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Art. 6 GG in der Klausur

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Bei Artikel 6 des Grundgesetzes handelt es sich leider um eine Norm, die von Studenten zumindest während des Studiums, häufig aber auch noch im Staatsexamen, nicht ausreichend im Rahmen der Vorbereitung gewürdigt wird. Dreht sich eine Klausur allerdings einmal um Probleme des Art. 6 GG, dann kann man den Korrektor mit vergleichsweise wenig Aufwand beeindrucken, da man im Vergleich zu anderen Bearbeitern schnell positiv hervorsticht.

Im Folgenden sollen die klausur- und examensrelevanten Aspekte der Norm in einfacher und verständlicher Weise dargestellt werden. Vorweg gilt es dazu zu sagen, dass man den Artikel 6 GG mit seinen fünf Absätzen gedanklich folgendermaßen unterteilen kann: Absatz 1 stellt zunächst Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung und Absätze 2 und 3 befassen sich mit dem Elterngrundrecht. Im Vergleich dazu fallen die Absätze 4 und 5, die sich mit dem Mutterschutz und der Gleichbehandlung von unehelichen und ehelichen Kindern auseinandersetzen, in der Wichtigkeit für die Klausurbearbeitung etwas ab.

I. Der besondere Schutz für Ehe und Familie, Art. 6 I GG

Die Norm weist drei Kerngehalte auf: Sie garantiert Ehe und Familie als Institut (Institutsgarantie), sie verkörpert eine wertentscheidende Grundsatznorm und – und das ist für den Klausurbearbeiter das Wichtigste – verleiht trotz fehlendem Anhaltspunkt im Wortlaut ein subjektiv-öffentliches Recht, anders gesagt also ein Grundrecht.

1. Abwehrrechtliche Dimension des Grundrechts

Fangen wir also mit dem klausurrelevantesten Aspekt an – der Staat handelt und eine Person beruft sich auf Art. 6 I GG als Abwehrrecht (status negativus der Grundrechte), weil er oder sie meint, dass damit sein Ehe- oder Familiengrundrecht verletzt sei.

Jura Individuell – Hinweis: Es geht hier also um den sog. status negativus der Grundrechte. Merke allgemein: Daneben gibt es noch den status positivus (dort geht es um Leistungsrechte) und den status activus (dort geht es um Teilhabeaspekte am gesellschaftlichen und politischen Leben) der Grundrechte.

a. Wer kann sich eigentlich auf das Ehe- und Familiengrundrecht berufen?

Vorweg also die Frage: Wer genau ist der Grundrechtsträger? Diese Frage stellt sich deshalb, weil die Norm ja nicht ausdrücklich ein subjektiv-öffentliches Recht einträumt. Die Antwort auf die Frage ist, dass sich alle natürlichen Personen auf das Grundrecht berufen können, es handelt sich also nicht um ein Deutschen-Grundrecht. Berechtigt ist jedes nachteilig berührte Mitglied des Ehe- und Familienbundes.

b. Was ist unter dem Begriff der Ehe zu verstehen?

Hierzu hat sich das Bundesverfassungsgericht eine schöne Definition ausgedacht: Die Ehe ist diesem zufolge eine auf Dauer angelegte, auf freiem Entschluss beruhende, gleichberechtigte Lebensgemeinschaft von Mann und Frau, deren Übereinstimmung durch staatlichen Mitwirkungsakt festgestellt wird (BVerfGE 105, 313 (345)).

Mit dieser Definition fliegt die Zwangsehe gleich aus dem Schutzbereich der Norm. Außerdem ist die rein kirchliche bzw. im weiteren Sinne religiöse Ehe keine Ehe im Sinne des Grundgesetzes: Das Erfordernis des staatlichen Mitwirkungsakts ist unabdingbar.

Jura Individuell-Hinweis: Ins Auge sticht dem Leser sicherlich das Merkmal der Geschlechtsverschiedenheit, das sich in jüngeren Jahren auch in vielen politischen Debatten wiedergefunden hat. Das Bundesverfassunsgericht hält allerdings daran fest und löst Probleme der Ungleichbehandlung über den Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 3 I GG.

