das Verwaltungsgericht bei richtiger Rechtsanwendung den Antrag auf Wiederherstellung der Vollziehbarkeit der Baugenehmigung hätte ablehnen müssen.

a. Zulässigkeit des Antrags nach § 80 a III VwGO

b. Begründetheit des Antrags nach § 80 a III VwGO

Nach §§ 80 a III, 80 V VwGO kann das Gericht auf Antrag des Adressaten einer Baugenehmigung bei erhobener Nachbarklage und Aussetzung der Vollziehung durch die Behörde, die sofortige Vollziehbarkeit der Baugenehmigung wiederherstellen. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung. Für die Entscheidung gelten dieselben Grundsätze wie für § 80 V VwGO.

Es kommt daher auf die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache, der Anfechtungsklage, an.

aa. Formelle Rechtmäßigkeit der Außervollzugsetzung

bb. Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage in der Hauptsache

aaa. Zulässigkeit der Anfechtungsklage

– Form

– Frist

– Widerspruchsverfahren, § 68 VwGO

– Klagebefugnis: N ist zwar nicht Adressat des Verwaltungsaktes, er ist jedoch Eigentümer des Nachbargrundstücks und kann sich auf nachbarschützende Vorschriften berufen.

bbb. Begründetheit der Anfechtungsklage

–  Passivlegitimation: 78 I VwGO

– Die Klage ist nach § 113 I 1 VwGO begründet, wenn die Baugenehmigung des G rechtswidrig ist.

Die Baugenehmigung könnte gegen die Wahrung des Gebietscharakters nach § 4 BauNVO und den Anspruch auf Rücksichtnahme verstoßen.

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Fristen im öffentlichen Recht

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Die Berechnung von Fristen ist so gut wie in jeder Klausur des öffentlichen Rechts gefragt. Auf den ersten Blick oft einfach – in der Klausurhektik ein Stolperstein, da Fehler selten verziehen werden.
Es empfiehlt sich grundsätzlich bei Fristen in zwei Schritten vorzugehen. Als erstes muss das fristauslösende Ereignis festgestellt werden, als zweites die konkrete Fristberechnung durchgeführt werden.

Die zitierten Normen des VwZG (Sartorius 110) müssen ggf. durch die landesspezifischen Normen (z.B. VwZVG in Bayern, ThürVwZVG) ersetzt werden.

1. Schritt: Bestimmung des fristauslösenden Ereignisses

Grundsätzlich ist die Klagefrist in § 74 VwGO geregelt. § 74 I VwGO regelt die Frist für die Erhebung einer Anfechtungsklage. Nach § 74 II VwGO ist § 74 I VwGO auch auf die Verpflichtungsklage anwendbar.

Fristauslösendes Ereignis ist nach § 74 I VwGO entweder die Zustellung des Widerspruchsbescheids oder die Bekanntgabe des Verwaltungsaktes.

a. Regelungen, wann ein Widerspruch zugestellt ist, finden sich in § 73 III S. 2 VwGO i.V.m. dem VwZG.

b. Die Bekanntgabe des VA ist in § 41 VwVfG geregelt.
§ 41 VwVfG geht dabei von dem Grundfall der Übermittlung des VA durch einfachen Brief aus. Ein VA kann aber zum Beispiel auch per Einschreiben oder Postzustellungsurkunde übermittelt werden. Nach § 41 V VwVfG ist für diese Fälle das VwZG anwendbar.

Jura Individuell-Hinweis: Welche Art der Zustellung in der Klausur vorliegt, lässt sich stets dem Sachverhalt entnehmen.

aa. Nach § 41 II S. 1 VwVfG gilt für einem mit einfachem Brief durch die Post übermittelten VA die sog. „3-Tages-Fiktion“. Danach gilt der VA grundsätzlich als am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post zugestellt, unabhängig vom tatsächlichen Zugang. Das heißt, dass ein früherer Zeitpunkt des Zugangs (beispielsweise ein Tag nach Aufgabe zur Post) unerheblich ist, es gilt die Fiktion des dritten Tages.

Eine Ausnahme von der „3-Tages-Fiktion“ besteht jedoch dann, wenn der VA nicht innerhalb von den drei Tagen zugeht, sondern später, dann gilt der tatsächliche Zugang. Das heißt, dass ein VA, der erst am fünften Tag nach Aufgabe zur Post zugeht, auch erst zu diesem Zeitpunkt bekanntgegeben wird.

Jura Individuell-Hinweis: Fällt der Zugang nach der „3-Tages-Fiktion“ auf einen Samstag, Sonntag oder gesetzlichen Feiertag, so ist – wenn der tatsächliche Zugang innerhalb der ersten 3 Tage nach Postaufgabe erfolgt – dieser Tag maßgeblich! § 222 II ZPO ist auf die „3-Tages-Fiktion“ nicht anwendbar (§ 222 ZPO ist nur für ein Fristende maßgeblich, die „3-Tages-Fiktion“ wirkt sich aber gerade nur auf den Fristbeginn aus).

bb. Das VwVfG sieht zur Zustellung mehrere Varianten vor. (Wie oben bereits ausgeführt verweist § 41 V VwVfG in das VwZG.)

(1) Zustellung mittels Zustellungsurkunde (PZU) nach § 3 VwZG

Bei Zustellung durch die Post mittels PZU gilt als fristauslösendes Ereignis der Tag der Zustellung.
In diesem Fall übergibt die Behörde der Post den Zustellungsauftrag, das zuzustellende Dokument in einem verschlossenen Umschlag und einem vorbereiteten Vordruck einer Zustellungsurkunde, vgl. § 3 I VwZG. Das Dokument wird dann entweder vom Postboten persönlich übergeben oder im Wege der Ersatzzustellung nach § 3 II S. 1 VwZG i.V.m. §§ 177 ff. ZPO z.B. in den Briefkasten eingelegt oder am Arbeitsplatz übergeben. Das Datum der Zustellung wird auf einem entsprechenden Feld auf der Zustellungsurkunde notiert.

Die Möglichkeit der Ersatzzustellung ist in Klausuren oft als kleineres Problem eingebaut: Beispielsweise legt der Postbote den Brief in den Briefkasten, da der Empfänger nicht zu Hause ist, obwohl er ihn eigentlich hätte übergeben müssen. Hier gilt es die entsprechende Anwendung der §§ 177 ff. ZPO über die Verweisung im VwVG zu erkennen!

Jura Individuell-Hinweis: Eine Zustellung per PZU ist den Behörden vorbehalten! Im Übrigen kann die Zustellung per PZU vom Empfänger nicht verweigert werden, weshalb z.B. die Gerichte ihre Ladungen stets per PZU verschicken.

(2) Zustellung mittels Einschreiben nach § 4 VwZG

Die Zustellung mittels Einschreiben kann auf drei Arten erfolgen, wovon jedoch nur zwei in § 4 I VwZG gesetzlich geregelt sind: Das Einschreiben mittels Übergabe und das Einschreiben mittels Rückschein. Das häufig in der Praxis verwendete Einwurfeinschreiben ist gesetzlich nicht normiert.

Beim Einschreiben mittels Übergabe gilt zur Bestimmung des fristauslösenden Ereignisses nach § 4 II S. 2 VwZG wieder die „3-Tages-Fiktion“.

Bei Einschreiben mit Rückschein ist der Tag maßgeblich, der auf dem Rückschein als Tag der Zustellung vermerkt ist, vgl. § 4 II S. 1 VwZG.

Das gesetzlich nicht geregelte Einwurfeinschreiben wird wie ein einfacher Brief behandelt.

(3) Zustellung mittels Empfangsbekenntnis nach § 5 VwZG

Bei Zustellung mittels Empfangsbekenntnis wird in der Regel dem Empfänger das Dokument persönlich ausgehändigt. Dieser hat ein mit Datum versehenes Empfangsbekenntnis zu unterschreiben.

Als fristauslösendes Ereignis gilt das Datum des Empfangsbekenntnis.

Auch hier gelten über § 5 II S. 1 VwZG die Regelungen über die Ersatzzustellung nach §§ 177 ff. ZPO.

2. Schritt: Konkrete Fristberechnung

Nach § 57 I VwGO beginnt die Frist mit der Zustellung zu laufen. § 57 II VwGO verweist über § 222 I ZPO in die §§ 187 ff. BGB.

a. Fristbeginn

Nach § 57 II VwGO i.V.m. § 222 I ZPO, § 187 I BGB wird, da es sich bei der Frist um eine Ereignisfrist handelt, zur Bestimmung des Fristbeginns der Tag nicht mitgezählt, in den das Ereignis fällt.

b. Fristende

Das Fristende bestimmt sich nach § 57 II VwGO i.V.m. § 222 I ZPO, § 188 II BGB (meist Monatsfrist nach § 74 I S. 2 VwGO).

Beispiel (Monatsfrist): Bekanntgabe des VA am 01.07.2013, Fristbeginn demnach 02.07.2013 um 0.00 Uhr, Fristende am 01.08.2013 um 24.00 Uhr.

c. Verschiebung Fristende

Nach § 222 II ZPO verschiebt sich das Fristenden auf den nächsten Werktag, wenn der letzte Tag der Frist ein Samstag, Sonntag oder gesetzlicher Feiertag ist. § 222 II ZPO ist wieder über § 57 II VwGO  anwendbar.

Jura Individuell- Hinweis: Achtung! § 222 II ZPO ist lex specialis gegenüber § 193 BGB. Kommt man in die ZPO, hat § 222 II ZPO Vorrang und es ist nicht auf § 193 BGB abzustellen.

Beispiel (Monatsfrist): Bekanntgabe des VA am 01.08.2013, Fristbeginn demnach 02.08.2013 um 0.00 Uhr, Fristende eigentlich Sonntag 01.09.2013 um 24.00 Uhr, somit tatsächlich 02.09.2013 um 24.00 Uhr wegen § 222 II ZPO.

Jura Individuell-Hinweise: Bei den Klausuren ist es wichtig, die genaue Uhrzeit mit zu zitieren!

Bezüglich der Verschiebung des Fristendes nach § 222 II ZPO findet sich in Klausuren die beliebte Konstellation des Fristendes am Karfreitag. Fristende ist dann immer erst der Dienstag nach Ostern!

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Ermessen und Verhältnismäßigkeit

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1. Teil: Einführung

Um der Vielseitigkeit unterschiedlicher Lebenssachverhalte gerecht werden zu können, bedarf jeder Fall der individuellen Beurteilung. Der Gesetzgeber kann jedoch bei einem Gesetzesentwurf nicht alle erdenklichen Möglichkeiten der Fallgestaltung vorhersehen und konkret regeln. Aus diesem Grund hat er sich dafür entschieden, die individuelle Beurteilung teilweise in die Hände der Verwaltung zu legen. Indem er der Verwaltung auf der Rechtsfolgenseite einer Norm Ermessen einräumt, kann diese eigenständig – innerhalb des gesetzlichen Rahmens – über ihr Tätigwerden entscheiden. Damit liegt es in ihrer Hand, „ob“ sie tätig werden möchte (= Entschließungsermessen). Bejaht sie dies,  entscheidet sie über das „wie“ ihres Tätigwerdens (= Auswahlermessen). Durch die Freiheit der Verwaltung nicht in jedem Fall handeln zu müssen, können unnötige Eingriffe verhindert. Dies trägt auch dem Übermaßverbot Rechnung.

Gerichtliche Überprüfung beim Ermessen

Der Nachteil der Ermessenseinräumung besteht im Verlust der Rechtssicherheit. Der Bürger kann nicht mehr allein durch das Lesen des Gesetzestextes die Entscheidung der Verwaltung vorhersehen. Um eine Rechtsunsicherheit im Ergebnis zu vermeiden, hat der Gesetzgeber dem Bürger mit § 114 VwGO die Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung der Ermessensentscheidung eingeräumt.

Umfang der richterlichen Überprüfung

Diese Überprüfung muss allerdings in einem engen Rahmen stattfinden. Sie konzentriert sich daher allein darauf, ob der Verwaltung bei ihrer Entscheidung Fehler unterlaufen sind. Eine weitergehende Überprüfung hätte andernfalls zur Folge, dass ein Gericht über einen individuellen Sachverhalt entschiede. Dessen Hintergründe sind ihm jedoch ebensowenig bekannt wie ihm vergleichbare Fälle vertraut sind.

Es käme zudem zu einer Vermischung der Gewaltenteilung. Denn die Judikative (das Gericht) träfe durch den Urteilstenor eine Entscheidung anstelle der Exekutive (der Verwaltung). Um das in Art. 20 III GG verankerte Rechtsstaatsprinzip zu gewährleisten, muss diese Vermischung jedoch verhindert werden. Insofern steht es dem Gericht nicht zu, die Richtig- oder Unrichtigkeit der verwaltungsrechtlichen Entscheidung an sich zu überprüfen. Es darf vielmehr nur kontrollieren, ob die Verwaltung die Gesetze eingehalten oder Fehler bei der Entscheidung gemacht hat.

2. Teil: Kommentierte Gliederung

Die gerichtliche Überprüfung erfolgt im Rahmen des Studiums durch ein juristisches Gutachten. Aber obwohl zu dem Thema Ermessen mannigfaltige Lektüre vorhanden ist, fällt den meisten Studierenden die saubere und strukturierte Prüfung des Ermessens schwer. Die folgende, kommentierte Gliederung dient als Hilfestellung. Sie soll die Grundsätze der Ermessensprüfung besser verständlich machen, sodass grundlegende Fehler nicht mehr unterlaufen. In einer Klausur und einem Gutachten sind verständlicherweise nur die Punkte anzusprechen, die für den konkreten Fall tatsächliche Relevanz aufweisen.

(Zur Repetition befindet sich das Schema zum Aufbau des Ermessens HIER noch einmal in unkommentierter Version.)

A. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs

B. Zulässigkeit

C. Begründetheit

Nachdem die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs feststeht und man die Zulässigkeit der Klage bejaht hat, gelangt man zur Prüfung der Begründetheit. Dort ist zunächst wegen des Grundsatzes des Gesetzesvorbehalts bei belastenden Verwaltungsakten eine Ermächtigungsgrundlage zu suchen, auf der die Entscheidung der Verwaltung beruht. In einem zweiten Schritt prüft man die verwaltungsrechtliche Entscheidung auf ihre formelle Rechtmäßigkeit hin. Schließlich folgt in einem dritten Schritt die Prüfung der materiellen Rechtmäßigkeit.

I. Ermächtigungsgrundlage

II. Formelle Rechtmäßigkeit

III. Materielle Rechtmäßigkeit

Die Überprüfung der materiellen Rechtmäßigkeit der verwaltungsrechtlichen Entscheidung erfolgt grundsätzlich in zwei Schritten. Zunächst wird der Tatbestand der Ermächtigungsgrundlage untersucht. Sodann betrachtet man in einem weiteren Schritt die Einhaltung der Rechtsfolge.

1. Tatbestand

2. Rechtsfolge

Ermessensentscheidung oder gebundene Entscheidung?

Auf der Rechtsfolgenseite sollte kurz deutlich gemacht werden, ob es sich bei der zugrundeliegenden Ermächtigungsgrundlage und deren Rechtsfolge um eine gebundene Entscheidung oder um eine Ermessensvorschrift handelt. Dies lässt sich anhand des Gesetzeswortlauts erkennen.

Befindet sich in der Norm die Anordnung, dass bei gegebenem Tatbestand die Behörde handeln „muss“, dann kann die Behörde über die Rechtsfolge nicht frei entscheiden. Sie ist damit gebunden.

Enthält die Norm hingegen die Formulierung „kann“ oder „darf“, stehen der Behörde verschiedene Handlungsalternativen zu. Aus diesen kann sie frei wählen. Insoweit besteht freies, pflichtgemäßes Ermessen.

Intendiertes Ermessen?

Überdies existiert noch das rechtlich gebundene oder auch „intendierte“ Ermessen. Bei dieser Form handelt es sich grundsätzlich um eine gebundene Entscheidung, von der die Behörde in atypischen Fällen abweichen darf. Dann hat sie den Grund ihres Abweichens wegen § 39 I 3 VwVfG allerdings besonders zu begründen. Diese Fälle erkennt man häufig an der Formulierung „soll“ im Normentext. Nach der Rechtsprechung kann jedoch auch bei einer „Kann-“Vorschrift im Einzelfall von einer gebundenen Vorschrift, quasi einer „Soll-Vorschrift“, auszugehen sein. In diesen Fällen darf die Behörde – wie beim rechtlich gebundenen Ermessen – lediglich in atypischen Fällen Ermessen ausüben.

Eingeschränkte Überprüfbarkeit auf Ermessensfehler, § 114 VwGO

Liegt eine Ermessensvorschrift vor, so ist im nächsten Schritt zu prüfen, ob die Behörde ihr Ermessen pflichtgemäß ausgeübt hat. Wie in der Einführung dargestellt, erfolgt diese Überprüfung im Sinne des § 114 VwGO nur eingeschränkt. Es ist lediglich zu überprüfen, ob bei der Ausübung des Ermessens Ermessensfehler unterlaufen sind.

a.) Ermessensfehler

Insgesamt sind drei verschiedene Arten von Ermessensfehlern zu unterscheiden:

  • der Ermessensnichtgebrauch (aa)),
  • die Ermessensüberschreitung (bb)) und
  • der Ermessensfehlgebrauch (cc)).

Es ist zwar durchaus möglich, dass in einer Klausur verschiedene Ermessensfehler zu prüfen sind und auch vorliegen. Hinsichtlich ein und desselben Sachverhalts ist das kumulative Vorliegen der Ermessensfehler jedoch ausgeschlossen. Denn wenn die Behörde von ihrem Ermessen keinen Gebrauch gemacht hat, kann sie es nicht auch gleichzeitig überschritten oder fehlerhaft ausgeübt haben.

In einer Klausur ist damit immer nach dem gleichen Schema vorzugehen. Erst wenn der vorhergehende Fehler nicht einschlägig ist, kann auf die nächste Ebene übergegangen werden. Im Gutachten ist der Aufbau regelmäßig nicht zu erklären. Auch müssen völlig abwegige Fehler nicht angeprüft werden.

aa.) Ermessensnichtgebrauch

Als Erstes ist immer zu überlegen, ob ein Ermessensnichtgebrauch vorliegt. Dies ist immer dann der Fall, wenn die Behörde gar nicht bemerkt hat, dass ihr vom Gesetzgeber Ermessen eingeräumt wurde. Die Verwaltung geht in solchen Fällen also davon aus, in ihrer Entscheidung gebunden zu sein.