Problematik der Scheinehe: Fraglich ist, ob die Scheinehe unter dem Schutz des Art. 6 I GG steht. Intuitiv möchte man das verneinen und genau das machen sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch das Bundesverwaltungsgericht. Und wie wird das erreicht? Indem man feststellt, dass das Merkmal der gemeinsamen Lebensgestaltung nicht erfüllt ist.

Problematik von sog. hinkenden Ehen: Hier geht es um die Problematik, dass im Ausland eine Ehe nach dort geltendem Recht rechtsgültig eingegangen wird, sie allerdings nach deutschem Recht ungültig wäre. Diese Ehen werden unter den Schutz von Art. 6 I GG gestellt, sofern sie funktional vergleichbar zur deutschen Ehe sind. D. h., dass der Bearbeiter prüfen muss, ob es sich um eine auf Lebensdauer angelegte und echte Lebensgemeinschaft geht.

c. Was ist unter dem Begriff der Familie zu verstehen?

Den Begriff der Familie zu definieren, erweist sich als deutlich schwieriger als denjenigen der Ehe. Vorweg ist zu sagen, dass die Familie kein rechtliches Konzept ist, sondern dass gerade anders herum das Recht an das soziale Phänomen der Familie angeknüpft hat. Bei der Suche nach der Definition des Familienbegriffes ist daher auf die soziale Wirklichkeit zurückzugreifen. Fangen wir daher mit dem Kern der Familie an und arbeiten uns dann gewissermaßen nach außen, um das Konzept der Familie im Grundgesetz zu verstehen.

Als „Keimzelle der staatlichen Gemeinschaft“ (Jura Individuell-Hinweis: der Korrektor freut sich, wenn dieser O-Ton des BVerfG aus dem Jahr 1957 vom Klausurbearbeiter verwendet wird) sind jedenfalls die Eltern und ihre Kinder als Familie zu verstehen.

Schwieriger wird es dann bei anderen Verwandtschaftsverhältnissen. In Art. 6 I GG-Klausuren tauchen manchmal die Großeltern eines Kindes auf. Wie ist mit diesen umzugehen? Das Bundesverfassungsgericht ist hier restriktiv eingestellt, während Teile der Literatur danach entscheiden möchten, ob Großeltern erzieherische Aufgaben übernehmen und damit familiäre Verantwortung übernehmen.

Überaus wichtig ist in der heutigen Lebensrealität der Bundesrepublik die Frage, ob eine nichteheliche bzw. gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft mit Kindern eine Familie im Sinne des Art. 6 I GG darstellt. Das BverfG hat früh anerkannt, dass jedenfalls die Verbindung von Kind-Vater und von Kind-Mutter eine Familie begründet. Das bedeutet aber merkwürdigerweise, dass auf der rechtlichen Ebene zwei Familien konstruiert würden. Um das zu umgehen, stellen viele Teile der Literatur (und zunehmend auch das BVerfG) heute darauf ab, ob es sich rein tatsächlich um das typische Bild einer Familie handelt, also ob zwei Eltern (die etwas fortschrittlicheren Autoren beziehen hier auch homosexuelle Paare mit Kindern ein) mit ihren Kindern ein gemeinsames Leben in einem gemeinsamen Haushalt führen. Es geht also letztlich um eines: die gelebte Realität.

d. Welches Verhalten wird nun eigentlich geschützt?

Das kann man in drei Aspekte unterteilen: Geschützt ist zunächst die Eheschließungs- und Familiengründungsfreiheit. Bei unserem verweltlichten, von religiösen Aspekten weitgehend entkoppelten Verständnis der bürgerlich-rechtlichen Ehe ist auch die Eheauflösungs- und Wiederverheiratungsfreiheit geschützt. Und zuletzt wird natürlich das ungestörte Zusammenleben in Ehe und Familie geschützt.

e. Eingriff oder schlichte Ausgestaltung?