Jura-Individuell-Tipp:

Liegt ein Ermessensnichtgebrauch vor, ist dieser grundsätzlich sehr deutlich im Klausursachverhalt verankert. Es sind dann Sätze zu lesen wie

  • „die Behörde war der Ansicht handeln zu müssen“ oder
  • „der VA ist zu verhängen, wir haben leider keine andere Möglichkeit“.

Denkbar ist aber auch, dass der Ermessensnichtgebrauch selbst herausgearbeitet werden muss. Ein Indiz für dessen Vorliegen kann beispielsweise eine nicht vorhandene Begründung eines VAes oder ein generell unreflektiertes Verhalten der Behörde sein.

Ein klassisches Klausurbeispiel für den Ermessensnichtgebrauch ist das Nichterkennen, dass § 48 II VwVfG eine Ermessensvorschrift und keine gebundene Entscheidung ist. Auch in diesem Versammlungsrechtfall ist ein Ermessensnichtgebrauch im ersten Teil vertretbar und wird daher ausführlich geprüft.

Ermessensreduzierung auf Null

Liegt ein Fall des Ermessensnichtgebrauchs vor, ist unbedingt im Folgenden – bei nicht völliger Abwegigkeit – auf eine etwaige Ermessensreduktion auf Null einzugehen. Eine Ermessensreduktion auf Null meint, dass der Behörde zwar grundsätzlich für ihre zu wählende Rechtsfolge ein Ermessen zusteht. Im konkreten Fall kann sie jedoch aus bestimmten Gründen lediglich eine richtige Entscheidung treffen, womit sie in ihrer Rechtsfolgenbestimmung gebunden ist.

Heilung von Ermessensfehlern

Im Prinzip kann man sich die Ermessensreduktion als eine Art „Heilungsvorschrift“, vergleichbar mit § 45 VwVfG, vorstellen.

Beispiel: Die Behörde macht von ihrer Ermessensausübung keinen Gebrauch. Ihr Ermessen war aber ohnehin auf Null reduziert. Im Ergebnis hat sie daher die richtige Rechtsfolge verhängt.

Hier ist der Ermessensnichtgebrauch unbeachtlich. Zwar läge grundsätzlich ein Ermessensfehler vor. Er wirkt sich aber nicht auf das Ergebnis aus. Der Fehler wird also letztlich geheilt. Die Rechtsfolge ist richtig und das gesamte Verhalten – bei Vorliegen aller weiteren Voraussetzungen – materiell rechtmäßig.

Fälle der Ermessensreduzierung

Es bleibt zu klären, in welchen Fällen eine Ermessensreduktion überhaupt angenommen werden kann. Grundsätzlich kommt die Ermessensreduktion auf Null bei jedem Ermessensfehler in Betracht. Es werden jedoch jeweils unterschiedliche Voraussetzungen an sie gestellt. Ein systematisches Verständnis und eine saubere Subsumtion sind daher von hoher Wichtigkeit.

Auf der Fehlerebene des Ermessensnichtgebrauchs kann eine Ermessensreduktion vorliegen, wenn ein erheblicher Eingriff in die Rechtsgüter des Art. 2 I GG (Körper, Leben) oder Art. 14 I GG (bei Setzung unabänderlicher Konsequenzen für das Eigentum) gegeben ist. In einem solchen Fall wäre es allerdings nicht rechtmäßig, trotz eines Ermessensnichtgebrauchs die unreflektierte Rechtsfolge der Verwaltung zu heilen. Wegen der besonderen Wertigkeit dieser Rechtsgüter ist vielmehr eine durchdachte, ausgewogene Entscheidung notwendig. Bei Verletzung anderer Rechtsgüter und Grundrechte scheidet eine Ermessensreduktion auf Null im Hinblick auf den Ermessensnichtgebrauch von vornherein aus.

bb.) Ermessensüberschreitung

Wurde bei der Entscheidung Ermessen grundsätzlich ausgeübt, stellt sich die Frage, ob ein Ermessensfehler in Form der Ermessensüberschreitung vorliegen könnte. Eine Ermessensüberschreitung ist anzunehmen, wenn sich die Behörde nicht im Rahmen ihres pflichtgemäßen Ermessens hält. Vielmehr wählt sie durch ihre Ermessensentscheidung eine Rechtsfolge, die eine Rechtsverletzung des Adressaten zur Folge hat. Oftmals handelt es sich hierbei um eine Grundrechtsverletzung.

Grundrechtsverletzung

Verhängt die Behörde (wie in diesem Falleine Rechtsfolge, die den Adressaten des VAes in seinem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit tangiert, ist im Rahmen der Ermessensüberschreitung zu prüfen, ob Art. 8 I GG verletzt wurde. Häufig sieht man in Klausurlösungen, dass diese Prüfung sehr oberflächlich stattfindet. Manchmal wird die Prüfung sogar in die – später noch folgende – Verhältnismäßigkeitsprüfung eingebunden. Beides sollte jedoch vermieden werden. Es ist vielmehr eine ausführliche Prüfung des Grundrechts nach dem dafür vorgesehenen Prüfungsschema (bei Freiheitsgrundrechten: Schutzbereich, Eingriff, Rechtfertigung) vorzunehmen. Nur wenn sich hier eine Verletzung des Grundrechts ergibt, kann eine Ermessensüberschreitung vorliegen. Scheitert die Prüfung an einem Punkt und ist auch kein anderes Rechtsgut bzw. Grundrecht verletzt, scheidet eine Ermessensüberschreitung aus.

Verletzung einfachen Rechts

Zwar kommt es in Klausuren eher seltener vor. Eine Rechtsverletzung kann sich jedoch auch aufgrund eines Verstoßes gegen einfaches Recht ergeben. In einem solchen Fall ist dann keine Grundrechtsverletzung, sondern eine ausführliche Prüfung des einfachen Rechts vorzunehmen. Damit kann es letztlich im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Klausur auch zu Prüfungen aus dem Zivilrecht oder dem Strafrecht kommen.

Ermessensreduzierung auf Null

Hat eine Ermessensüberschreitung durch die Behörde stattgefunden, ist im Anschluss wiederum – zumindest gedanklich – die Ermessensreduktion auf Null zu beachten. Hat die Verwaltung unter Überschreitung ihres pflichtgemäßen Ermessens eine Rechtsfolge getroffen, könnte dieser Fehler unbeachtlich sein, sofern sie bei ermessensfehlerfreier Entscheidung die überragend wichtigen Rechtsgüter des Art. 2 I GG (Körper und Leben) verletzt hätte.

Beispiel

Eine Behörde verbietet eine Versammlung oder verhängt gewisse Maßnahmen. Hierbei überschreitet sie ihr pflichtgemäßes Ermessen. Letztlich waren die Maßnahmen aber zum Schutz von Körper oder Leben unabdingbar. Denn die stattfindende Versammlung hätte anderenfalls Menschen verletzt oder gar getötet. In diesem Fall war die Behörde in ihrer Entscheidung gebunden. Ihr Ermessen war auf Null reduziert. Trotz des eigentlich vorliegenden Ermessensfehlers in Form der Ermessensüberschreitung ist die gewählte Rechtsfolge – bei Vorliegen aller weiteren Voraussetzungen – materiell rechtmäßig.

Grundsätzlich ist die Ermessensreduktion auf Null im Hinblick auf die Ermessensüberschreitung jedoch seltener von Bedeutung.

cc.) Ermessensfehlgebrauch

Letztlich existiert noch ein dritter Ermessensfehler: der Ermessensfehlgebrauch. Bei dem Ermessensfehlgebrauch hat das Exekutivorgan zwar sein eingeräumtes, pflichtgemäßes Ermessen ausgeübt. Dabei ist ihm aber ein Fehler unterlaufen. Einen solchen Fehler stellt es  beispielsweise dar, wenn eine Norm nicht ihrem Sinn und Zweck nach, sondern falsch angewandt wird. Ein Ermessensfehlgebrauch liegt ferner auch dann vor, wenn die Behörde von ihrer gängigen Verwaltungspraxis abweicht. Sie entscheidet plötzlich völlig anders als in vorherigen, vergleichbaren Fällen.

Ermessensreduzierung auf Null

Auch in diesem Zusammenhang spielt wiederum die Ermessensreduktion auf Null eine Rolle. Um deren ausufernde Anwendung hier zu verhindern, ist eine solche im Falle des Ermessensfehlgebrauchs an ganz enge Voraussetzungen geknüpft.

Selbstbindung der Verwaltung

Hat die Behörde bereits über ähnliche Fallkonstellationen entschieden und hierbei stets eine bestimmte Richtung verfolgt, so hat sie ihren zukünftigen Ermessensentscheidungen eine Tendenz vorgegeben. Sie hat sich damit selbst gebunden. Für den Adressaten ist die Rechtssicherheit von überragender Wichtigkeit. Zwar ist diese bei Ermessensentscheidung grundsätzlich beeinträchtigt. Denn der Adressat kann gerade nicht wissen, wie die Behörde in seinem Fall entscheiden wird. Eine weitergehende Ausuferung dieser Unsicherheit gilt es jedoch zu vermeiden. Der Adressat muss sich darauf verlassen können, dass die Behörde auch in seinem Fall so entscheidet wie in anderen, vergleichbaren Fällen.

Ausnahmen der Selbstbindung

Führt diese Selbstbindung der Verwaltung indes im Ergebnis zu einer Ungleichbehandlung von Gleichem oder einer Gleichbehandlung von Ungleichem, muss die Behörde von ihrer gängigen Verwaltungspraxis abweichen können. Damit ist eine „Heilung“ des Ermessensfehlgebrauchs in Form der Ermessensreduktion auf Null immer bei einer Selbstbindung der Verwaltung iVm Art. 3 I GG möglich. Andere Abweichungen kommen hingegen grundsätzlich nicht in Betracht.

b.) Verhältnismäßigkeit

Teil des in Art. 20 III GG verankerten Rechtsstaatsprinzips ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Das Rechtsstaatsprinzip macht es damit erforderlich, dass jede Verwaltungsentscheidung auf ihre Verhältnismäßigkeit hin überprüft wird. Dabei ist es nicht von Relevanz, ob es sich um eine gebundene oder eine Ermessensentscheidung handelt. Auch kommt es nicht darauf an, ob bereits zuvor ein Ermessensfehler festgestellt wurde.

In diesem Zusammenhang sind zwei wichtige Punkte zu beachten:

Abgrenzung von materieller Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit

  • Im Falle einer Ermessensentscheidung gilt es zu erkennen, dass diese rechtswidrig ist, wenn ein Ermessensfehler gemacht wurde und das Ermessen nicht auf Null reduziert ist. Denn in einem solchen Fall ist die Rechtsfolge missachtet worden und die Entscheidung materiell rechtswidrig. Dennoch ist es möglich, dass die Entscheidung trotz des Ermessensfehlers verhältnismäßig war. Dann bleibt die Entscheidung zwar weiterhin wegen der Missachtung der Rechtsfolge materiell rechtswidrig, sie ist aber verhältnismäßig.

Autonome Verhältnismäßigkeitsprüfung

  • Weiter ist zu beachten, dass die Verhältnismäßigkeitsprüfung vollständig autonom zum vorherigen Prüfungspunkt ist. Sie ist insbesondere nicht mit der Ermessensfehlerlehre zu vermischen. Unter a.) ist lediglich festzustellen, ob in dem zu bearbeitenden Fall eine gebundene oder eine Ermessensentscheidung vorliegt. Bei Beurteilung einer Ermessensentscheidung ist danach die Ermessensfehlerlehre heranzuziehen und das etwaige Eingreifen eines der drei dargestellten Fehler zu prüfen. Liegt im Ergebnis ein Fehler vor, so ist die für den jeweiligen Fehler eingreifende Ermessensreduktion auf Null anzudenken bzw. zu überprüfen. Je nach Ergebnislage liegt ein Ermessensfehler vor oder eben nicht. Bereits dann ist das Ergebnis gefallen, ob die Entscheidung materiell rechtswidrig oder eben rechtmäßig war. Erst nach Feststellung der rechtmäßigen bzw. rechtswidrigen Ermessensausübung prüft man sodann unter b.) die Verhältnismäßigkeit der Exekutiventscheidung.

Jura-Individuell-Tipp:

Es sollte unbedingt darauf geachtet werden, dass die hier vorgeschlagene Prüfungsreihenfolge eingehalten wird. Denn so lässt sich der – häufig bei der Ermessensüberschreitung auftauchende – Fehler der Vermengung der Ermessensfehlerlehre und der Verhältnismäßigkeitsprüfung effektiv verhindern.

Hat man diese beiden Punkte verstanden und verinnerlicht, stellt sich die Frage, in welcher Form die Verhältnismäßigkeit zu prüfen ist.

aa.) Legitimer Zweck

Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist als erstes zu untersuchen, ob die Entscheidung der Verwaltung einen legitimen Zweck erfüllt. Dieser Zweck kann beispielsweise in der Wiederherstellung des ursprünglichen, rechtmäßigen Zustandes iSd Art. 20 III GG zu sehen sein. Diese Prüfung ist in der Regel unproblematisch und kann dementsprechend schnell abgehandelt werden.

bb.) Mittel

Im Anschluss daran ist das von der Verwaltung eingesetzte Mittel zur Verwirklichung des legitimen Zwecks explizit zu benennen. Auch dies kann grundsätzlich in einem Satz erfolgen.

cc.) Zweck-Mittel-Relation

Erst wenn der legitime Zweck und das Mittel herausgearbeitet wurden, gelangt man in einem dritten Schritt zur Zweck-Mittel-Relation. Auf dieser Ebene werden dementsprechend der Zweck und das Mittel in Relation, also ins Verhältnis zueinander, gesetzt. Es wird betrachtet, ob die Einsetzung des konkreten Mittels zur Erreichung des legitimen Zweckes geeignet, erforderlich und angemessen war.

(a.) Geeignetheit

Zunächst ist die Geeignetheit zu prüfen. Geeignet ist eine staatliche Maßnahme immer dann, wenn mit ihrer Hilfe das angestrebte Ziel gefördert werden kann.

(b.) Erforderlichkeit

Ist die Geeignetheit gegeben, ist die Maßnahme als nächstes auf ihre Erforderlichkeit hin zu überprüfen. Erforderlich ist eine staatliche Maßnahme, wenn kein milderes, gleichgeeignetes Mittel vorhanden ist, das den gleichen Erfolg mit der gleichen Sicherheit und einem vergleichbaren Aufwand herbeiführen würde (Prinzip des sog. Interventionsminimums).

(c.) Angemessenheit

Sollte die Maßnahme zur Zweckerreichung auch erforderlich gewesen sein, gelangt man auf der dritten Stufe zur Überprüfung der Angemessenheit im engen Sinne. Angemessen ist eine staatliche Maßnahme, wenn das mit ihr verfolgte Ziel in seiner Wertigkeit nicht außer Verhältnis zur Intensität des Eingriffs steht. Hierbei ist eine Rechtsgüterabwägung für den konkreten Fall vorzunehmen, die in den meisten Klausurfällen den Schwerpunkt der Verhältnismäßigkeitsprüfung ausmacht. Um eine Unübersichtlichkeit dieser Rechtsgüterabwägung zu vermeiden, empfiehlt es sich, wie folgt zu untergliedern und zu prüfen:

(aa.) Rechtsgut, in welches eingegriffen wird

Zunächst ist dasjenige Rechtsgut zu benennen, in welches durch die zu beurteilende Handlung eingegriffen wird.

Beispiel: Eine Behörde hat über eine Demonstration vor einer Pelzhandlung zu entscheiden. Die Demonstration ist darauf ausgerichtet, dass der Betreiber der Pelzhandlung seine Kunden verliert, weil sich diese aus Angst vor den Demonstranten nicht in sein Geschäft trauen. Das tangierte Rechtsgut wäre hier die Berufsfreiheit des Pelzhändlers aus Art. 12 I GG.

(bb.) Rechtsgut, weswegen eingegriffen wird

Im Anschluss daran ist dasjenige Rechtsgut herauszuarbeiten, weswegen eingegriffen wird. Denn nur, wenn die geplante Handlung auf einer angemessenen Grundlage beruht, kann sie auch in der Lage sein ein anderes Rechtsgut angemessen zu beeinträchtigen. In dem zuvor gebildeten Beispielsfall wäre das Rechtsgut, weswegen in die Berufsfreiheit eingegriffen wird, das Recht der Demonstranten auf Versammlungsfreiheit aus Art. 8 I GG.

(cc.) Rangfolge

Nach Herausarbeiten der jeweiligen Rechtsgüter des konkreten Falls ist auf der dritten Ebene das grundsätzlich geltende Rangverhältnis der einschlägigen Rechtsgüter zu benennen. Bei einer Kollision eines Grundrechts mit einer Norm aus dem Strafrecht würde das Grundrecht von der grundsätzlichen Rangfolge überwiegen. Allerdings herrscht auch ein Rangverhältnis innerhalb der Grundrechte selbst. Stehen sich aber beispielsweise zwei Versammlungsfreiheiten gegenüber, so herrscht ein gleichrangiges Verhältnis.

(dd.) Abwägung unter Beachtung des Einzelfalls

Auf der letzten Ebene findet eine Abwägung der jeweiligen Rechtsgüter unter Beachtung des Einzelfalls statt. Hierbei kann die zuvor erfolgte Klärung der allgemein geltenden Rangfolge Berücksichtigung finden. Diese dient jedoch nur als Anhaltspunkt. Denn im zu betrachtenden Einzelfall kann es durchaus vorkommen, dass unter gewissen Aspekten ein anderes Rangverhältnis gilt. Wegen besonderer Umstände kann das einfache Recht das Grundgesetz oder aber ein normalerweise geringer wirkendes Grundrecht kann ein überragendes Grundrecht überwiegen. An dieser Stelle ist eine vernünftige und ausführliche Begründung unter stetigem Einbezug des konkreten Falles von entscheidender Relevanz.

(ee.) Zwischenergebnis

Am Ende ist im Rahmen eines Zwischenergebnisses das Resultat der Einzelfallbetrachtung festzuhalten. Entweder überwiegt das Rechtsgut, in welches eingegriffen wurde oder dasjenige, weswegen eingegriffen wurde.

3. Verletzung in subjektiven Rechten

In der Begründetheit ist nach Prüfung von Tatbestand und Rechtsfolge bei den meisten Klagearten noch die Verletzung subjektiver Rechte zu prüfen. In den Klausuren ist hier häufig eine Grundrechtsverletzung einschlägig. Genauso denkbar wäre aber auch eine Verletzung in anderen subjektiven Rechten.

Im Rahmen der Ermessensüberschreitung nimmt man grundsätzlich bereits eine derartige Prüfung der subjektiven Rechtsverletzung vor, sodass nach oben verwiesen werden kann. Lag in dem vorliegenden Fall jedoch keine Ermessensüberschreitung vor, erfolgt an dieser Stelle eine ausführliche (Grund-)Rechtsprüfung.

Bei der Verletzung eines Grundrechts bedeutet dies: Prüfung Schutzbereich, Eingriff, Rechtfertigung des Eingriffs. Wird ein anderes Rechtsguts verletzt, sind die Voraussetzungen des einfachen Rechts zu prüfen (im Falle einer Nötigung etwa die Voraussetzungen des § 240 StGB).

3. Teil: Zusammenfassung der wichtigsten Fakten

Festzuhalten bleibt nach alledem Folgendes:

  • Die Ermessens- und Ermessensfehlerlehre hat eine überragende Bedeutung für juristische Klausuren im Bereich des öffentlichen Rechts. Es ist daher unabdingbar, die Ermessensfehlerlehre zu durchdringen und einem einheitlichen Schema zu folgen. Nur so gelingt ein nachvollziehbarer Prüfungsaufbau in der Klausur und Fehler können vermieden werden.

Prüfung der Rechtsverletzung

  • Die Ermessensüberschreitung beinhaltet immer die Prüfung einer Rechtsverletzung. Dies gilt unabhängig davon, ob sich diese Rechtsverletzung aus einem Grundrecht oder aus einfachem Recht ableitet. Diese Rechtsverletzung ist ausführlich zu prüfen.

Trennung der Prüfung von Ermessensfehlern und Verhältnismäßigkeit

  • Völlig losgelöst von der Prüfung der Ermessensfehlerlehre erfolgt immer auch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung. Diese darf nicht mit der Ermessensfehlerlehre – insbesondere nicht mit der Ermessensüberschreitung – vermischt werden. Zwar ist im Rahmen der Prüfung der Ermessensüberschreitung und bei Prüfung eines Grundrechts im Rahmen der Schranken-Schranke eine verhältnismäßige Abwägung vorzunehmen. Aber die eigentliche Verhältnismäßigkeitsprüfung ist davon autonom und als gesonderter Prüfungspunkt vorzunehmen. Lediglich ein Verweis auf diese vorherige Prüfung ist möglich.

Erwartungsmaßstab des Prüfers

  • Es ist wichtig, dass unabhängig von dem verfolgten Lösungsweg in der Klausur alle verlangten Punkte geprüft werden. Erwartet der Prüfer beispielsweise die Prüfung eines Grundrechts und eine Abwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung, hat der Prüfling dem in jedem Fall gerecht zu werden. Kommt für ihn keine Ermessensüberschreitung in Betracht, so erfolgt die erwartete Abwägung eben im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Die Prüfung des Grundrechts fällt ebenfalls nicht weg, da sie im Rahmen der Verletzung subjektiver Rechte vorgenommen wird.

Anmerkungen

zu dieser Problematik: Prüfungsschema zum Ermessen und zur Ermessensfehlerlehre; Klausur zum Ermessen (am Beispiel des Versammlungsrecht).

Vielen Dank, dass Sie diesen Beitrag gelesen haben. Wir hoffen, dass er Ihnen weiterhelfen oder zumindest Ihr Interesse wecken konnte. Hier finden Sie den Beitrag Ermessen und Verhältnismäßigkeit auf unserer Website Jura Individuell.

Zusage und Zusicherung

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1. Überblick

Ob behördliche Erklärungen im konkreten Fall eine bindende Verpflichtung für ein späteres Verwaltungshandeln erzeugen, ist immer wieder von erhöhter Klausurrelevanz. Innerhalb der Klausur spielt die Zusage oder Zusicherung (§ 38 VwVfG) regelmäßig eine Schlüsselrolle. Oberbegriff ist hierbei die Zusage im weiten Sinne. Wichtig ist zunächst, dass sprachlich korrekt unterschieden wird: Hinter dem Begriff der Zusicherung verbirgt sich die Verpflichtung einer Behörde, einen bestimmten Verwaltungsakt zu erlassen oder zu unterlassen. Hingegen spricht man von einer Zusage, wenn die Behörde sich zu einem bestimmten Tun, Dulden oder Unterlassen verpflichtet hat.

2. Bezug zur Klageart

2.1 Leistungs- oder Verpflichtungsklage

Die Problematik kann zum einen innerhalb der Leistungsklage, zum anderen innerhalb der Verpflichtungsklage relevant werden. Begehrt der Kläger unter Hinweis auf eine Erklärung der Behörde aus der Vergangenheit eine bestimmte Leistung, so ist die Leistungsklage statthaft. Ist das Klagebegehren hingegen auf den Erlass eines Verwaltungsakts gerichtet, handelt es sich um ein Verpflichtungsbegehren. Diesem entspricht die Verpflichtungsklage.

Zu prüfen ist dann zunächst die Zulässigkeit der jeweiligen Klageart. Innerhalb der Begründetheit wird sodann dargestellt, ob und aus welcher Grundlage sich ein Anspruch des Klägers ergibt. Hier wird deutlich, dass die Zusage oder die Zusicherung einen wichtigen Part innerhalb des Gesamtwerks der Klausur darstellt. Denn bei der Anspruchsgrundlage ist nun zunächst auf den Anspruch aus öffentlich-rechtlicher Sonderbeziehung abzustellen. Dieser kann sich aus einer Zusage im weiteren Sinne oder aus öffentlich-rechtlichem Vertrag (siehe dazu Teil II ) ergeben. Erst im zweiten Schritt kommt man auf die einfachgesetzlichen Grundlagen zu sprechen und gelangt damit zu der bekannten Prüfung.

In der Regel wird der Anspruch aus öffentlich-rechtlicher Sonderbeziehung zwar nicht bestehen, da die Klausurersteller den Bearbeiter zur weiteren Prüfung anhalten wollen. Dennoch – wer bereits den Anspruch aus der öffentlich-rechtlichen Sonderbeziehung, insbesondere aus der Zusage oder Zusicherung übersieht, hat im weiteren Fortgang unnötigerweise schlechtere Karten.

2.2. Anfechtungskonstellation

Neben der oben beschriebenen Leistungs- oder Verpflichtungskonstellation kann einem die Zusicherung bezüglich eines Verwaltungsakts auch eingekleidet in die Anfechtungsklage begegnen.

In dieser Klausurkonstellation wurde ein bestimmter Verwaltungsakt erlassen und zwar entgegen der Zusicherung der Behörde eben dies nicht zu tun. Hier kann man sich deutlich von der Masse abheben, wenn eine präzise Prüfung vorgenommen und formuliert wird, worauf es ankommt. Die Rechtswidrigkeit des Bescheids kann einerseits aus der Zusicherung folgen. So ist der erlassene Bescheid i.S.d § 113 I 1 VwGO rechtswidrig, wenn sich die Behörde durch ihre Erklärung tatsächlich gebunden hat. Abzugrenzen ist die Zusicherung hier häufig vom bloßen Hinweis, dem es am Regelungscharakter mangelt. In den meisten Fällen wird sich die Behörde mit ihrer Erklärung nicht gebunden haben. Folglich ist mit der Prüfung eines Anspruchs aus den bekannten Ermächtigungsgrundlagen fortzufahren.

Möglich ist auch die konträre Situation. Dann müssen die Zulässigkeit und Begründetheit eines Anfechtungsrechtsbehelfs gegen die Aufhebung einer Zusicherung geprüft werden. Hier ist innerhalb der Begründetheitsprüfung der Anfechtungsklage an die subjektive Rechtsverletzung zu denken.

2.3. Feststellungsklage

Eher selten wird die Feststellungsklage – gerichtet auf die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens der Voraussetzungen des § 38 III VwVfG – in Klausuren abgeprüft.

3. Zweistufige Prüfung

Begegnet einem die Zusage im weiten Sinne in der Klausur, gilt es zunächst gedanklich zu klären, ob eine Zusage oder eine Zusicherung vorliegt. Sodann ist zweistufig vorzugehen:

3.1 – 1. Stufe: Auslegung (selbstverpflichtende Erklärung mit erkennbarem Bindungswillen?)

Es empfiehlt sich bei der Auslegung zunächst einen kleinen (!) Schwerpunkt zu setzen und zu erläutern, ob die behördliche Erklärung analog § 133 BGB nach ihrem auszulegenden Erklärungsinhalt überhaupt eine verbindliche Erklärung beinhaltet. Dabei ist die Zusicherung deutlich von einer lediglich unverbindlichen Auskunft abzugrenzen. Bei einer solchen handelt es sich nämlich um einen bloßen Realakt ohne Verpflichtung zu einem bestimmten Verhalten. Sehr häufig scheitert eine Zusage im weiteren Sinne innerhalb der Klausur bereits am Selbstbindungswillen der Behörde, was deutlich herauszuarbeiten ist.

So liegt etwa eine bloße Auskunft ohne verbindlichen Erklärungsinhalt vor, wenn die Behörde beispielhaft lediglich erklärt, dass das streitgegenständliche Bauvorhaben mit den baurechtlichen Bestimmungen im Einklang steht. Es handelt sich dann lediglich um eine informative Mitteilung über tatsächliche oder rechtliche Umstände.

Eine Zusicherung besteht ebenfalls nicht bei einem Bauvorbescheid, der über einen Teil des späteren Verwaltungsakts vorab entscheidet. Denn dieser trifft keine Disposition über die Zukunft, sondern handelt lediglich einen Teil im Voraus ab. So kann beispielsweise innerhalb eines Bauvorbescheids die Entscheidung über die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit vorweggenommen werden. Im Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG) ist in § 9 BImSchG ein solcher Bauvorbescheid sogar gesetzlich vorgesehen.

3.2 – 2. Stufe: Wirksamkeit der Zusage im weiten Sinne

Sofern die Prüfung ergibt, dass eine selbstverpflichtende Erklärung mit Bindungswillen vorliegt, ist in der zweiten Stufe die Wirksamkeit der Zusicherung analog § 133 BGB zu prüfen. Gemäß § 38 II VwVfG gelten hierfür die Grundsätze für Verwaltungsakte in dem dort aufgeführten Umfang entsprechend.

3.2.1 Formelle Voraussetzungen der Bindungswirkung

Formelle Anforderungen sind die Zuständigkeit (§ 38 I 1 VwVfG), das Verfahren (insbesondere die Beteiligung Dritter) und die Einhaltung der Schriftform (§ 38 I 1 VwVfG). Zudem darf die Zusage im weiten Sinne nicht nichtig sein, § 44 VwVfG. Die Rechtswidrigkeit schadet demgegenüber nicht, wie sich § 38 II VwVfG entnehmen lässt.

3.2.2 Entfall der Bindungswirkung

3.2.2.1 Entfall der Bindungswirkung durch Rücknahme oder Widerruf

Im Anschluss ist inzident zu prüfen, ob die Bindungswirkung nicht durch Rücknahme oder Widerruf (siehe dazu „Rücknahme und Widerruf in der verwaltungsrechtlichen Klausur“) entfallen ist. Dabei muss bei einer rechtswidrigen Zusicherung § 38 II VwVfG i.V.m. § 48 VwVfG, bei einer rechtmäßigen Zusicherung § 38 II VwVfG i.V.m. § 49 VwVfG zitiert werden. Hierfür gilt es inzident zu klären, ob die Zusage im weiteren Sinne rechtmäßig oder rechtswidrig war. Dabei orientiert man sich am besten daran, ob ein Verwaltungsakt des Inhalts der Zusage i.w.S. rechtmäßig oder rechtswidrig wäre. Die formellen Prüfungspunkte sind bekannt und erstrecken sich auf die Zuständigkeit, das Verfahren und die Form. Materiell zu prüfen sind die Zulässigkeit der Zusicherung, die Rechtmäßigkeit des zugesicherten Verwaltungsaktes und ggf. eine ordnungsgemäße Ermessensausübung, sofern die gesetzliche Grundlage Ermessen vorsieht.

3.2.2.2 Entfall der Bindungswirkung durch Wegfall der Geschäftsgrundlage nach § 38 III VwVfG

Neben der Rücknahme und dem Widerruf kann die Bindungswirkung durch Wegfall der Geschäftsgrundlage nach § 38 III VwVfG entfallen. Darin liegt der letzte Prüfungspunkt, sofern Anlass zur Prüfung besteht.

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Ermessen in der Klausur

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A. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs

B. Zulässigkeit

C. Begründetheit

I. Ermächtigungsgrundlage

II. Formelle Rechtmäßigkeit

III. Materielle Rechtmäßigkeit

1. Tatbestand

2. Rechtsfolge

a.) Ermessensfehler
aa.) Ermessensnichtgebrauch
  • Dies ist immer dann der Fall, wenn die Behörde gar nicht bemerkt hat, dass ihr vom Gesetzgeber Ermessen eingeräumt wurde und sie folglich davon ausgeht, einer gebundenen Entscheidung zu unterliegen.
  • Ermessensreduktion auf Null bei Verletzung überragend wichtiger Rechtsgüter gem. Art. 2 I GG (Körper oder Leben) oder Art. 14 I GG (bei Setzung einer unabänderlichen Rechtsfolge für das Eigentum, Bestandsschutz)
bb.) Ermessensüberschreitung
  • Eine Ermessensüberschreitung meint, dass sich die Behörde nicht im Rahmen ihres pflichtgemäßen Ermessens gehalten hat, sondern durch ihre Ermessensentscheidung eine Rechtsfolge wählte, die eine Rechtsverletzung des Adressaten zur Folge hat. Insofern ist an dieser Stelle entweder eine ausführliche Grundrechtsprüfung (Schutzbereich, Eingriff, Rechtfertigung) oder aber eine anderweitige ausführliche Rechtsverletzung aufgrund einfachen Rechts durchzuführen.
  • Ermessensreduktion auf Null bei Verletzung überragend wichtiger Rechtsgüter des Art. 2 I GG (Körper und Leben)
cc.) Ermessensfehlgebrauch
  • Bei dem Ermessensfehlgebrauch hat das Exekutivorgan zwar ihr eingeräumtes, pflichtgemäßes Ermessen ausgeübt, dabei ist ihr aber ein Fehler unterlaufen. Ein solcher Fehler kann beispielsweise dann angenommen werden, wenn eine Norm nicht ihrem Sinn und Zweck nach, sondern falsch angewandt worden ist. Ein Ermessensfehlgebrauch liegt aber auch dann vor, wenn die Behörde von ihrer gängigen Verwaltungspraxis abweicht, also plötzlich eine ganz andere Entscheidung trifft, als sie das in vorherigen, vergleichbaren Fällen getan hat.
  • Eine Ermessensreduktion auf Null kommt immer bei einer Selbstbindung der Verwaltung iVm Art. 3 I GG in Betracht.
b.) Verhältnismäßigkeit
aa.) Legitimer Zweck
bb.) Mittel
cc.) Zweck-Mittel-Relation

(a.) Geeignetheit

Geeignet ist eine staatliche Maßnahme immer dann, wenn mit ihrer Hilfe das angestrebte Ziel gefördert werden kann.

(b.) Erforderlichkeit

Erforderlich ist eine staatliche Maßnahme, wenn kein milderes, gleichgeeignetes Mittel vorhanden ist, das den gleichen Erfolg mit der gleichen Sicherheit und einem vergleichbaren Aufwand herbeiführen würde (Prinzip des sog. Interventionsminimums).

(c.) Angemessenheit

Angemessen ist eine staatliche Maßnahme, wenn das mit ihr verfolgte Ziel in seiner Wertigkeit nicht außer Verhältnis zur Intensität des Eingriffs steht. Hierbei ist eine Rechtsgüterabwägung für den konkreten Fall vorzunehmen, die in den meisten Klausurfällen den Schwerpunkt der Verhältnismäßigkeitsprüfung ausmacht.

(aa.) Rechtsgut, in welches eingegriffen wird

(bb.) Rechtsgut, weswegen eingegriffen wird

(cc.) Rangfolge

(dd.) Abwägung unter Beachtung des Einzelfalles

(ee.) Zwischenergebnis

3. Verletzung in subjektiven Rechten

Anmerkung

zu dieser Problematik: ausführlicher Fachartikel zum Ermessen und zur Ermessensfehlerlehre; Klausur zum Ermessen (am Beispiel des Versammlungsrecht)

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§ 47 VwGO Normenkontrolle Verwaltungsrecht

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Eine Normenkontrolle ist die richterliche Überprüfung von Rechtssätzen mit  höherrangigem Recht.  Die Gerichte sind dabei berechtigt und verpflichtet die Vereinbarkeit von Rechtssätzen mit höherrangigem Rechts zu überprüfen. Eine Ausnahme besteht, wenn das Bundesverfassungsgericht ein Verwerfungsmonopol hat. Die Normenkontrolle dient der Rechtssicherheit und dem Rechtsschutz.

Jura Individuell- Hinweis: Bei Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO ist die Terminologie „Antragsteller“ und „Antragsgegner“ zu verwenden.

 

I . Antragsgegenstand

Zunächst ist es sinnvoll den genauen Antragsgegenstand zu bestimmen, dies leitet die Prüfung ein und zeigt auch dem Prüfer, ob die Rechtsfrage richtig erkannt wurde.

II. Zulässigkeit

Nach § 47 I VwGO entscheidet das Oberverwaltungsgericht im Rahmen seiner Zuständigkeit über einen Normenkontrollantrag im Rahmen seiner Gerichtsbarkeit.

Jura Individuell- Hinweis: Nach § 184 besteht eine Sonderrregelung der Länder- Das Land kann bestimmen, dass das Oberveerwaltungsgericht die bisherige Bezeichnung „Verwaltungsgerichtshof“ weiterführt (z.B. Bayern der Bayerische Verwaltungsgerichtshof).

Voraussetzung ist daher für die Zulässigkeit eines Normenkontrollantrages nach § 47 I VwGO die Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges nach § 40 I VwGO. Es muss sich daher um Rechtssätze handeln, zu deren Vollzug Verwaltungsakte entstehen oder sonstige öffentlich- rechtliche Streitigkeiten entstehen können.

1. Statthaftigkeit

Nach § 47 I Nr. 1 VwGO können Gegenstand der Normenkontrolle  Satzungen sein, die nach den Vorschriften des Baugesetzbuches erlassen worden sind (Bebauungsplan)oder Rechtsverordnungen, die aufgrund des § 246 BauGB erlassen worden sind.