An diesem Punkt muss der Klausurbearbeiter vorsichtig sein. Ein Eingriff kann hier nicht so schnell angenommen werden, wie bei anderen Grundrechten. Und warum ist das so? Weil Art. 6 I GG, ähnlich wie Art. 14 GG, ein normgeprägtes Grundrecht ist: Das bedeutet, dass das Grundrecht auch davon abhängig ist, dass es einfachgesetzlich überhaupt ausgefüllt wird. Man muss also Ausgestaltung des Familien- und Ehebegriffs von einem Eingriff in Familie und Ehe unterscheiden und das ist im Einzelfall gar nicht mal so leicht. Nach Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, 2005, S. 358 ff., liegen ausgestaltende Regelungen vor, wenn sie den verfassungsrechtlichen Ehe- und Familienbegriff durch Ausformung des einfachen Rechts zu definieren suchen bzw. zu diesem nähere Einzelheiten festlegen und sonstige Motive außer Acht lassen. Wird diese Definition nicht erfüllt, schlägt eine Ausgestaltung in einen Eingriff um.

Jura Individuell-Hinweis: Selbst wenn es sich nur um eine Ausgetaltung handelt, ist der Gesetzgeber nicht völlig frei in seinem Verhalten, wenngleich er einen weiten Spielraum hat. Dem allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprinzip ist er nämlich immer noch unterworfen.

f. Schranken

Hier kann man auf Wissen zurückgreifen, das man sonst aus der Grundrechtsdogmatik kennt. Eine geschriebene Schranke gibt es nicht. Es besteht also nur eine verfassungsimmanente Schranke, die eine Einschränkung nur zum Schutze von kollidierendem Verfassungsrecht erlaubt.

2. Die Ehe und Familie als garantiertes Institut

Unter der Institutsgarantie ist zunächst einmal zu verstehen, dass der besondere Schutz der Ehe in sich selbst liegt. Und das bedeutet wiederum, dass Strukturprinzipien der Ehe selbst (!) nicht abgeschafft werden dürfen. Zu diesen Strukturprinzipien der Ehe gehören etwa der Grundsatz der Einehe und nach einem Teil der Literatur das Erfordernis des staatlichen Mitwirkungsaktes.

In Klausuren dreht sich der Aspekt der Institusgarantie aber eigentlich immer um die folgende Frage: Folgt aus Art. 6 I GG ein sog. Abstandsgebot zu anderen Formen des Zusammenlebens? Hier muss man unterscheiden zwischen schlicht nichtehelichen Lebensgemeinschaften und gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften. Im Verhältnis zu nichtehelichen Lebensgemeinschaften macht ein Abstandsgebot durchaus Sinn, denn sonst würde die Ehe ihren attraktiven, exklusiven Charakter und damit ihren Sinn verlieren. Im Verhältnis zu gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften gilt hingegen Folgendes: Da die Definition der Ehe Verschiedengeschlechtlichkeit erfordert, sind gleichgeschlechtliche Paare definitorisch von der Eingehung der Ehe ausgeschlossen. Damit tritt deren Form des Zusammenlebens in gar kein Konkurrenzverhältnis mit der Ehe, welche eben eine Lebensform exklusiv für verschiedengeschlechtliche Paare ist. Ein Abstandsgebot ist in diesem Verhältnis dann nicht erforderlich.

3. Wertentscheidende Grundsatznorm

Aus Art. 6 I GG folgt in jedem Fall, dass die Ehe nicht nachteiliger als andere Lebensformen behandelt werden darf.

II. Das Elternrecht, Art. 6 Abs. 2 und 3 GG

Wie das Ehe- und Familiengrundrecht ist das Elterngrundrecht dreidimensional: Es ist ein Grundrecht, das gegen Eingriffe durch den Staat schützt, es beinhaltet eine Institutsgarantie und ist schließlich eine wertentscheidende Grundsatznorm. Im Folgenden wird nur die für die Klausurbearbeitung so wichtige grundrechtliche Dimension behandelt.