Nach § 47 I Nr. 2 VwGO können andere im Rang unter den Landesgesetzen stehende Rechtsvorschriften (sonstige Satzungen oder Verordnungen), Gegenstand der Normenkontrolle sein, sofern das Landesrecht dies bestimmt. [Von dieser Möglichkeit haben die Länder uneingeschränkt, beschränkt oder keinen Gebrauch gemacht- uneingeschränkt: Baden Württemberg (§ 4 AGVwGO), Brandenburg (§ 4 I AGVwGO), Bremen (Art. 7 AGVwGO), Hessen (§ 15 AGVwGO), Mecklenburg- Vorpommern (§ 13 AGGerStrG), Niedersachsen (§ 7 AGVwGO), Saarland (§ 16 AGVwGO), Sachsen (§ 24 JG), Sachsen- Anhalt (§ 10 AGVwGO), Schleswig- Holstein (§ 5 AGVwGO), Thüringen (§ 4 AGVwGO); beschränkt: Bayern ( Art. 5 AGVwGO), Rheinpland- Pfalz (§ 4 AGVwGO); keinen Gebrauch gemacht: Berlin, Hamburg, Nordrhein- Westfalen.]

Die Rechtsvorschrift muss bereits erlassen worden sein, braucht aber noch nicht in Kraft getreten zu sein.

2. Antragsberechtigung

§ 47 II S.1 VwGO, jede natürliche oder juristische Person, jede Behörde, die durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt ist. (Dieser Prüfungspunkt ist meist unproblematisch).

3. Antragsbefugnis

Nach § 47 II S. 1 VwGO ist grundsätzlich jede natürliche und juristische Person, die i.S. von § 42 II VwGO in ihren Rechten verletzt ist. Behörden brauchen keine Antragsbefugnis, es genügt, wenn die Behörde die Norm bei der Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben zu beachten hat.

4. Form

§§ 81, 82 VwGO analog, ordnungsgemäße Antragsstellung.

5. Frist

§ 47 II S.1 VwGO, der Antrag muss ein Jahr nach Bekanntmachung gestellt werden.

( Problematisch kann dies bei nachträglich rechtswidrig gewordenen Normen sein- Stichwort „funktionslose“ Bebauungspläne- In der Praxis wird ein Bebauungsplan Praxis konsequent durchgezogen und es entsteht im Laufe der Jahre eine andere Nutzung, zwar ist alles klar geregelt, aber genehmigt wurde eine andere Nutzung, der Bebauungsplan ist faktisch ausgehebelt und „funktionslos“.  Im Rahmen einer Normenkontrolle ist dann die Jahresfrist nach Literatur und Rechtsprechung nicht anzuwenden). Die Berechnung der Frist erfolgt nach § 57 VwGO.

III. Begründetheit

Der Normenkontrollantrag ist begründet, wenn er sich gegen den richtigen Antragsgegner richtet und wenn die angegriffene Rechtsnorm gegen höherrangiges formelles oder materielles Recht verstößt.

1. Richtiger Antragsgegner ( Passivlegitimation)

§ 47 II S. 2 VwGO diejenige juristische Person, die die Rechtsvorschrift erlassen hat.

2. Rechtmäßigkeit der Rechtsnorm

Die Rechtsnorm ist unwirksam, wenn sie formell oder materiell rechtswidrig ist.

a.  formelle Rechtmäßigkeit

b. materielle Rechtmäßigkeit

Ergebnis: Wird die Norm von dem Oberverwaltungsgericht für gültig erklärt, wird der Antrag zurückgewiesen, wird die Norm für ungültig.

3.1. Normenkontrolle einer Rechtsverordnung (z.B. einer Verwaltungsbehörde, der Regierung etc., siehe Art. 80 I S.1 GG)

a. formelle Rechtmäßigkeit

(a) Zuständigkeit
  • sachlich
  • örtlich
  • funktionell
(b) Verfahren
  • bei Verfahrensfehlern keine Anwendung von §§ 45,46 VwVfG
(c) Form
    • schriftlich
  • die Rechtsgrundlage ist anzugeben, Art. 80 I S.3 GG)
(d) ordnungsgemäße Verkündung

b. materielle Rechtmäßigkeit

(a) Ermächtigungsgrundlage
  • formell und materiell  verfassungskonform, nach Art. 80 I S. 2 GG muss Inhalt, Zweck und Ausmaß der Rechtsverordnung  bestimmt werden
  • die Verordnung darf die Ermächtigungsgrundlage nicht überschreiten
  • Überprüfung von Ermessensfehlern, weites Ermessen bei dem Inhalt der Norm, jedoch muss die Rechtsverordnung ermessensfehlerfrei erlassen worden sein
(b) Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht

Die Rechtsverordnung muss sowohl mit Bundes- als auch mit Landesrecht in Einklang stehen, insbesondere kommen an dieser Stelle die Verletzung von Grundrechten in Betracht.

Verstößt die Rechtsverordnung gegen europäisches Unionsrecht, wird nach h.M. Europarecht innerhalb des Normenkontrollverfahrens überprüft. Ein Verstoß gegen Europarecht  führt jedoch nicht zu einer Unwirksamkeit, sondern zu einer Unanwendbarkeit der Norm, da das Unionsrecht lediglich Anwendungsvorrang und keinen Geltungsvorrang besitzt. Das zuständige Oberverwaltungsgericht hat bei einem solchen Verstoß  die Feststellung der Unanwendbarkeit der gemeinschaftswidrigen Norm zu treffen (§ 47 VwGO Kopp/Schenke Rn. 99).

(b) Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht

3.2. Von besonderer Bedeutung sind in der Klausur  die Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Bebauungsplänen und die Überprüfung der Rechtmäßigkeit kommunaler Satzungen.

Vielen Dank, dass Sie diesen Beitrag gelesen haben. Wir hoffen, dass er Ihnen weiterhelfen oder zumindest Ihr Interesse wecken konnte. Hier finden Sie den Beitrag § 47 VwGO Normenkontrolle Verwaltungsrecht auf unserer Website Jura Individuell.

Untätigkeitsklage, Art. 265 AEUV

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Einleitung:

Dieser Artikel befasst sich mit der Untätigkeitsklage.
Daneben gibt es im Europarecht noch das Vertragsverletzungsverfahren in Form der Aufsichtsklage und der Staatenklage, die Nichtigkeitsklage und das Vorabentscheidungsverfahren.

Im Folgenden wird die Untätigkeitsklage kurz dargestellt und anhand eines Prüfungsschemas genauer aufgearbeitet.

A. Die Untätigkeitsklage nach Art. 265 AEUV im Allgemeinen:

Die Untätigkeitsklage stellt das Gegenstück zu der in Art. 263 AEUV normierten Nichtigkeitsklage dar. Sie zielt darauf ab, die Unionsrechtswidrigkeit der Unterlassung eines Beschlusses geltend zu machen.

Es handelt sich um eine Feststellungsklage, Art. 265 I 1 AEUV.

Folge einer erfolgreichen Nichtigkeitsklage ist demnach immer ein Feststellungsurteil: Gemäß Art. 265 I 1 AEUV wird die Rechtswidrigkeit der Unterlassung positiv festgestellt. Dem betroffenen Organ wird auferlegt, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, vgl. Art. 266 I AEUV.

B. Prüfschema:

I. Zulässigkeit der Klage

(1.) Rechtsweg – Achtung: gedankliche Vorprüfung!

Der Rechtsweg zum EuGH ist gem. Art. 19 III EUV i.V.m. Art. 265 AEUV eröffnet, wenn eine Verletzung von Unionsrecht gerügt wird. Es gilt insoweit das im Europarecht allgemeingültige Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 19 III EUV. Siehe insbesondere Art. 19 III lit. c EUV: „in allen in den Verträgen vorgesehenen Fällen“.
Im Europarecht wird die Eröffnung des Rechtswegs allerdings nicht ins Gutachten mit aufgenommen, sie dient lediglich als gedankliche Vorprüfung und stellt keinen eigenen Prüfungspunkt dar!

1. Sachliche Zuständigkeit

Sachlich zuständig ist grundsätzlich das EuG, vgl. Art. 256 I S. 1 AEUV.
Für Untätigkeitsklagen von Mitgliedstaaten und EU-Organen, ist jedoch abweichend davon der EuGH zuständig, vgl. Art. 51 Satzung des EuGH.

2. Parteifähigkeit / Beteiligtenfähigkeit

Aktiv parteifähig, d.h. antragsberechtigt sind gemäß Art. 265 I S. 1 HS. 2 AEUV die Mitgliedstaaten und die anderen Organe der Europäischen Union iSv. Art. 13 I EUV. Natürliche und juristische Personen sind gem. Art. 265 III AEUV aktiv parteifähig. Aktive Parteifähigkeit bedeutet dabei, vor Gericht zu klagen.

Passiv parteifähig sind gem. Art. 265 I S.1 HS. 1 AEUV das Europäische Parlament, der Europäische Rat, der Rat, die Kommission, die EZB und gem. Art. 265 I 2 AEUV die Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union. Passive Parteifähigkeit bedeutet dabei, vor Gericht verklagt zu werden.

3. Vorverfahren

Das Vorverfahren stellt eine unabdingbare Klagevoraussetzung dar, vgl. Art. 265 II AEUV. Ziel des Vorverfahrens ist dabei eine gütliche Streitbeilegung.

a) Aufforderungsschreiben an das untätige Organ:

Erforderlich ist, dass das betroffene Organ, die in Frage stehende Einrichtung oder sonstige Stelle vorab, im Rahmen eines sog. Vorverfahrens, aufgefordert wird, tätig zu werden, vgl. Art. 265 II S. 1 AEUV. Das Schreiben muss enthalten:

aa) Bezeichnung der unterlassenen Maßnahme
bb) Benennung der verletzten Handlungspflicht
cc) Hinweis auf Klageerhebung für den Fall der weiteren Untätigkeit

b) Fruchtloser Ablauf von zwei Monaten

Liefert das betroffene Organ innerhalb von zwei Monaten nach o.g. Aufforderung keine entsprechende Stellungnahme ab, so darf Klage – unter Einhaltung der Klagefrist von zwei Monaten – Klage erhoben werden, vgl. Art. 265 II S. 2 AEUV.

4. Klagegegenstand

Der Klagegegenstand besteht aus dem Unterlassen eines Beschlusses im Sinne der vollständigen Unterlassung einer Entscheidung. Der Begriff Beschluss ist dabei weit auszulegen. Erfasst werden daher neben verbindlichen Rechtsakten auch Empfehlungen und Stellungnahmen. Unverbindliche Akte sind gem. Art. 263 I 1 AEUV ausgeschlossen. Aufgrund der Spiegelbildlichkeit der Nichtigkeits- und Anfechtungsklage können diese daher auch im Rahmen der Untätigkeitsklage nicht Klagegenstand sein.
Der Klagegegenstand darf dabei nicht über den des Vorverfahrens hinausgehen. Eine Ausdehnung des Verstoßes würde zur Unzulässigkeit der Klage führen.

5. Klagebefugnis

Hinsichtlich der Klagebefugnis ist danach zu unterscheiden, ob es sich um eine Staaten- oder Organklage im Sinne von Art. 265 I AEUV oder um eine Individualklage (Klage natürlicher oder juristischer Person) im Sinne von Art. 265 III AEUV handelt.

a) Die Kläger einer Staaten- oder Organklage sind privilegiert klagebefugt, sie benötigen also keine besondere Klagebefugnis. Für die Mitgliedsstaaten und Organe der Union handelt es sich daher um ein objektives Verfahren.

b) Bei Individualklagen ergibt sich die Klagebefugnis aus der Adressatenstellung der unterlassenen Entscheidung, d.h. wenn ein Organ es unterlassen hat, einen rechtsverbindlichen Akt an sie zu richten, Art. 265 III AEUV. Darüber hinaus hat das EuG anerkannt, dass natürliche und juristische Personen auch dann Klagen können, wenn ein Organ es unterlassen hat, einen Beschluss zu erlassen, der den Kläger unmittelbar und individuell betroffen hätte (EuG, Rs. T-95/96 (Gestevisión Telecino), Slg. 1998, II-3407 (Rn. 57 ff.)). Diese Erweiterung der Klagemöglichkeit über den Wortlaut des Art. 265 III AEUV hinaus, hat besonders bei Konkurrentenklagen im Beihilferechte Bedeutung. Zum Beispiel, wenn die Kommission es unterlassen hat, einen Beschluss nach Art. 108 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV zu erlassen. Die individuelle Betroffenheit bestimmt sich nach der Plaumannformel.

6. Klagefrist

Gemäß Art. 265 II S. 2 AEUV beträgt die Klagefrist zwei Monate nach Ablauf der zweimonatigen Stellungnahmefrist im Rahmen des Vorverfahrens.

Bezüglich der Fristberechnung sind Art. 49 ff. VerfO EuGH, bzw. Art. 101 f. VerfO EuG zu beachten.

7. Rechtsschutzinteresse

Das Rechtsschutzinteresse ist dann gegeben, wenn das betroffene Organ den fehlenden Beschluss bis zur Klageerhebung nicht gefasst hat. Gegebenenfalls ist hier die Untätigkeitsklage von der Nichtigkeitsklage abzugrenzen. Die Untätigkeitsklage wird dann unzulässig, wenn das Organ eine Entscheidung trifft, z.B. wenn das Organ den Antrag des Klägers ablehnt oder einen anderen als den vom Kläger gewünschten Akt erlässt. Daher führt auch eine negative Stellungnahme im Vorverfahren zur Unzulässigkeit der Untätigkeitsklage. Ist dies geschehen kann eine Nichtigkeitsklage gegen diese Entscheidung des Organs erhoben werden.

II. Begründetheit der Klage

Die Untätigkeitsklage ist begründet, wenn das Organ aufgrund des Primär – oder Sekundärrechts zum Erlass eines Beschlusses im o.g. Sinn verpflichtet war. Eine objektive Untätigkeit genügt. Es ist daher unerheblich, wie schwierig die Erfüllung der Handlungspflicht für das Organ ist.

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Vorabentscheidungsverfahren, Art. 267 AEUV

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Einleitung:

Dieser Artikel befasst sich mit dem Vorabentscheidungsverfahren.
Daneben gibt es im Europarecht noch das Vertragsverletzungsverfahren in Form der Aufsichtsklage und der Staatenklage, die Nichtigkeitsklage und die Untätigkeitsklage.

Im Folgenden wird das Vorabentscheidungsverfahren kurz dargestellt und anhand eines Prüfungsschemas genauer aufgearbeitet.

A. Das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV im Allgemeinen

Das Vorabentscheidungsverfahren dient dazu, es den nationalen Gerichten zu ermöglichen, dem EuGH Fragen bezüglich der Auslegung und Gültigkeit von Europarecht vorzulegen.
Ziel ist es, eine unterschiedliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts in den einzelnen Mitgliedstaaten zu verhindern und damit die Einheitlichkeit und Effektivität des Unionsrechts zu sichern.

Von seiner Art her weist das Vorabentscheidungsverfahren Parallelen zu unserer deutschen konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 I GG auf.

Es ist schon allein deshalb von besonderer Wichtigkeit, da das Vorabentscheidungsverfahren 50% der gesamten Verfahren vor dem EuGH ausmacht.

Folge eines Vorabentscheidungsverfahrens ist die Bindung des vorlegenden Gerichts und aller folgenden Instanzen an die Entscheidung des EuGH. Die Nichtigerklärung eines Rechtsaktes entfaltet erga omnes Wirkung.

B. Prüfschema:

I. Zulässigkeit

(1.) Rechtsweg – Achtung: gedankliche Vorprüfung!

Der Rechtsweg zum EuGH ist gem. Art. 19 III EUV i.V.m. Art. 267 AEUV eröffnet, wenn eine Verletzung von Unionsrecht gerügt wird. Es gilt insoweit das im Europarecht allgemeingültige Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 19 III EUV. Siehe insbesondere Art. 19 III lit. c EUV: „in allen in den Verträgen vorgesehenen Fällen“.
Im Europarecht wird die Eröffnung des Rechtswegs allerdings nicht ins Gutachten mit aufgenommen, sie dient lediglich als gedankliche Vorprüfung und stellt keinen eigenen Prüfungspunkt dar!

1. sachliche Zuständigkeit

Sachlich zuständig ist ausschließlich der EuGH. Gemäß Art. 256 III S. 1 AEUV ist jedoch in Ausnahmefällen das EuG zuständig. Von dieser Möglichkeit wurde bis jetzt kein Gebrauch gemacht.

2. Vorlageberechtigung

Gemäß Art. 267 II AEUV muss die Vorlage durch ein Gericht eines Mitgliedstaates erfolgen.

Der Begriff „Gericht“ ist dabei unionsrechtlich zu verstehen. Danach muss das Gericht ein auf gesetzlicher (hoheitlicher) Grundlage eingerichteter ständiger Spruchkörper sein, dessen Zuständigkeit obligatorisch ist und der dazu berufen ist, auf der Grundlage eines rechtsstaatlich geordneten Verfahrens in richterlicher (sachlicher) Unabhängigkeit Rechtsstreitigkeiten verbindlich zu entscheiden (EuGH, Rs. 61/65 (Vassen-Göbbels), Slg. 1966, 583, Rn. 2 ff.). Dabei muss das Recht und nicht nur Billigkeit der Entscheidungsmaßstab sein.

3. Gegenstand des Verfahrens und zulässige Vorlagefrage

Was ein zulässiger Vorlagegegenstand sein kann ist in Art. 267 I lit. a und lit. b AEUV normiert. Erforderlich ist in beiden Fällen eine abstrakte Formulierung der Vorlagefrage.

a) Nach Art. 267 I lit. a AEUV entscheidet der EuGH über die Auslegung der Verträge, folglich über das gesamte primäre Unionsrecht.

b) Nach Art. 267 I lit. b AEUV entscheidet der EuGH aber auch über die Gültigkeit und Auslegung der Handlungen der in Art. 13 I EUV genannten Unionsorgane, insbesondere über das gesamte sekundäre Unionsrecht, z.B. auch über Stellungnahmen und Empfehlungen. Prüfungsmaßstab ist diesbezüglich das gesamte höherrangige Unionsrecht. Daneben entscheidet der EuGH über die Gültigkeit und Auslegung der Handlungen der Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union.

4. Entscheidungserheblichkeit

Die Entscheidungserheblichkeit wird nicht vom EuGH überprüft, da diese sich meist nach nationalem Recht beurteilt und der EuGH nicht zur Anwendung und Auslegung des nationalen Rechts befugt ist. Sie bemisst sich daher vielmehr allein an der Sichtweise des vorlegenden Gerichts, vgl. Wortlaut des Art. 267 II AEUV.

Es werden jedoch auch Grenzen gesetzt: Bei Missbrauch durch konstruierte Vorlagefragen, offensichtlich hypothetischen Fragen oder fehlendem Zusammenhang der Vorlagefrage und dem Ausgangsrechtsstreit darf der EuGH die Zulässigkeit der Vorlagesache überprüfen.

5. Vorlagepflicht

Bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 267 III AEUV ist sogar eine Pflicht zu Vorlage zum EuGH gegeben: Wird eine zur Vorabentscheidung durch den EuGH berechtigte Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem nationalen Gericht gestellt, dessen Entscheidung innerstaatlich nicht mehr mit ordentlichen Rechtsmitteln angefochten werden kann, so ist dieses Gericht zur Anrufung des EuGH verpflichtet. Daher bleiben außerordentliche Rechtsbehelfe, z.B. die Verfassungsbeschwerde, außer Betracht. Ob ein konkretes Rechtsmittel zur Verfügung steht, ist für jeden Einzelfall zu beurteilen. Es kommt also nicht darauf an, dass es abstrakt ein „höheres“ Gericht gibt.
Aufgrund des Verwerfungsmonopols des EuGH sind nationale Gerichte zur Vorlage verpflichtet, wenn sie einen Rechtsakt der Union für ungültig halten und ihn daher nicht anwenden wollen. Dies gilt auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes.
Die Vorlagepflicht kann entfallen, wenn die Frage bereits vom EuGH entschieden wurde (acte éclaire) oder wenn die Frage eindeutig zu beantworten ist und somit keine Auslegung erforderlich ist (acte claire) oder es sich um ein nationales Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes handelt.

II. Vorlageentscheidung durch den EuGH

Diesbezüglich wird zwischen Auslegungsfragen und Gültigkeitsfragen unterschieden.

a) Auslegungsfrage

Bei Auslegungsfragen nimmt der EuGH eine Interpretation des EU-Rechts vor und gibt bestimmte Auslegungskriterien vor. Dies hat zum Ziel, dass das vorlegende Gericht anhand dieser Kriterien die Ausgangssache entscheiden kann.

Eine Entscheidung über eine Auslegungsfrage wirkt ex-tunc und entfaltet faktische Bindung für alle nationalen Gerichte und Behörden.

b) Gültigkeitsfrage

Bei Gültigkeitsfragen überprüft der EuGH die Vereinbarkeit konkreter EU-Rechtsakte mit höherrangigem Recht.

Eine Entscheidung über eine Gültigkeitsfrage wirkt erga omnes, das heißt in diesem Fall für jedes Gericht.

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Vertragsverletzungsverfahren, Art. 259 AEUV

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Einleitung:

Dieser Artikel befasst sich mit dem Vertragsverletzungsverfahren in Form der Staatenklage der einzelnen Mitgliedstaaten.
Daneben gibt es im Europarecht noch das Vertragsverletzungsverfahren in Form der Aufsichtsklage, die Nichtigkeitsklage, die Untätigkeitsklage und das Vorabentscheidungsverfahren.

Im Folgenden wird die Staatenklage kurz dargestellt und anhand eines Prüfungsschemas genauer aufgearbeitet.

A. Das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 259 AEUV (Staatenklage) im Allgemeinen:

Das Verfahren nach Art. 259 AUEV eröffnet dem einzelnen Mitgliedstaaten die Möglichkeit, den EuGH anzurufen, wenn er der Auffassung ist, dass ein anderer Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen hat. Es ergeht bei Erfolg der Klage ein Feststellungsurteil gem. Art. 260 I AEUV. Es handelt sich hierbei folglich um eine Feststellungsklage.

B. Prüfschema:

I. Zulässigkeit der Klage

(1.) Rechtsweg – Achtung: gedankliche Vorprüfung!

Der Rechtsweg zum EuGH ist gem. Art. 19 III EUV i.V.m. Art. 259 AEUV eröffnet, wenn eine Verletzung von Unionsrecht gerügt wird. Es gilt insoweit das im Europarecht allgemeingültige Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 19 III EUV. Siehe insbesondere Art. 19 III lit. c EUV: „in allen in den Verträgen vorgesehenen Fällen“.
Im Europarecht wird die Eröffnung des Rechtswegs allerdings nicht ins Gutachten mit aufgenommen, sie dient lediglich als gedankliche Vorprüfung und stellt keinen eigenen Prüfungspunkt dar!

1. Sachliche Zuständigkeit

Für das Vertragsverletzungsverfahren ist ausschließlich der EuGH sachlich zuständig, es erfolgt keine Zuweisung an das EuG oder ein Fachgericht, vgl. Art. 256 I AEUV (Prinzip der Spezialzuständigkeit).

2. Parteifähigkeit / Beteiligtenfähigkeit

Aktiv parteifähig ist im Fall von Art. 259 I AEUV jeder Mitgliedstaat. Aktive Parteifähigkeit bedeutet dabei, die Fähigkeit vor Gericht zu klagen.

Passiv parteifähig ist jeweils der Mitgliedstaat, dem die Verletzung des Unionsrechts vorgeworfen wird. Passive Parteifähigkeit bedeutet dabei die Fähigkeit, vor Gericht verklagt zu werden.

3. Vorverfahren

Erforderlich ist, dass dem betroffenen Mitgliedstaat vorab, im Rahmen eines sog. Vorverfahrens, die Möglichkeit gegeben wird, sich zu den Vorwürfen zu äußern. Das Vorverfahren stellt eine unabdingbare Klagevoraussetzung dar, vgl. Art. 259 II AEUV. Einzige Ausnahmen sind wie bei der Aufsichtsklage Art. 108 II UAbs. 2 AEUV, 114 IX AEUV, 348 II AEUV).
Ziel des Vorverfahrens ist eine gütliche Streitbeilegung vor Aufrufung des EuGH.

Im Unterschied zur Aufsichtsklage gliedert sich das Vorverfahren bei der Staatenklage in vier Abschnitte:

a) Vertragsverletzungsrüge

Erforderlich ist zunächst, dass der Mitgliedstaat, der das Verfahren betreiben möchte, gegenüber der Kommission eine sog. Verletzungsrüge erhebt, vgl. Art.259 II AEUV.

b) Anhörung, kontradiktorisches Verfahren

Es erfolgt auf die Vertragsverletzungsrüge eine Anhörung der streitenden Mitgliedstaaten durch die Kommission in einem kontradiktorischen Verfahren. Darin gibt die Kommission den beiden Mitgliedstaaten die Gelegenheit zu schriftlicher oder mündlicher Äußerung zu den Vorwürfen.

c) Begründete Stellungnahme der Kommission

Die Kommission erlässt gemäß Art. 259 III HS. 1 AEUV eine begründete Stellungnahme zu dem im Raum stehenden Verstoß.

Obwohl die Stellungnahme zwingende Voraussetzung für die Erhebung der Klage ist, berührt die darin enthaltene Auffassung das Klagerecht des Mitgliedstaats jedoch nicht. Dieses besteht unabhängig davon, ob die Kommission von einem Vertragsverstoß ausgeht oder nicht (vgl. dazu Ausführungen unter dem nächsten Punkt d).

d) Ablauf der 3-Monats-Frist

Gibt die Kommission innerhalb von drei Monaten nach der Vertragsverletzungsrüge keine Stellungnahme ab, so kann ungeachtet des Fehlens dieser Stellungnahme vor dem EuGH geklagt werden, vgl. Art. 259 III AEUV.

Erfolgt eine sofortige Stellungnahme, so kann im Anschluss daran sofort Klage erhoben werden. Die 3-Monats-Frist ist in diesem Fall obsolet.

4. Klagegegenstand

Hier kann auf die Ausführungen zur Aufsichtsklage verwiesen werden. Auch bei Art. 259 AEUV muss ein Verstoß gegen primäres oder sekundäres Unionsrecht möglich erscheinen, dabei muss der Klagegegenstand mit dem Gegenstand des Vorverfahrens identisch sein.

5. Rechtsschutzinteresse

Ein besonderes Rechtsschutzinteresse in Form einer Klagebefugnis ist nicht erforderlich. Vielmehr genügt es, dass eine Vertragsverletzung objektiv möglich ist und der klagende Mitgliedstaat von der Verletzung überzeugt ist.

II. Begründetheit der Klage

Die Klage ist begründet, wenn der geltend gemachte Verstoß gegen das Unionsrecht tatsächlich vorliegt.

Dies ist dann der Fall, wenn der vorgeworfene Sachverhalt zutreffend ist, dem Mitgliedstaat zurechenbar ist und ein Verstoß gegen das primäre oder sekundäre Recht der Union festgestellt werden kann sowie keine Rechtfertigungsgründe vorliegen.

Von besonderer Wichtigkeit sind diesbezüglich Verstöße gegen die Grundfreiheiten oder gegen die Pflicht zur fristgerechten und ordnungsgemäßen Umsetzung von Richtlinien.

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Vertragsverletzungsverfahren, Art. 258 II AEUV

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Einleitung:

Dieser Artikel befasst sich mit dem Vertragsverletzungsverfahren in Form der Aufsichtsklage der Kommission.
Daneben gibt es im Europarecht noch das Vertragsverletzungsverfahren in Form der Staatenklage, die Nichtigkeitsklage, die Untätigkeitsklage und das Vorabentscheidungsverfahren.

Im Folgenden wird die Aufsichtsklage kurz dargestellt und anhand eines Prüfungsschemas genauer aufgearbeitet.

A. Das Verfahren nach Art. 258 AEUV im Allgemeinen:

Das Verfahren nach Art. 258 AEUV ermöglicht der Kommission den EuGH anzurufen, wenn sie der Meinung ist, dass ein Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoße hat, Art. 260 I AEUV.

Unter einer Vertragsverletzung ist grundsätzlich zu verstehen, dass eine unionsrechtliche Norm nicht oder falsch angewendet worden ist. Primäres und sekundäres Unionsrecht werden dabei gleichermaßen erfasst.

Bei dem Vertragsverletzungsverfahren handelt es sich folglich um eine Feststellungsklage. Diese dient der Erfüllung der Aufgabe der Kommission, für die Anwendung der Verträge und des Sekundärrechts Sorge zu tragen. Die Kommission tritt dabei als „Hüterin der Verträge“ auf.

Folge des Vertragsverletzungsverfahrens ist immer ein Feststellungsurteil: Dem Mitgliedstaat wird auferlegt, die Vertragsverletzung zu beseitigen, vgl. Art. 260 I AEUV. Diesbezügliche Vollstreckungsmöglichkeiten sind in Art. 260 II AEUV geregelt.

B. Prüfschema:

I. Zulässigkeit der Klage

(1.) Rechtsweg – Achtung: gedankliche Vorprüfung!

Der Rechtsweg zum EuGH ist gem. Art. 19 III EUV i.V.m. Art. 258 II AEUV eröffnet, wenn eine Verletzung von Unionsrecht gerügt wird. Es gilt insoweit das im Europarecht allgemeingültige Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 19 III EUV. Siehe insbesondere Art. 19 III lit. c EUV: „in allen in den Verträgen vorgesehenen Fällen“.
Im Europarecht wird die Eröffnung des Rechtswegs allerdings nicht ins Gutachten mit aufgenommen, sie dient lediglich als gedankliche Vorprüfung und stellt keinen eigenen Prüfungspunkt dar!

1. Sachliche Zuständigkeit

Für das Vertragsverletzungsverfahren ist ausschließlich der EuGH sachlich zuständig, es erfolgt keine Zuweisung an das EuG oder ein Fachgericht, vgl. Art. 256 I AEUV (Prinzip der Spezialzuständigkeit).

2. Parteifähigkeit / Beteiligtenfähigkeit

Aktiv parteifähig ist im Fall von Art. 258 II AEUV die Kommission. Aktive Parteifähigkeit bedeutet dabei die Fähigkeit, vor Gericht klagen zu können.

Passiv parteifähig ist jeweils der Mitgliedstaat, dem die Verletzung des Unionsrechts vorgeworfen wird. Passive Parteifähigkeit bedeutet dabei die Fähigkeit, vor Gericht verklagt zu werden.

3. Vorverfahren

Erforderlich ist, dass dem betroffenen Mitgliedstaat vorab, im Rahmen eines sog. Vorverfahrens, die Möglichkeit gegeben wird, sich zu den Vorwürfen zu äußern. Das Vorverfahren stellt eine unabdingbare Klagevoraussetzung dar, vgl. Art. 258 I AEUV. Einzige Ausnahmen sind Art. 108 II UAbs. 2 AEUV, 114 IX AEUV, 348 II AEUV, nur in diesen Konstellationen ist eine unmittelbare Anrufung des EuGH seitens des Kommission zulässig.
Ziel des Vorverfahrens ist eine gütliche Streitbeilegung vor Aufrufung des EuGH.

Das Vorverfahren gliedert sich dabei in drei Abschnitte:

a) Mahnschreiben

Das Vorverfahren beginnt damit, dass die Kommission dem Mitgliedsstaat für jede Vertragsverletzung Gelegenheit zur Stellungnahme gibt, Art. 258 I a.E. AEUV. Dies erfolgt in der Regel mit einem ersten Mahnschreiben der Kommission. Es enthält folgende Bestandteile:

aa) Konkretisierung des Verstoßes unter Nennung der möglicherweise verletzten Norm

bb) Ankündigung der Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens

cc) Aufforderung, zu den Vorwürfen innerhalb einer bestimmten Frist Stellung zu nehmen. Die Frist beträgt dabei in der Regel zwei Monate. Der Mitgliedsstaat ist nicht verpflichtet dieser nachzukommen.

b) Stellungnahme

Nach Ablauf der Äußerungsfrist kommt es zu einer begründeten Stellungnahme der Kommission, sofern diese immer noch von einem Vertragsverstoß überzeugt ist, vgl. Art 258 I AEUV. Ziel der begründeten Stellungnahme ist es, dem Mitgliedstaat letztmalig die Möglichkeit zu verschaffen, den Verstoß durch Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände zu beseitigen. Die begründete Stellungnahme beinhaltet dabei:

aa) Rechtliche Beurteilung und Darstellung der Tatsachen und Gründe für die Verletzung unter Nennung von Beweismitteln.

bb) Jedoch keine Erweiterung des Streitgegenstandes gegenüber dem ersten Mahnschreiben, da sonst ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör der Mitliedstaates vorliegen würde.

cc) Erneute Fristsetzung zur Beseitigung der Vertragsverletzung. Die Frist beträgt auch hier regelmäßig zwei Monate.

c) Fruchtloser Fristablauf

Hilft der Mitgliedstaat dem Verstoß nicht innerhalb der gesetzten Frist ab, so kann die Kommission den EuGH anrufen, Art. 258 II AEUV. Im Anschluss ist die Klageerhebung dann an keine Frist gebunden.

4. Klagegegenstand

Der Klagegegenstand besteht aus Verstößen gegen das primäre und sekundäre Unionsrecht. Er muss dabei dem Streitgegenstand in der Form entsprechen, wie er im Vorverfahren festgelegt wurde. Eine Ausdehnung des Verstoßes würde zur Unzulässigkeit der Klage führen.

5. Rechtsschutzinteresse

Die Kommission ist zur Erhebung des Vertragsverletzungsverfahrens privilegiert klagebefugt. Sie entnimmt ihre Ermächtigung dazu aus Art. 17 I S. 1 und 3 EUV.
Nach Ansicht des EuGH und der herrschenden Literatur steht die Erhebung der Klage folglich im Ermessen der Kommission, es genügt diesbezüglich eine objektiv mögliche Vertragsverletzung. Eine andere Ansicht sieht eine Klagepflicht seitens der Kommission vor.
Folgende Voraussetzungen müssen in jedem Fall gegeben sein:

aa) Überzeugung der Kommission von der Vertragsverletzung

bb) Keine Beseitigung der Verletzung des Verstoßes durch den Mitgliedstaat nach Ablauf der im Vorverfahren gesetzten Frist, bzw. nach Klageerhebung.

cc) Sollte der Verstoß bereits beseitigt sein, bedarf es eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses seitens der Kommission an der Feststellung des Verstoßes.
Bezüglich des Feststellungsinteresses kann dabei auf die für eine Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 I S. 4 VwGO analog konzipierten Fallgruppen zurückgegriffen werden: Ein solches ist demnach in der Regel dann zu bejahen, wenn Wiederholunggefahr besteht, die aufgeworfenen Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung sind oder wenn die Verurteilung des Mitgliedstaats Voraussetzung für Haftungsansprüche sein kann (beispielsweise im Rahmen eines Staatshaftungsanspruchs).

II. Begründetheit der Klage

Die Klage ist begründet, wenn der geltend gemachte Verstoß gegen das Unionsrecht tatsächlich vorliegt.
Dies ist dann der Fall, wenn der vorgeworfene Sachverhalt zutreffend ist, dem Mitgliedstaat zurechenbar ist und ein Verstoß gegen das primäre oder sekundäre Recht der Union festgestellt werden kann sowie keine Rechtfertigungsgründe vorliegen.

Von besonderer Wichtigkeit sind diesbezüglich Verstöße gegen die Grundfreiheiten oder gegen die Pflicht zur fristgerechten und ordnungsgemäßen Umsetzung von Richtlinien.

Vielen Dank, dass Sie diesen Beitrag gelesen haben. Wir hoffen, dass er Ihnen weiterhelfen oder zumindest Ihr Interesse wecken konnte. Hier finden Sie den Beitrag Vertragsverletzungsverfahren, Art. 258 II AEUV auf unserer Website Jura Individuell.

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

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I. Allgemeines

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist ein (ungeschriebener) Teil des Rechtsstaatsprinzips. Die meiste Klausurrelevanz findet er bei den Grundrechten. Bei dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geht es letztlich darum, dass staatliche Gewalt gegenüber den Bürgern schonend und nur bei wirklicher Dringlichkeit angewandt werden soll.

Der Staat sollte also nicht härter durchgreifen als erforderlich. Deswegen wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz oft auch als Übermaßverbot bezeichnet. Die Rechtsgrundlage und Daseinsberechtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ergibt sich aus dem Verhältnis zwischen den Freiheitsrechten eines jeden Einzelnen einerseits und der Einbindung der betroffenen Person in die Gesellschaft andererseits. So ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ein Mittel der Abwägung. Diese Abwägung sollte in (Grundrechts-) Klausuren auch stets ausführlich erfolgen. Dabei ist es wichtig, unabhängig von der eigenen Meinung oder dem sich abzeichnenden „richtigen“ Weg, beide in Frage stehenden Rechtsgüter umfassend zu beleuchten. Man sollte möglichst für beide Rechtsgüter Pro- und Contra-Argumente benennen und darlegen.

II. Anwendbarkeit

Sachlich gesehen gilt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für alle Hoheitsakte. Das bedeutet, dass alle Gesetze, Verwaltungsakte, Satzungen und Verordnungen auf ihre Verhältnismäßigkeit zu überprüfen sind.