1. Wer ist Träger des Elterngrundrechts, d. h. wer kann sich darauf berufen?

Träger des Grundrechts sind neben den leiblichen Eltern unstreitig Adoptiveltern und Vormünder.

Auch hier tauchen in einer Klausur allerdings manchmal andere Personen auf, die das Elterngrundrecht für sich beanspruchen, etwa die Großeltern, wenn diese bei verstorbenen Eltern die Erziehung des Kindes übernehmen. Nach ganz h. M. fallen Großeltern allerdings nicht unter den Elternbegriff. Möchte man dagegen argumentieren, kann man auf den weiten Familienbegriff aus Art. 6 I GG und die Wichtigkeit der sozialen Wirklichkeit verweisen. Entscheidend wäre nach solch einer Ansicht, inwieweit Großeltern Erziehungsverantwortlichkeit übernehmen.

2. Schutzbereich

Gewährleistet ist das Recht, Entwicklung und Lebensverhältnisse des Kindes zu bestimmen. Die Begriffe der Pflege und der Erziehung meinen dabei die Sorge um das körperliche Wohl und die geistige und seelische Entwicklung des Kindes. Wichtig ist zu sehen, dass Art. 6 II S. 1 GG selbst eine unmittelbare Begrenzung des Schutzbereichs durch die dort normierte Elternverantwortung enthält.

3. Eingriff

Hier gilt Ähnliches wie das unter I. 1. e. Gesagte. Zu differenzieren ist zwischen einer ausgestaltenden Regelung und einem Eingriff. Ein klassischer Eingriff wäre etwa der Entzug des Sorgerechts, ein etwas weniger offensichtlicher Eingriff ein dem Verständnis der Eltern zuwiderlaufender Unterrichtsinhalt in der Schule.

4. Schranken

Es gibt zwei Wege das Elterngrundrecht einzuschränken.

Zum einen ist da das staatliche Wächteramt aus Art. 6 II 2 GG. Drei Aspekte kann man bezüglich dieses staatlichen Wächteramtes herausfiltern: Erstens muss der Staat sicherstellen, dass Eltern ihre Erziehungs- und Pflegeaufgabe erfüllen (sog. Erziehungsreserve). Zweitens muss der Staat bei streitenden Eltern als Mediator tätig werden (Schlichtungsfunktion). Drittens muss der Staat sicherstellen, dass das Kind vor einem Missbrauch des Elternrechts geschützt ist (Schutzfunktion).

Zum anderen können verfassungsimmanente Schranken aktiviert werden. In Klausuren ist dieses kollidierende Verfassungsrecht ganz häufig Art. 7 I GG („Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates“). Hierzu nur Folgendes: Es gibt keinen generellen Vorzug der einen oder anderen grundgesetzlichen Norm, vielmehr ist hier ein Ausgleich der widerstreitenden Interessen im Sinne der praktischen Konkordanz zu finden.

5. Schranken-Schranken

a. Institutsgarantie

Man kann die Institutsgarantie so verstehen, dass ein Kernbereich an Kindeserziehung und –pflege durch die Eltern gegeben sein muss, den der Gesetzgeber wiederum durch einfaches Recht zu gewährleisten hat. Es darf also ein gewisses Minimum nicht unterschritten werden.

b. Art. 6 III GG – die Trennung des Kindes von den Eltern

Eine weitere Schranken-Schranke findet man in Art. 6 III GG, wenn es um die Trennung des Kindes von den Eltern geht: Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.

Wenn die Norm in einer Klausur eine Rolle spielt, dann vor allem in Bezug auf die Adoption. Stellt die Adoption eine Trennung im Sinne des Art. 6 III GG dar? Das Bundesverfassungsgericht verneint das und zwar mit folgender Begründung: Es gehe hier nicht um ein Zurückdrängen des elterlichen Erziehungsrechts mit einer Verlagerung hin zum Staat, sondern um die Schaffung eines neuen privat-rechtlichen Eltern-Kind-Verhältnisses (BVerfGE 24, 119 (139 ff.). Dem widersprechen Teile der Literatur durchaus nicht unüberzeugend mit Verweis auf den Wortlaut: Dieser spricht schlicht von Trennung, egal zu wessen Gunsten. Es gehe um die Herauslösung aus der konkreten Familie.