Wie bei vielen Grundsätzen gilt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz jedoch nicht zwischen Staatsorganen untereinander. Er ist nur in dem Verhältnis von Staat zu Bürger anwendbar.

III. Prüfungsablauf

Grob gesehen besteht die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus vier Punkten. Danach ist eine staatliche Maßnahme verhältnismäßig, wenn sie 1. einen legitimen Zweck hat, 2. geeignet, 3. erforderlich und 4. angemessen ist.

1. Legitimer Zweck

Der Prüfungspunkt des legitimen Zwecks ist relativ weit gefasst und lässt sich schwer eingrenzen. Bei der Erörterung dieses Prüfungspunktes hilft es, folgende Fragen durchzugehen:

a. Welchen Zweck verfolgt der Staat durch seine Maßnahme?

Der Zweck der staatlichen Maßnahme ist meist durch Auslegung nach dem Wortlaut, der Systematik und durch Einordnung der Situation herauszufinden. Hier ergeben sich selten Schwierigkeiten.

b. Ist der Zweck legal?

Bei der Legitimität des Zwecks ist eher Aufmerksamkeit geboten. Hier ist zu unterscheiden zwischen der Verwaltung, der Rechtsprechung und der Gesetzgebung. Die beiden Erstgenannten sind bei der Legitimität des Zwecks an das Gesetz gebunden. Die Gesetzgebung hingegen kann auch Ziele/Zwecke verfolgen, welche nicht ausdrücklich in der Verfassung erwähnt werden. Ausgeschlossen sind dabei nur solche Zwecke, die im Widerspruch zur Verfassung stehen. Besonders zu beachten ist der legitime Zweck bei einem Eingriff in (dem Wortlaut nach) unbeschränkbare Grundrechte. Hier muss der Zweck in dem Schutz von Grundrechten Dritter oder in dem Schutz von Verfassungsgütern von Rang liegen.

c. Welches Mittel nutzt der Staat?

Anschließend ist das vom Staat benutzte Mittel herauszufinden. Auch dies ergibt sich meist leicht aus dem Sachverhalt und bedarf eher selten einer genaueren Darstellung.

d. Ist das Mittel legal?

Neben dem angestrebten Zweck muss auch das gewählte Mittel legal sein. Würde zum Beispiel beschlossen, Steuersünder in Zukunft zu steinigen, um die Steuerkriminalität einzudämmen, so wäre der Zweck (= die Bekämpfung der Steuerkriminalität) legal. Das Mittel allerdings (= Todesstrafe) nicht (vgl. Art. 102 GG).

2. Das Mittel muss geeignet sein

Definition: Das Mittel ist dann geeignet, wenn der damit verfolgte Zweck überhaupt erreicht oder zumindest gefördert werden kann.

Ungeeignet ist das Mittel auf jeden Fall dann, wenn die Erfüllung des Zwecks mit der Maßnahme objektiv unmöglich ist. Gleiches gilt, wenn die Maßnahme unzureichend ist.

Die Beurteilung, ob das Mittel geeignet ist, richtet sich immer nach dem Zeitpunkt des Erlassens. Wird die Maßnahme zu einem späteren Zeitpunkt unzureichend, so spielt dies keine Rolle. Stellt sich die Maßnahme jedoch nachträglich als ungeeignet heraus – was im häufigsten Falle bei der Gesetzgebung passiert -, so kann der Staat zur Nachbesserung verpflichtet werden.

Beispiel: Der Gesetzgeber versucht dem illegalen Drogenhandel entgegenzuwirken, indem gewisse Menschen unter ärztlicher Aufsicht Drogen legal verschrieben bekommen. Dieses Mittel scheint geeignet, den illegalen Drogenhandel einzudämmen. Aufgrund des weiten Spielraums der Gesetzgebung ist dieses Mittel auch nicht verfassungswidrig. Stellt sich jedoch nach einiger Zeit heraus, dass diese Maßnahme den Drogenkonsum lediglich fördert und dem Drogenhandel nicht in der gewollten Form Einhalt gebietet, so kann die Gesetzgebung zur Nachbesserung des Gesetzes verpflichtet werden.

Da der Staat einen großen Spielraum für Zukunftsprognosen hat, kommt der Geeignetheit in Klausuren meist eine untergeordnete Rolle zu. Überwiegend erfüllen oder fördern die Maßnahmen den angestrebten Zweck.

3. Das Mittel muss erforderlich sein

Definition: Das gewählte Mittel ist dann erforderlich, wenn es keine mildere Maßnahme gibt, die denselben Erfolg mit gleicher Sicherheit erzielt.

An dieser Stelle der Klausur ist Kreativität gefragt. Es ist sinnvoll, eigene Lösungsansätze zum Erreichen des Ziels herauszuarbeiten oder für bereits vorhandene Lösungen eine mildere Umsetzung zu finden. Zu beachten ist bei diesem Prüfungspunkt aber immer, dass die Alternative gleich geeignet sein muss.

Beispiel: Die Stadt Köln möchte die Verletzungsgefahr durch herumliegende Glasflaschen nach den Karnevalstagen möglichst gering halten. Daher verbietet sie den Getränkekonsum auf den Straßen. Ein milderes und gleich geeignetes Mittel würde es hier darstellen, wenn man den Getränkekonsum nur in Pappbechern gestattet.

Würde die Stadt aber versuchen die Verschmutzung nach den Karnevalstagen zu verringern, wäre die Alternative der Pappbecher zwar immer noch ein milderes Mittel, aber nicht gleich geeignet. Eine Verschmutzung wäre durch die Becher ebenso gegeben wie durch die Glasflaschen.

4. Das Mittel muss angemessen sein

Definition: Die Maßnahme ist angemessen, wenn der beabsichtigte Zweck nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs steht.

Dieser Punkt ist eindeutig der Schwerpunkt in jeder Verhältnismäßigkeitsprüfung, weswegen man ihm große Aufmerksamkeit schenken sollte. Auch wenn hier viel diskutiert wird, sollte man die Prüfung der Angemessenheit klar strukturiert und sachlich aufbauen, um sich nicht in der Argumentation zu verlieren. Dieser Prüfungspunkt, der häufig auch als Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne bezeichnet wird, beschäftigt sich mit der Zumutbarkeit der gewählten Maßnahme. Hier erfolgt also die Abwägung zwischen den betroffenen Rechtsgütern.

Zunächst sollte der zu erreichende Zweck festgestellt und die Gewichtung des darin enthaltenen Rechtsgutes herausgearbeitet werden.

Anschließend geschieht das gleiche für den Eingriff und das durch diesen beeinträchtigte Rechtsgut.

Nachdem man beide Rechtsgüter dargelegt und ausführlich beschrieben hat, folgt die Abwägung zwischen beiden. Dabei ist stets zu beachten, dass der zu erreichende Zweck mindestens so bedeutsam sein muss wie das Rechtsgut, in welches eingegriffen werden soll. In die genannte Abwägung sind grundsätzlich alle vorhandenen Rechtspositionen und Wertentscheidungen einzubeziehen, die die Maßnahme und das dadurch eingeschränkte Rechtsgut betreffen.

Somit ergeben sich für die Angemessenheit folgende Punkte, die strukturiert abgearbeitet werden sollten:

a. Bennenung

Zunächst benennt man die sich gegenüberstehenden Rechtsgüter oder Rechtspositionen. Das bedeutet also Benennung sowohl des durch den Eingriff belasteten Rechtsguts, als auch jenes, welches durch den Eingriff – oder die Maßnahme – geschützt oder gefördert werden soll.

b. Abwägung

Anschließend wägt man die sich widerstreitenden Interessen gegeneinander ab. Dies erfolgt wiederum in zwei Schritten:

– Zunächst ist der jeweilige Rang (bzw. die Gewichtigkeit) der Rechtsgüter zu bestimmen.

– Sodann ist die Intensität der Gefährdung des zu schützenden Rechtsguts gegen die Schwere der Beeinträchtigung des Rechtsguts, in welches eingegriffen werden soll, abzuwägen.

Hilfreiche Anhaltspunkte für diese Darstellung sind Dauer, Ausmaß und Häufigkeit.

Beispiel:

L ist Lehrerin an einer staatlichen Schule und Muslimin. Auch während des Unterrichts möchte sie ihren Glauben nicht „ablegen“ und besteht daher darauf, den Unterricht mit Kopftuch führen zu dürfen. Die Schulbehörde möchte ihr dies verbieten.

Zunächst müssen also die sich gegenüberstehenden Grundrechte herausgearbeitet werden. Ziemlich offensichtlich stehen sich hier die Religionsfreiheit der Lehrerin und die der Schüler gegenüber (Art. 4 I, II GG).

Man darf aber auch andere Grundrechte wie zum Beispiel das Erziehungsrecht der Eltern (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) nicht vergessen. Auch die Neutralität des Staates in Religionsfragen spielt eine Rolle.

Bei der Prüfung der Angemessenheit darf man sich gerne des Grundsatzes „Viel hilft viel“ bedienen. Dabei ist jedoch stets darauf zu achten, dass man die genannten Grundrechte vernünftigerweise und zu Recht anspricht.

Für die Bestimmung der Intensität des Eingriffs finden sich in den meist sehr ausführlichen Sachverhalten viele Argumente und Hinweise, worauf man eingehen sollte. Gerade deswegen ist es bei diesen Klausuren sehr wichtig, nahe am Sachverhalt zu arbeiten. Die Schwierigkeit besteht häufig darin, dass es kein eindeutiges „Richtig“ oder „Falsch“ gibt. Somit sollte man sich stets an den herausgearbeiteten Grundrechten orientieren und für jede Seite Argumente finden. Wie so häufig in juristischen Klausuren ist hier der Weg das Ziel. Wichtig ist nicht das Ergebnis an sich, sondern wie man auf eben dieses Ergebnis kommt. Es muss bewiesen werden, dass man sich in dem Dschungel der Grundrechte auskennt und diesen wissenschaftlich und argumentativ korrekt darstellen kann.

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Art. 3 GG in der Klausur

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Die Prüfung des Art. 3 GG im Rahmen von Klausuren mit verfassungsrechtlichem Einschlag findet zumeist erst im Anschluss an die Prüfung von Freiheitsgrundrechten statt und die Darstellung leidet daher in aller Regel unter Zeitknappheit und fortschreitender, erschöpfungsbedingter Unkonzentriertheit des Klausurbearbeiters. Es geschieht daher bemerkenswert selten, dass dem Korrektor eine wirklich überzeugende Prüfung des Art. 3 GG begegnet. Umso mehr erfreut es ihn oder sie natürlich, wenn einmal das Gegenteil der Fall ist. Vor allem weil die Prüfung des Art. 3 GG häufig den Abschluss einer Klausur bildet, kann die Wichtigkeit gar nicht überschätzt werden, den Korrektor mit einem positiven Endeindruck aus der Klausur zu verabschieden.

Der Klausurbearbeiter soll aber auch beruhigt werden: Gerade bei der Prüfung von Art. 3 GG finden sich in der Ausbildungsliteratur häufig verschiedene Herangehensweisen und Prüfungsschemata. Dies bedeutet also, dass derjenige, der recherchiert, kein so einheitliches Bild wie bei der Prüfung von Freiheitsgrundrechten auffinden wird.

Mit diesem Wissen im Hinterkopf möchte dieser Artikel den Leser an die Prüfung des Art. 3 GG heranführen und an gebotener Stelle vertiefend auf gewisse Problematiken hinweisen, etwa wie die Verhältnismäßigkeit im Rahmen des Art. 3 GG zu prüfen ist – das bereitet nämlich den meisten Kandidaten Kopfschmerzen.

I. Allgemeines zur Struktur des Art. 3 GG

Schauen wir uns zunächst einmal die einzelnen Absätze des Art. 3 GG an und verlieren ein paar allgemeine Worte dazu.

Art. 3 I GG verbürgt das allgemeine Gleichheitsgrundrecht. Es enthält das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit (Gleichheit vor dem Gesetz) und das der Rechtssetzungsgleichheit (Gleichheit des Gesetzes). Wichtig ist vor allem, dass es das Verbot der Ungleichbehandlung ohne sachlichen Grund enthält.

Art. 3 II und III GG sind nach dem Bundesverfassungsgericht lediglich Konkretisierungen des Art. 3 I GG.

Art. 3 II GG enthält ein Differenzierungsverbot aufgrund des Geschlechts. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts enthält Art. 3 II GG auch den Auftrag an den Gesetzgeber, künftige Ungleichbehandlungen zu verhindern (Staatszielbestimmung). Möglich sind Ungleichbehandlungen allerdings in engen Ausnahmen, die dann gegeben sind, wenn objektiv biologische Unterschiede eine besondere Regelung erlauben oder gebieten.

Art. 3 III GG enthält ein Differenzierungsverbot aufgrund der dort aufgeführten Merkmale: Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben, religiöse und politische Anschauungen.

Auch wenn dieser Artikel sich mit Art. 3 GG beschäftigt, sei noch auf folgende Normen aus dem Grundgesetz hingewiesen:

  • Art. 6 V GG, der nach dem Bundesverfassungsgericht eine Konkretisierung des Art. 3 I GG darstellt: Die Norm enthält einen bindenden Auftrag an den Gesetzgeber, nichtehelichen Kindern die gleichen Lebensbedingungen zu schaffen wie ehelichen Kindern und eine verfassungsrechtliche Wertentscheidung, die die Gerichte und die Verwaltung bei der Ausübung des Ermessens bindet. Den Auftrag hat der Gesetzgeber mittlerweile nahezu vollständig erfüllt.
  • Art. 33 I-III GG, die sowohl eine Konkretisierung des Art. 3 I GG als auch eine Ergänzung der Art. 3 II und III GG darstellen. Art. 33 I GG enthält eine Garantie für gleiche staatsbürgerliche Rechte und Pflichten für alle Deutschen in dem jeweiligen Bundesland (wenn es etwa um Wahlrecht oder Zugang zu Ausbildungsstätten geht). Art. 33 II GG hat zwei Seiten: Einerseits den Schutz der Verwaltung vor nicht geeigneten Bewerbern als auch den Schutz des einzelnen Bewerbers vor ungerechtfertigter Benachteiligung (Eignungs-, Befähigungs- und Leistungsprinzip). Art. 33 III GG verbietet Ungleichbehandlungen aufgrund des religiösen Bekenntnisses; ein Gedanke, der sich auch in Art. 3 III, 33 II, 4 I, II GG und Art. 140 GG i.V.m. 136 I, II Weimarer Reichsverfassung wiederfindet.
  • Art. 38 I 1 GG, der unter anderem die Gleichheit der Wahl garantiert und als lex specialis dem Art. 3 GG vorgeht (was im Jahr 1999 eine Abkehr von der bis daher geltenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darstellte). Geschützt sind das aktive und passive Wahlrecht und Differenzierungen diesbezüglich bedürfen Rechtfertigungsgründen von besonders starkem Gewicht.

II. Prüfung des Art. 3 I GG

Im Grundsatz basiert die Prüfung des Art. 3 I GG auf einem ganz einfachen Satz: Er ist verletzt, wenn wesentlich Gleiches ohne sachlichen Grund ungleich behandelt wird. Das ist der Fall, wenn eine Personengruppe oder Situation rechtlich anders behandelt wird als eine vergleichbare andere Personengruppe oder Situation.

1. Bilden einer Vergleichsgruppe

Zunächst muss der Klausurbearbeiter die verschiedenen Personengruppen oder Situationen unter einen gemeinsamen Oberbegriff (genus proximum) als Bezugspunkt (tertium comparationis) zusammenfassen.

Jura-Individuell-Hinweis: Unterschiedlich behandelte Personengruppen oder Situationen sind nicht vergleichbar, wenn sie nicht derselben Rechtsetzungsgewalt unterfallen (also Ungleichbehandlung wegen unterschiedlicher Regelungen durch Landesrecht, denn im Bereich der Länderzuständigkeiten müssen länderübergreifend keine identischen Regelungen bestehen).

2. Feststellen einer Ungleichbehandlung

Im Anschluss gilt es, die Ungleichbehandlung zu benennen. Das wird in der Regel sehr leicht fallen.

Jura-Individuell-Hinweis: Eine Ungleichbehandlung muss nicht direkt oder gewollt sein. Sie kann nach heute herrschender Meinung auch in mittelbarer und unbewusster Form auftreten, etwa wenn ein Gesetz zwar geschlechtsneutral formuliert ist, es rein tatsächlich aber vor allem zu Nachteilen bei Frauen führt.

3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

In der frühen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genügte es, wenn ein sachlicher Grund gegeben war. Anfänglich wurde das so verstanden, dass ein legitimes Differenzierungskriterium zu wählen war. Etwas später wurde dann auch ein legitimes Differenzierungsziel gefordert. Dies wurde von der Literatur die sog. „Willkürformel“ getauft. Heutzutage nimmt das Bundesverfassungsgericht nach der sog. „neuen Formel“ auch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor, deren Intensität sich danach bemisst, ob bestimmte Kriterien erfüllt sind. Diese Kriterien sind zu beachten:

  • Es werden Personengruppen und nicht Situationen unterschiedlich behandelt (auch das Bundesverfassungsgericht sieht aber, dass sich aus der Ungleichbehandlung von Sachverhalten mittelbar eine Ungleichbehandlung von Personengruppen ergeben kann).
  • Es wurde durch die staatliche Maßnahme zugleich in den Schutzbereich eines speziellen Freiheitsgrundrechtes eingegriffen.
  • Das Differenzierungskriterium ähnelt den verbotenen Unterscheidungsmerkmalen in Art. 3 III GG.
  • Der Einzelne hat keinen Einfluss auf das Vorliegen des Differenzierungskriteriums.

Jura-Individuell-Hinweis: Wo bleibt es dann eigentlich typischerweise bei der bloßen Willkürprüfung? Vor allem im Bereich der Leistungsverwaltung, also etwa bei Subventionen.