III. Der Mutterschutz, Art. 6 IV GG

Widmen wir uns nun kurz dem Mutterschutz, der in Art. 6 IV GG festgelegt ist: Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft. Hierbei handelt es sich um eine Ausprägung des Sozialstaatsprinzips (Art. 20 I GG). Wichtig für den Klausurbearbeiter ist, dass es sich tatsächlich um ein eigenes Grundrecht handelt: Wer die Norm als solche prüft, der hat schon sehr viel gewonnen. Entscheidend ist bei Art. 6 IV GG die Ratio der Norm zu begreifen: Es sollen biologische Nachteile ausgeglichen werden. Daher ist zum einen nur die biologische Mutter geschützt und diese auch nur für die Zeit der Schwangerschaft und Stillzeit.

IV. Gleichstellungsauftrag für nichteheliche Kinder, Art. 6 V GG

Die Norm ist selten klausurrelevant, vor allem deshalb, weil der Gesetzgeber den darin enthaltenen Auftrag zur Gleichstellung mittlerweile nahezu vollständig erfüllt hat.

Dennoch ist es gut zu wissen, dass es sich um ein Grundrecht handelt und dass damit eine wertentscheidende Grundsatznorm verbunden ist, uneheliche Kinder zu schützen und zu fördern.

V. Konkurrenzen

Gerade im Verhältnis zu Art. 3 GG kann für den Klausurbearbeiter manchmal Verwirrung entstehen, anhand welchen Grundrechts er das staatliche Verhalten prüfen soll. Hierzu gilt Folgendes: Art. 6 I GG ist spezieller als Art. 3 III GG (so BVerfG). Das Verhältnis von Art. 6 I und IV zu Art. 3 I GG ist etwas kniffliger: Hier muss man unter Heranziehung der Fakten des konkreten Sachverhalts entscheiden. Danach geht Art. 3 I GG vor, wenn kollidierende Interessen zwischen verschiedenen Grundrechtsberechtigten (etwa zwischen verschiedenen Ehen) im Mittelpunkt stehen.

Für das Binnenverständnis des Art. 6 kann man sich Folgendes merken: Absätze 2 und 3 sind dem Absatz 1 gegenüber vorrangig. Absatz 4 verstärkt Absatz 1.

Vielen Dank, dass Sie diesen Beitrag gelesen haben. Wir hoffen, dass er Ihnen weiterhelfen oder zumindest Ihr Interesse wecken konnte. Hier finden Sie den Beitrag Art. 6 GG in der Klausur auf unserer Website Jura Individuell.


Art. 3 GG in der Klausur

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Die Prüfung des Art. 3 GG im Rahmen von Klausuren mit verfassungsrechtlichem Einschlag findet zumeist erst im Anschluss an die Prüfung von Freiheitsgrundrechten statt und die Darstellung leidet daher zumeist unter Zeitknappheit und fortschreitender, erschöpfungsbedingter Unkonzentriertheit des Klausurbearbeiters. Es geschieht daher bemerkenswert selten, dass dem Korrektor eine wirklich überzeugende Prüfung des Art. 3 GG begegnet. Umso mehr erfreut es ihn oder sie natürlich, wenn einmal das Gegenteil der Fall ist. Vor allem weil die Prüfung des Art. 3 GG häufig den Abschluss einer Klausur bildet, kann die Wichtigkeit gar nicht überschätzt werden, den Korrektor mit einem positiven Endeindruck aus der Klausur zu verabschieden.

Der Klausurbearbeiter soll aber auch beruhigt werden: Gerade bei der Prüfung von Art. 3 GG finden sich in der Ausbildungsliteratur häufig verschiedene Herangehensweisen und Prüfungsschemata. Dies bedeutet also, dass derjenige, der recherchiert, kein so einheitliches Bild wie bei der Prüfung von Freiheitsgrundrechten auffinden wird.