Kommt man zu der Feststellung, dass eine an der Intensität des Vorliegens der genannten Kriterien abgestufte Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen ist, haben die meisten Klausurbearbeiter Probleme damit, die Obersätze für die Prüfungspunkte zu bilden, die ja eigentlich aus der Prüfung der Freiheitsgrundrechte stammen. Hier wird es in der Klausur dann leider häufig recht chaotisch und unpräzise, vor allem was die unterschiedliche Behandlung von Differenzierungsziel und Differenzierungskriterien angeht. Was hinzukommt wird daher unterstrichen, um es dem Leser noch etwas klarer vor Augen zu führen.

a. Legitimes Differenzierungsziel: Hier kann man praktischerweise auf den sachlichen Grund, also das legitime Differenzierungsziel im Sinne der Willkürformel verweisen.

b. Geeignetheit der Differenzierungskriterien: Diese ist dann zu bejahen, wenn die Verwendung der Differenzierungskriterien zur Abbildung des Differenzierungszieles geeignet ist. Das ist jedenfalls dann zu bejahen, wenn das Differenzierungskriterium an diejenigen Umstände zwischen den Vergleichsgruppen anknüpft, die den Grund der Ungleichbehandlung bilden.

c. Erforderlichkeit der Differenzierung: Diese ist dann zu bejahen, wenn keine weniger belastende Differenzierung ersichtlich ist.

d. Angemessenheit: Hier gilt es sich zu fragen, ob das Differenzierungsziel gewichtig genug ist, um die konkrete Differenzierung zu rechtfertigen. Es geht also um das Verhältnis zwischen der Rechtfertigungskraft der Gründe unter Berücksichtigung von Regelungsziel, Differenzierungskriterium und Regelungskontext einerseits und den nachteiligen Folgen der Ungleichbehandlung andererseits.

III. Prüfung des Art. 3 III 1 GG

1. Anknüpfen an eines der genannten Differenzierungsmerkmale

  • Geschlecht (das ist nach dem Bundesverfassungsgericht nur eine negativ formulierte Wiederholung des Art. 3 II GG)
  • Abstammung: Wird als die biologische Beziehung eines Menschen zu seinen Vorfahren verstanden.
  • Rasse: Heutzutage natürlich ein schwieriger Begriff. Wird als eine Gruppe mit bestimmten vererbbaren Eigenschaften verstanden.
  • Sprache: Hier soll die Eigenständigkeit von völkisch-sprachlichen Minderheiten geschützt werden.
  • Heimat: Nach dem Bundesverfassungsgericht der örtliche Bereich, in dem man geboren oder ansässig ist.
  • Herkunft: Nach dem Bundesverfassungsgericht die ständisch soziale Abstammung und Verwurzelung.
  • Glaube: Umfasst auch areligiöse Einstellungen.
  • Politische Anschauungen: Umfasst das Haben, Äußern und die Umsetzung der Anschauung.
  • Zudem darf niemand wegen einer Behinderung benachteiligt werden.

2. Ungleichbehandlung

Ist es erforderlich, dass für das Eingreifen der Norm gerade „wegen“ der Merkmale ungleich behandelt wird? Früher hat das Bundesverfassungsgericht das bejaht, heute seine Meinung allerdings geändert. Ansonsten würde die Vorschrift ihres materiellen Kerns beraubt. Konsequenz ist also, dass wie bei Art. 3 I GG nicht intendierte Ungleichbehandlungen erfasst werden.

3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

Kann man eine Ungleichbehandlung überhaupt rechtfertigen, die an die Kritierien aus Art. 3 III 1 GG anknüpft oder handelt es sich um ein absolutes Differenzierungsverbot?

Grundsätzlich ist eine Rechtfertigung nicht möglich. Allerdings gibt es enge Ausnahmen, bei denen aber immer eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderlich ist:

Differenzierungen anhand der aufgezählten Eigenschaften können zum einen zulässig sein, wenn sie zur Lösung von Problemen notwendig sind, die ihrer Natur nach nur bei Personen der einen Gruppe auftreten können oder wenn das Kriterium das konstituierende Element des zu regelnden Lebenssachverhaltes bildet und die Differenzierung zwingend erforderlich ist.

Außerdem kann kollidierendes Verfassungsrecht unter Rückgriff auf eine verfassungsimmanente Schranke zur Rechtfertigung herangezogen werden. Hier muss dann eine Abwägung im Sinne der praktischen Konkordanz vorgenommen werden.

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Staatshaftungsrecht Übersicht

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Ansprüche aus der Staatshaftung können u.a. auf Realhandeln, Schadensersatz, Entschädigung oder Aufwendungsersatz gerichtet sein.

A. Ansprüche auf staatliches Handeln (Realhandeln)

1. Abwehr- und Unterlassungsansprüche

Rechtsweg

Die Einordnung, ob ein Eingriff hoheitlich oder privatrechtlich vorgenommen wurde, erfolgt je nach Fallgestaltung. Grundsätzlich kann die modifizierte Subjektstheorie zur Bestimmung des Rechtswegs herangezogen werden. Bei Äußerungen sowie bei der Ausübung des Hausrechts ist hiernach zu untersuchen, in welcher Funktion die betreffende Person gehandelt hat. Erfolgte das Handeln in Ausübung eines öffentlichen Amtes, ist der Verwaltungsrechtsweg gegeben. Wurde hingegen privatrechtlich gehandelt, ist der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten eröffnet. Nach a.A. ist im Rahmen des Hausrechts der Zweck des Besuchs entscheidend.

Allgemeines

Bei rechtswidrigem staatlichem Handeln, egal ob schuldhaft oder schuldlos, bestehen Abwehr- und Unterlassungsansprüche. Diese richten sich gegen Immissionen im weiteren Sinne, also gegen Geräusch- und Geruchsbelästigungen, aber auch gegen Äußerungen staatlicher Hoheitsträger. Abwehr- und Unterlassungsansprüche können auch schon im Vorfeld einer Maßnahme, also vorbeugend, geltend gemacht werden. Sie verdrängen ferner als Primärrechtsschutz die Geldersatzansprüche.

Rechtsgrundlagen sind Art. 20 III GG, die Abwehrfunktion der Grundrechte, § 1004 BGB analog sowie die gewohnheitsrechtliche Anerkennung.

Voraussetzungen sind
  • ein gegenwärtiger oder drohender Eingriff in ein subjektiv-öffentliches Recht,
  • die Rechtswidrigkeit des Eingriffs (keine Duldungspflicht wie z.B. aus § 906 BGB analog) und
  • das Andauern des Eingriffs (Abwehranspruch) bzw. das Bestehen einer Wiederholungs- (Unterlassungsanspruch) oder Erstbegehungsgefahr (vorbeugender Unterlassungsanspruch).
Beispiele:
  1. Abwehranspruch in Bezug auf
  • störende Immissionen, die von öffentlichen Einrichtungen eines Hoheitsträgers ausgehen,
  • eine lärmende Feuerwehrsirene,
  • einen Bolzplatz, Jahrmarkt oder Grillplatz als öffentliche Einrichtung, eine Straßenlaterne oder einen Kinderspielplatz (hier Funktionszusammenhang mit der bestimmungsgemäßen Nutzung).
  1. Ein Bürgermeister äußert sich in einer Rede abwertend über eine bestimmte Einrichtung/Person.

Rechtsfolge: Bei Äußerung einer falschen Tatsachenbehauptung kann ausnahmsweise ein Widerruf verlangt werden. Bei reinen Werturteilen und nicht erwiesenen Tatsachenbehauptungen hingegen sind gleichartige Äußerungen in der Zukunft zu unterlassen.

2. Folgenbeseitigungsanspruch

Rechtsweg: § 40 I 1 VwGO, Verwaltungsrechtsweg; Klageart: allgemeine Leistungsklage oder Verpflichtungsklage

Wenn staatliches Handeln zu einem rechtswidrigen Zustand geführt hat, so besteht ein Folgenbeseitigungsanspruch. Dabei ist es unerheblich, ob das Handeln rechtmäßig oder rechtswidrig war. Denn allein entscheidend ist hier das Erfolgsunrecht. Im Gegensatz zum Abwehr- und Unterlassungsanspruch, der auf die Rechtwidrigkeit der Handlung abstellt, basiert der Folgenbeseitigungsanspruch also auf der Rechtswidrigkeit der Folgen.

Der Folgenbeseitigungsanspruch ist auf die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands gerichtet.

Rechtsgrundlagen sind Art. 20 III GG und die gewohnheitsrechtliche Anerkennung. Demgegenüber sind Grundrechte hier keine geeignete Anspruchsgrundlage, da es sich dabei um Abwehrrechte gegen den Staat handelt. Die Wiederherstellung eines Zustandes ist davon mithin nicht erfasst.

Voraussetzungen sind
  • ein rechtswidriger Zustand (Erfolgsunrecht),
  • ein hoheitlicher Eingriff in ein subjektiv-öffentliches Recht,
  • das Andauern des rechtswidrigen Zustands,
  • kein Anspruchsausschluss sowie
  • ggf. ein Mitverschulden analog § 254 BGB.

Der Anspruch entfällt bei tatsächlicher oder rechtlicher Unmöglichkeit der Wiederherstellung. Bei Unzumutbarkeit der Herstellung kommt ferner ein Folgenersatzanspruch in Betracht.

Beispiele:
  • Anspruch auf Rückgabe eines Grundstücks, das zu Unrecht in eine Straßenbaumaßnahme einbezogen wurde.
  • Rückgabe einer beschlagnahmten Sache nach Aufhebung der Beschlagnahmeverfügung.

Zum Folgenersatzanspruch:

Eine Ansicht will § 251 BGB analog anwenden und Geldausgleich gewähren. Nach anderer Ansicht kann hingegen auf die Entschädigungsansprüche aus enteignendem, enteignungsgleichem und aufopferungsgleichem Eingriff sowie aus Aufopferung zurückgegriffen werden. Es besteht damit keine planwidrige Regelungslücke. Letzterer Ansicht ist aus systematischen Gründen zu folgen. Ein Folgenersatzanspruch existiert daher nicht.

Besonderheit ist der

Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch.

Rechtsweg: § 40 I 1 VwGO, Verwaltungsrechtsweg. Klageart: Leistungsklage

Hier besteht ein rechtswidriger Zustand infolge eines rechtswidrigen oder rechtmäßigen, bereits vollzogenen VA. Voraussetzung ist also, dass sich der VA bereits erledigt hat (§ 43 II VwVfG), da andernfalls ein Vorgehen mittels einer Anfechtungsklage statthaft wäre. Zur Beseitigung der Folgen des erledigten VA ist eine Leistungsklage zu erheben.

Beispiel:

Die Stadt S weist Obdachlose für zwei Wochen in die Privatwohnung des P ein. Nach Ablauf der zwei Wochen sind die Obdachlosen allerdings noch immer in der Wohnung des P.

3. Konkurrenz

Abwehr- und Unterlassungsansprüche dienen der Abwehr noch bevorstehender oder gegenwärtiger staatlicher Maßnahmen. Die Abwendung des Schadens ist zu diesem Zeitpunkt mithin noch möglich, weshalb man von Primärmaßnahmen spricht. Der Folgenbeseitigungsanspruch ist hingegen darauf gerichtet, Schäden, die durch schon erfolgtes staatliches Handeln eingetreten sind, zu beseitigen. Da es, wie man dem Nassauskiesungsbeschluss des Bundesverfassungsgerichts entnehmen kann, ein „dulde und liquidiere“ im Bereich des Staatshaftungsrechts nicht gibt, muss allerdings immer erst der Primärrechtsschutz ausgeschöpft werden.

B. Ansprüche auf Geldersatz

1. Schadensersatz

a) Amtshaftungsanspruch gem. § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG

Ein Amtshaftungsanspruch setzt rechtswidriges, schuldhaftes Handeln voraus.

Voraussetzungen sind:
  • Beamter im funktionalen Sinn bzw. „Jemand“
  • Handeln in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes (hoheitlich)

P: Private, die nicht Beliehene sind, führen Aufgaben der öffentlichen Verwaltung aus.

Grundsätzlich wird die Rechtsnatur des Handelns mithilfe der Subjektstheorie (s.o.) ermittelt. In diesem Fall ist jedoch die Werkzeugtheorie zur Abgrenzung heranzuziehen. Hiernach erfolgt die Zuordnung des Handelns zum Privatrecht oder öffentlichen Recht je nach Grad und Intensität der Weisungsgebundenheit.

  • Verletzung einer Amtspflicht (Pflicht der Verwaltung zu rechtmäßigem Verhalten aus Art. 20 III GG)
  • Drittgerichtetheit der Amtspflicht

Die Norm, die die Amtspflicht begründet, muss gerade dem Schutz und Interesse des Anspruchsstellers dienen.

  • Verschulden
  • Kausaler Schaden
  • kein Ausschlusstatbestand gemäß § 839 III BGB
  • evtl. Mitverschulden gemäß § 254 BGB
Beispiele:
  • Ein Beamter verursacht während einer Dienstfahrt schuldhaft einen Verkehrsunfall.
  • Verletzung der Verkehrssicherungspflicht für eine Fußgängerunterführungstreppe.
  • Ein Radweg wird nicht ordnungsgemäß gereinigt, wodurch Schäden am Fahrrad eines Dritten entstehen.

b) Öffentlich-rechtliches Schuldverhältnis, § 280 I BGB analog

Unter einem öffentlich-rechtlichen Schuldverhältnis versteht man eine besonders enge, öffentlich-rechtliche Beziehung zwischen einem Hoheitsträger und einem Privaten, die eine verschärfte Haftung rechtfertigt. § 280 I BGB setzt im Gegensatz zu § 839 BGB allerdings ein bereits bestehendes Schuldverhältnis voraus. Bei § 839 BGB hingegen wird gerade erst durch die Amtspflichtverletzung das Schuldverhältnis begründet. Schuldverhältnisse i.S.d. § 280 I BGB analog können durch öffentlich-rechtlichen Vertrag oder durch Gesetz begründet werden, wie z.B. GoA und BerR.

Beispiel:

Abschleppfälle (Pflichtverletzung innerhalb öffentlich-rechtlicher GoA)

Begründung der Analogie:

Planwidrige Regelungslücke: Das öffentliche Recht kennt keine dem § 280 I BGB vergleichbare Haftungsnorm für Pflichtverletzungen im Bereich öffentlich-rechtlicher Sonderbeziehungen. Der Amtshaftungsanspruch schließt § 280 I BGB nicht aus, da es sich dabei um einen deliktischen Anspruch handelt, der neben § 280 I BGB tritt.

Vergleichbarkeit der Fälle: Zwischen Bürger und Verwaltung muss ein gesetzliches Schuldverhältnis oder ein Vertrag bestehen. Auch im öffentlichen Recht kann es gesetzliche Schuldverhältnisse wie die GoA und das BerR oder vertragliche Schuldverhältnisse wie den öffentlich-rechtlichen Vertrag geben, die ein Bedürfnis nach einer Regelung entsprechend dem BGB begründen.

Voraussetzungen sind:
  1. Anwendbarkeit der Analogie (s.o.)
  2. öffentlich-rechtliches Schuldverhältnis (GoA, BerR oder Vertrag)
  3. Pflichtverletzung
  4. Verschulden
  5. Kein Haftungsausschluss durch Satzung, ör Vertrag, VA etc.
zu 2.: Verwaltungsrechtliche Schuldverhältnisse:
a. öffentlich-rechtlicher Vertrag, § 62 S. 2 VwVfG i.V.m. § 280 I BGB analog

Rechtsweg, § 40 I 1 VwGO, Verwaltungsrechtsweg

Beispiele:
  • Eine Stadt S schließt mit einem Privaten P einen Vertrag, in welchem vereinbart wird, dass P weniger Erschließungsbeiträge zahlen muss, wenn er im Gegenzug einen Radweg für S errichtet. Der hieraufhin von P erstellte Radweg ist durchzogen von Schlaglöchern, ist also mangelhaft. Hierdurch erleidet S einen Schaden, da sie die Schlaglöcher zu beseitigen hat.
  • Die Stadt S einigt sich mit dem Privaten P auf Erschließungskosten in Höhe von 5000 Euro. Sodann schickt S grundlos einen Bescheid, in dem sie P auffordert 10.000 Euro zu zahlen. P muss dafür einen Kredit aufnehmen und Zinsen zahlen. Der Schaden beläuft sich somit auf die Zinsen.
b. öffentlich-rechtliche Verwahrung, §§ 688 ff. BGB analog i.V.m. § 280 I BGB analog

Rechtsweg, § 40 II 1 VwGO, ordentliche Gerichtsbarkeit

Beispiel:

Ein abgeschlepptes Auto wird auf dem Verwahrungsplatz umgeparkt und dabei beschädigt.

c. öffentlich-rechtliche GoA, §§ 677 ff. BGB analog i.V.m. § 280 I BGB  analog

Rechtsweg, § 40 II 1 VwGO, ordentliche Gerichtsbarkeit

aa. AGL Staat gegen Bürger auf Schadensersatz

§§ 677, 678 BGB analog i.V.m. § 280 I BGB analog

Beispiel:

Auf dem Gebiet der Daseinsvorsorge erledigt der Bürger staatliche Aufgaben, wie beispielsweise eine Kanalrohrreparatur, die er aber mangelhaft durchführt.

bb. AGL Staat gegen Bürger auf Aufwendungsersatz?
Beispiel:

Der Staat schleppt das Auto eines Bürgers ab und verlangt dafür Ersatz seiner Aufwendungen aus GoA.

Ein Anspruch auf Aufwendungsersatz scheidet hier aus, da eine öffentlich-rechtliche GoA seitens des Staats eine unzulässige Umgehung der einschlägigen Vorschriften wäre. Denn im Bereich der Eingriffsverwaltung muss stets der Gesetzesvorbehalt eingehalten werden. Geld kann daher nur verlangt werden, wenn es dafür auch eine spezielle gesetzliche Grundlage gibt.

cc. AGL Bürger gegen Staat auf Schadensersatz

§§ 677, 678 BGB analog i.V.m. § 280 I BGB analog

Beispiel:

Der Staat beschädigt das Fahrzeug eines Bürgers beim Abschleppvorgang.

dd. AGL Bürger gegen Staat auf Aufwendungsersatz aus §§ 683 S. 1, 670 BGB analog
Beispiel:

Ein Bürger repariert ein Kanalrohr einer Gemeinde und verlangt hierfür Ersatz seiner Aufwendungen.

ee. AGL Bürger gegen Staat aus landesrechtlichen Entschädigungsansprüchen

Diese Ansprüche können zusätzlich geltend gemacht werden, da sie lediglich auf eine Entschädigung in Geld gerichtet sind.

ff. Haftung bei der Anbahnung von öffentlich-rechtlichen Schuldverhältnissen, §§ 280 I, 311 II, 241 II BGB analog (c.i.c.)

Rechtsweg: Grundsätzlich Verwaltungsrechtsweg

Sobald ein Vertragsteil dem öffentlichen Recht zugeordnet werden kann, muss der gesamte Vertrag, auch wenn er im Übrigen dem Zivilrecht entstammt, dem öffentlichen Recht unterfallen. Die Argumentation ist die gleiche wie beim öffentlich-rechtlichen Vertrag.