Mit diesem Wissen im Hinterkopf möchte dieser Artikel den Leser an die Prüfung des Art. 3 GG heranführen und an gebotener Stelle vertiefend auf gewisse Problematiken hinweisen, etwa wie die Verhältnismäßigkeit im Rahmen des Art. 3 GG zu prüfen ist – das bereitet nämlich den meisten Kandidaten Kopfschmerzen.

I. Allgemeines zur Struktur des Art. 3 GG

Schauen wir uns zunächst einmal die einzelnen Absätze des Art. 3 GG an und verlieren ein paar allgemeine Worte dazu.

Art. 3 I GG verbürgt das allgemeine Gleichheitsgrundrecht. Es enthält das Gebot der Rechtsanwendungsgleichheit (Gleichheit vor dem Gesetz) und dasjenige der Rechtssetzungsgleichheit (Gleichheit des Gesetzes). Wichtig ist vor allem, dass es das Verbot der Ungleichbehandlung ohne sachlichen Grund enthält.

Art. 3 II und III GG sind nach dem Bundesverfassungsgericht lediglich Konkretisierungen des Art. 3 I GG.

Art. 3 II GG enthält ein Differenzierungsverbot aufgrund des Geschlechts. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts enthält Art. 3 II GG auch den Auftrag an den Gesetzgeber, künftige Ungleichbehandlungen zu verhindern (Staatszielbestimmung). Möglich ist allerdings eine enge Ausnahme, die dann gegeben ist, wenn objektiv biologische Unterschiede eine besondere Regelung erlauben oder gebieten.

Art. 3 III GG enthält ein Differenzierungsverbot aufgrund der dort aufgeführten Merkmale:

Auch wenn dieser Artikel sich mit Art. 3 GG beschäftigt, sei noch auf folgende Normen aus dem Grundgesetz hingewiesen:

  • Art. 6 V GG, der nach dem Bundesverfassungsgericht eine Konkretisierung des Art. 3 I GG darstellt: Die Norm enthält einen bindenden Auftrag an den Gesetzgeber, nichtehelichen Kindern die gleichen Lebensbedingungen zu schaffen wie ehelichen Kindern und eine verfassungsrechtliche Wertentscheidung, die die Gerichte und die Verwaltung bei der Ausübung des Ermessens bindet. Den Auftrag hat der Gesetzgeber mittlerweile nahezu vollständig erfüllt.
  • Art. 33 I-III GG, die sowohl eine Konkretisierung des Art. 3 I GG als auch eine Ergänzung der Art. 3 II und III GG darstellen. Art. 33 I GG enthält eine Garantie für gleiche staatsbürgerliche Rechte und Pflichten für alle Deutschen in dem jeweiligen Bundesland (wenn es etwa um Wahlrecht oder Zugang zu Ausbildungsstätten geht). Art. 33 II GG hat zwei Seiten: Einerseits den Schutz der Verwaltung vor nicht geeigneten Bewerbern als auch den Schutz des einzelnen Bewerbers vor ungerechtfertigter Benachteiligung (Eignungs-, Befähigungs- und Leistungsprinzip). Art. 33 III GG verbietet Ungleichbehandlungen aufgrund des religiösen Bekenntnisses; ein Gedanke, der sich auch in Art. 3 III, 33 II, 4 I, II und Art. 140 GG i.V.m. 136 I, II Weimarer Reichsverfassung wiederfindet.
  • Art. 38 I 1 GG, der unter anderem die Gleichheit der Wahl garantiert und als lex specialis dem Art. 3 GG vorgeht (was im Jahr 1999 eine Abkehr von der bis daher geltenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darstellte). Geschützt sind das aktive und passive Wahlrecht und Differenzierungen diesbezüglich bedürfen Rechtfertigungsgründen von besonders starkem Gewicht.