Ausnahme: Der Abbruch der Vertragsverhandlungen erfüllt zugleich den Tatbestand der Amtspflichtverletzung nach § 839 BGB, Art. 34 GG. (Amtspflichtverletzung ist grundloses Abbrechen der Vertragsverhandlungen, § 241 II BGB) = ordentliche Gerichtsbarkeit, § 40 II 1 VwGO

Beispiel:

Die Stadt S will einen Vertrag mit dem Privaten P schließen. Dieser soll weniger Erschließungsbeiträge bezahlen müssen, im Gegenzug jedoch für S einen Kinderspielplatz errichten. S weigert sich sodann über die im Vorfeld getätigten Verhandlungen einen Vertrag zu schließen, da sie grundsätzlich nicht über Erschließungsbeiträge verhandelt. P hat aber bereits Baumaterial für den Kinderspielplatz gekauft.

c) Konkurrenzen

Ansprüche aus einem öffentlich-rechtlichen Schuldverhältnis analog § 280 I BGB können neben dem deliktischen Amtshaftungsanspruch geltend gemacht werden. Im Vergleich zum deliktischen Anspruch ergeben sich dabei folgende Unterschiede:

  • Gehaftet wird analog § 280 I BGB für bestehende oder angebahnte öffentlich-rechtliche Schuldverhältnisse.
  • Das Verschulden wird zugunsten des Bürgers vermutet, § 280 I 2 BGB analog.
  • Bei der Haftung für Erfüllungsgehilfen gilt § 278 BGB analog.

Vorrangig sind aber auch hier immer Ansprüche auf Folgenbeseitigung. Dem Schädiger muss wie im Zivilrecht immer erst die Möglichkeit gegeben werden, den verursachten Schaden selbst zu beseitigen (Grundsatz der Naturalrestitiution, § 249 I BGB analog). Kann oder darf der ursprüngliche Zustand hingegen nicht vollständig wiederhergestellt werden, kann dem Geschädigten eine Wiederherstellung durch den Schädiger nicht zugemutet werden oder ist eine Wiederherstellung grundsätzlich nicht möglich, so können Geldersatzansprüche geltend gemacht werden.

2. Entschädigung

a) Eingriff in wirtschaftliche Rechtsgüter

aa) Enteignung

Rechtsweg: § 40 II 1 Hs. 2 VwGO, Verwaltungsrechtsweg.

Beachte zur Höhe der Entschädigung Art. 14 III 4 GG: ordentliche Gerichtsbarkeit.

AGL: Entspricht der jeweils einschlägigen gesetzlichen Vorschrift.

Beispiel:

§§ 93 ff. BauGB

Eine gesetzliche Vorschrift ist bei einer rechtmäßigen Enteignung nach Art. 14 III GG aufgrund der Junktimklausel zwingend erforderlich. Nur bei Fehlen einer solchen Regelung ist die Enteignung rechtswidrig, was dazu führt, dass kein Geldausgleich stattfinden kann. Eine Entschädigung kann dann aber über den enteignungsgleichen Eingriff erfolgen.

bb) Ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmung

Rechtsweg: § 40 I 1 VwGO, Verwaltungsrechtsweg.

Bei einer ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmung kann Geldersatz gefordert werden. Es handelt sich um einen Eingriff in das Eigentum, der nicht als Enteignung gekennzeichnet ist.

Ermächtigungsgrundlage für den Eingriff ist Art. 14 I 2 GG i.V.m. dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. So ist in manchen Fällen der Eingriff nämlich nur gegen Zahlung eines bestimmten Geldbetrags verhältnismäßig. Ein Anhaltspunkt dafür, dass der Anspruch auf Geld gerichtet ist, ergibt sich aus § 39 BauGB. Die Anspruchsgrundlage für die Entschädigungszahlung kann im enteignungsgleichen Eingriff nach §§ 74, 75 Einl. ALR gesehen werden.

cc) Konkurrenzen

Entschädigung und ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmungen schließen sich gegenseitig aus. Die Abgrenzung erfolgt dabei nach neuester Rechtsprechung rein formal. Die Sonderopfertheorie, die Schweretheorie und die Theorie der Situationsgebundenheit hingegen finden bei der Abgrenzung heute keine Anwendung mehr. Der Grund dafür liegt darin, dass auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit abgewogen wird, ob der Eingriff bzw. die Beschränkung angemessen und damit für den Betroffenen zumutbar ist. Ist das nicht der Fall, so muss eine Entschädigung gezahlt werden.

Die Theorien waren in der früheren Rechtsprechung maßgeblich, da die Einstufung als Enteignung oder Inhalts- und Schrankenbestimmung bereits festlegte, ob eine Geldentschädigung gezahlt werden musste oder nicht. Die Abwägung der Interessen wurde im Folgenden in die Verhältnismäßigkeitsprüfung verlagert, weshalb es nun nicht mehr entscheidend darauf ankommt, ob eine Enteignung oder Inhalts- und Schrankenbestimmung vorliegt. Schließlich kann in beiden Fällen eine Entschädigung erfolgen.

dd) Enteignender Eingriff

Rechtsweg: § 40 II 1 VwGO, ordentliche Gerichtsbarkeit

Grundlage für Ansprüche aus enteignendem Eingriff sind §§ 74, 75 EinlPrALR.

Voraussetzungen sind:
  • rechtmäßiger unmittelbarer Eingriff in das Eigentum

Die Unmittelbarkeit ergibt sich aus einer wertenden Betrachtung. So muss der Schaden kausal auf dem Handeln des Staates beruhen und innerhalb des Risikos liegen, das durch das staatliche Handeln geschaffen wurde.

  • durch hoheitlichen Realakt
  • unmittelbare nachteilige Wirkungen für den Betroffenen (rechtswidrige Folge)
  • Sonderopfer

Wenn es sich um keine formale Enteignung handelt, aber dennoch ein Eingriff in Eigentumspositionen vorliegt, muss geprüft werden, ob der Eingriff ein Sonderopfer für den Betroffenen darstellt. Ein Sonderopfer ist dabei die Ungleichbehandlung gleicher Sachverhalte ohne einen sachlichen Grund bzw. ein Verstoß gegen Art. 3 GG.

Beispiel:

Es wird eine U-Bahn gebaut. Infolgedessen stürzt ein darüberliegendes Haus ein.

ee) Enteignungsgleicher Eingriff

Rechtsweg: § 40 II 1 VwGO, ordentliche Gerichtsbarkeit

Grundlage für einen Anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff sind §§ 74, 75 EinlPrALR.

Zuerst wurde der enteignungsgleiche Eingriff in Analogie zu Art. 14 GG entwickelt. Nach dem Nassauskiesungsbeschluss des BVerfG war zunächst nicht klar, ob der enteignungsgleiche Eingriff überhaupt noch weiterbestehen kann. Der BGH hat an diesem Haftungsinstitut festgehalten, stellt allerdings nicht mehr auf Art. 14 GG analog als Anspruchsgrundlage ab, sondern auf §§ 74, 75 EinlPrALR. So handle es sich in Tatbestand und Rechtsfolge um einen Anspruch aus dem einfachen Recht und nicht aus dem Verfassungsrecht.

Vorrangig ist in jedem Fall der Primärrechtsschutz analog § 254 BGB, so dass erst gegen die Enteignung selbst vorgegangen werden muss. Nur bei Ausschöpfung aller Rechtsmittel kann also auf den enteignungsgleichen Eingriff zurückgegriffen werden.

Voraussetzungen sind:
  • rechtswidriger unmittelbarer Eingriff in das Eigentum
  • durch öffentlich-rechtliches Handeln
  • unmittelbarer Schadenseintritt (kein Hinzutreten weiterer Umstände – Kausalität zwischen Handeln und Schaden)
  • Sonderopfer (s.o.)
  • Ausschöpfung des Primärrechtsschutzes
Beispiel:

Bei einer Enteignung fehlt das Entschädigungsgesetz.

Beispiel für den erweiterten Anwendungsbereich:

Es ereignet sich ein Verkehrsunfall aufgrund eines einmaligen Versagens einer Verkehrsampel (Ampel zeigt grün statt rot).

P: Haftung aus enteignungsgleichem Eingriff für legislatives Unrecht

Der BGH ist der Auffassung, dass eine Haftung den Rahmen eines richterrechtlich entwickelten Haftungsinstituts sprengen würde. Dies wäre mit der Haushaltsprärogative des Gesetzgebers unvereinbar und würde ferner einen Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip begründen. Nach Ansicht der Literatur kann der Rechtsgüterschutz nicht unter einen Haushaltsvorbehalt gestellt werden, zumal es für den Bürger gleichgültig ist, aus welchem Grund ein VA rechtswidrig ist. Letztlich ist aber dem BGH zu folgen, da eine unüberschaubare Flut von Klagen drohen würde und der Gesetzgeber eine entsprechende Regelung schaffen könnte, um auch das legislative Unrecht haftungsrechtlich abzudecken. Es fehlt auch generell das Bedürfnis nach einem Vorgehen gegen Gesetze, da unmittelbar gegen die darauf beruhenden Maßnahmen vorgegangen werden kann. Eine Haftung für legislatives Unrecht scheidet folglich aus.

ff) Konkurrenzen

Neben allen Ansprüchen, die auf eine Entschädigungsleistung gerichtet sind, können ferner Amtshaftungsansprüche geltend gemacht werden. Grund dafür ist, dass die Rechtsfolge der Amtshaftung Schadensersatz ist. Die Enteignung, der enteignungsgleiche und enteignende Eingriff sowie die ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmung hingegen sind auf eine Entschädigung gerichtet.

Wesentlicher Unterschied der beiden Haftungsnormen ist, dass im Rahmen der Schadensersatzansprüche ein Verschulden des Anspruchsgegners Voraussetzung ist. Im Gegensatz dazu ist die Entschädigung verschuldensunabhängig, weshalb dahingehende Ansprüche auch leichter geltend gemacht werden können. Schließlich umfasst der Schadensersatz auch den entgangenen Gewinn, wohingegen die Entschädigung lediglich auf Geldausgleich gerichtet ist.

Das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen mehrerer Entschädigungsansprüche führt aber nicht zu einer Erhöhung der Entschädigung.

b) Eingriff in höchstpersönliche Rechtsgüter (Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit, körperliche Bewegungsfreiheit, str. APR)

aa) Aufopferung

Rechtsweg: § 40 II 1 VwGO, ordentliche Gerichtsbarkeit

Beachte hier spezialgesetzliche Regelungen wie etwa §§ 51 ff. BSeuchG  (Impfschäden)! Vorrangig sind ebenso die Entschädigungsregelungen des Polizeiaufgabengesetzes für Nichtstörer. Zum Amtshaftungsanspruch besteht ferner Anspruchskonkurrenz.

Grundlage für den Anspruch aus Aufopferung sind §§ 74, 75 EinlPALR.

Voraussetzungen sind:
  • ein unmittelbarer (wertungsmäßige Betrachtung, s.o.) hoheitlicher rechtmäßiger Eingriff
  • in nichtvermögenswerte Rechte
  • unmittelbarer Schadenseintritt
  • Sonderopfer (gesonderte Prüfung erforderlich, s.o. Es darf sich also nicht um die Verwirklichung eines allgemeinen Lebensrisikos handeln, sondern um eine vom Staat geschaffene besondere Gefahr)
Beispiele:
  • Entschädigungsanspruch für rechtswidrige Beugehaft nach dem StrEG
  • Fürsorgepflicht der Gemeinde für Angehörige der freiwilligen Feuerwehr
bb) Aufopferungsgleicher Eingriff

Rechtsweg: § 40 II 1 VwGO, ordentliche Gerichtsbarkeit

Voraussetzungen sind:
  • rechtswidriger unmittelbarer (wertend zu ermitteln, s.o.) Eingriff in nichtvermögenswerte Positionen (schuldhaft oder schuldlos)
  • durch öffentlich-rechtliches Handeln
  • unmittelbarer Schadenseintritt (kein Hinzutreten weiterer Umstände – Kausalität zwischen Handeln und Schaden)
  • Sonderopfer
  • Ausschöpfung des Primärrechtsschutzes
cc) Konkurrenzen

Vorrangig müssen spezialgesetzliche Anspruchsgrundlagen berücksichtigt werden, so z.B. Ansprüche aus den Polizeigesetzen der Länder. Im Übrigen können Ansprüche aus Aufopferung auch neben Ansprüchen aus Enteignung oder aus Inhalts- und Schrankenbestimmung geltend gemacht werden. Dies ergibt sich aus den unterschiedlichen Rechtsgüterverletzungen. Auch hier steht der Amtshaftungsanspruch ferner in Idealkonkurrenz.

3. Aufwendungsersatz

a) Öffentlich-rechtliche GoA

Rechtsweg: § 40 I 1 VwGO, Verwaltungsgerichtsbarkeit

Die GoA ist öffentlich-rechtlich, wenn der Gegenstand der Geschäftsführung öffentlich-rechtlich ist. Zur Bestimmung kann wiederum die modifizierte Subjektstheorie herangezogen werden.

AGL: §§ 677, 683 S. 1, 670 BGB analog (Aufwendungsersatz)

  • Staat-Staat:

Beispiel: Die Gemeinde A repariert eine beschädigte Rohrleitung im Gemeindegebiet B.

  • Bürger-Staat:

Im Verhältnis Bürger-Staat kann der Bürger vom Staat nur dann Aufwendungsersatz nach §§ 677 ff. BGB analog verlangen, wenn ein Nothilfe- oder Dringlichkeitsfall vorliegt bzw. individuelle Rechtsgüter wie Gesundheit oder Eigentum zwingend geschützt werden müssen.

Beispiele: In der Justizbehörde J ereignet sich ein Wasserrohrbruch. Hausmeister H behebt sodann das Problem; Neuanlage eines verfallenen Deiches bei drohendem Hochwasser.

  • Privater-Privater:

seltener Fall

Beispiel: A hat die Pflicht einen Bundeswehranzug für den Einsatzfall bei sich zuhause zu verwahren. Das Haus des A brennt ab, B kann jedoch den Anzug noch rechtzeitig retten.

  • Staat-Bürger:

Unzulässigkeit aufgrund Gesetzesvorbehalt, Ausnahme im Bereich der Leistungsverwaltung

Beispiel: Behörde hat für Bürger ein polizeiliches Führungszeugnis besorgt und will dafür Aufwendungsersatz. Ein Führungszeugnis ist für die Bewilligung einer Subvention notwendig. Der Antragsteller hat aber vergessen, dieses dem Antrag beizulegen.

Im Verhältnis Staat-Bürger gelten die Regeln über die GoA allerdings nicht im Bereich der Eingriffsverwaltung im Rahmen des Aufwendungsersatzes, da insoweit die Kostengesetze die Voraussetzungen und Rechtsfolgen öffentlich-rechtlichen Tätigwerdens abschließend regeln. Auch hier darf der Grundsatz des Gesetzesvorbehalts also nicht durch die GoA umgangen werden. Schadensersatzansprüche können ungeachtet dessen nach den jeweils einschlägigen Vorschriften in Verbindung mit § 280 I BGB analog geltend gemacht werden (siehe oben). Im Übrigen ist daneben § 678 BGB analog anwendbar, der verschuldensunabhängig Schadensersatz gewährt. Voraussetzung dafür ist, dass das Geschäft nicht dem Willen des Geschäftsherrn entspricht. Im Rahmen der Leistungsverwaltung sind ferner die §§ 677 ff. BGB analog anwendbar.

Voraussetzungen sind:
  1. Anwendbarkeit
  2. Öffentlich-rechtliche Geschäftsbesorgung, § 677 BGB analog (siehe Rechtsweg)
  3. fremdes Geschäft, § 677 BGB analog
  4. Fremdgeschäftsführungswille
  5. Ohne Auftrag oder sonstige Berechtigung
  6. Handeln im Interesse und im Willen der Behörde („berechtigte GoA“), § 683 S. 1 BGB analog.

4. Erstattung

a) öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch

Rechtsweg: § 40 I 1 VwGO, Verwaltungsgerichtsbarkeit

Der Erstattungsanspruch ist immer dann öffentlich-rechtlich, wenn das zugrundeliegende Rechtsverhältnis öffentlich-rechtlich ist (hier wieder modifizierte Subjektstheorie, Funktion des Handelnden, Grundlage VA). Rechtsverhältnisse können vertraglich begründet werden sowie durch VA.

AGL:  §§ 812 ff. BGB analog, gewohnheitsrechtliche Anerkennung

Der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch ist ferner auf die Rückgewähr rechtsgrundloser Vermögensverschiebungen gerichtet. Kennzeichnend ist dabei allerdings nicht ein hoheitlicher Eingriff oder eine Schädigung, sondern eine Vermögensverschiebung ohne Grund. Der Unterschied zu §§ 812 ff. BGB liegt darin, dass der Anspruchsgegenstand öffentlich-rechtlich ist.

Beispiele:

Vorrangig sind aber spezielle gesetzliche Regelungen wie §§

  • 37 II AO (Erstattungen im Rahmen eines Schuldverhältnisses),
  • 49a VwVfG (Erstattungen infolge der Aufhebung eines VA),
  •  12 BBesG (Rückforderung von Beamtenbezügen – aus Beamtenrecht §§ 52 BeamVG, 53 BRRG),
  • 50 SGB X und
  • 20 BAföG.
Voraussetzungen sind:
  1. Rechtsgrundlage
  2. Anwendbarkeit
  3. Öffentlich-rechtliche Rechtsbeziehung (s. Rechtsweg)
  4. Vermögensvorteil
  5. Vermögensverschiebung durch Leistung bzw. auf sonstige Weise
  6. Ohne Rechtsgrund (Wegfall, wenn das zugrundeliegende RV nichtig oder wenn der VA rechtswidrig ist)
  7. Erstattungsumfang/Wegfall der Bereicherung (Beachte aber: Die Behörde kann sich wegen des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung aus Art. 20 III GG nicht auf den Wegfall der Bereicherung berufen.)
Merkhilfe für die Rechtswegbestimmung:
  • Aufwendungsersatzansprüche zu den Verwaltungsgerichten
  • Schadensersatzansprüche zu den ordentlichen Gerichten (§ 40 II 1 VwGO)
  • Entschädigungsansprüche mit Ausnahme der Inhalts- und Schrankenbestimmung = ordentliche Gerichte

Anmerkungen

Näheres zur verfassungsrechtlichen Bedeutung des Eigentums: Das Eigentum Art. 14 I 1 GG

siehe auch: „Klausur zur Berufsfreiheit

Der Beitrag Staatshaftungsrecht Übersicht erschien zuerst auf Jura Individuell.

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