II. Prüfung des Art. 3 I GG

Im Grundsatz basiert die Prüfung des Art. 3 I GG auf einem ganz einfachen Satz: Er ist verletzt, wenn wesentlich Gleiches ohne sachlichen Grund ungleich behandelt wird. Das ist der Fall, wenn eine Personengruppe oder Situation rechtlich anders behandelt wird als eine vergleichbare andere Personengruppe oder Situation.

1. Bilden einer Vergleichsgruppe

Zunächst muss der Klausurbearbeiter die verschiedenen Personengruppen oder Situationen unter einen gemeinsamen Oberbegriff (genus proximum) als Bezugspunkt (tertium comparationis) fassen können.

Jura-Individuell-Hinweis: Unterschiedlich behandelte Personengruppen oder Situationen sind nicht vergleichbar, wenn sie nicht derselben Rechtsetzungsgewalt unterfallen (also Ungleichbehandlung durch unterschiedliche Regelungen durch Landesrecht, denn im Bereich der Länderzuständigkeiten müssen länderübergreifend keine identischen Regelungen bestehen).

2. Feststellen einer Ungleichbehandlung

Im Anschluss gilt es, die Ungleichbehandlung zu benennen. Das wird in der Regel sehr leicht fallen.

Jura-Individuell-Hinweis: Eine Ungleichbehandlung muss nicht direkt oder gewollt sein. Sie kann nach heute herrschender Meinung auch in mittelbarer und unbewusster Form auftreten, etwa wenn ein Gesetz zwar geschlechtsneutral formuliert ist, es rein tatsächlich aber vor allem zu Nachteilen bei Frauen führt.

3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

In der frühen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat es genügt, wenn ein sachlicher Grund gegeben war. Anfänglich wurde das so verstanden, dass ein legitimes Differenzierungskriterium zu wählen war. Etwas später wurde dann auch ein legitimes Differenzierungsziel gefordert. Dies wurde von der Literatur die sog. „Willkürformel“ getauft. Heutzutage nimmt das Bundesverfassungsgericht nach der sog. „neuen Formel“ auch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor, deren Intensität sich danach bemisst, ob bestimmte Kriterien erfüllt sind. Kurz gefasst sind diese Kriterien:

  • Es werden Personengruppen und nicht Situationen unterschiedlich behandelt (auch das Bundesverfassungsgericht sieht aber, dass sich aus der Ungleichbehandlung von Sachverhalten mittelbar eine Ungleichbehandlung von Personengruppen ergeben kann).
  • Es wurde durch die staatliche Maßnahme zugleich in den Schutzbereich eines speziellen Freiheitsgrundrechtes eingegriffen.
  • Das Differenzierungskriterium ähnelt den verbotenen Unterscheidungsmerkmalen in Art. 3 III GG.
  • Der Einzelne hat keinen Einfluss auf das Vorliegen des Differenzierungskriteriums.

Jura-Individuell-Hinweis: Wo bleibt es denn dann eigentlich typischerweise überhaupt bei der bloßen Willkürprüfung? Vor allem im Bereich der Leistungsverwaltung, also etwa bei Subventionen.

Kommt man dann zu der Feststellung, dass eine an der Intensität des Vorliegens der genannten Kriterien abgestufte Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen ist, haben die meisten Klausurbearbeiter Probleme damit, die Obersätze für die Prüfungspunkte zu bilden, die ja eigentlich aus der Prüfung der Freiheitsgrundrechte stammen. Hier wird es in der Klausur dann leider häufig recht chaotisch und unpräzise, vor allem was die unterschiedliche Behandlung von Differenzierungsziel und Differenzierungskriterien angeht. Was zusätzlich hinzukommt, wird daher unterstrichen, um es dem Leser noch etwas klarer vor Augen zu führen.

a. Legitimes Differenzierungsziel: Hier kann man praktischerweise auf den sachlichen Grund, also das legitime Differenzierungsziel im Sinne der Willkürformel verweisen.

b. Geeignetheit der Differenzierungskriterien: Diese ist dann zu bejahen, wenn die Verwendung der Differenzierungskriterien zur Abbildung des Differenzierungszieles geeignet ist. Das ist jedenfalls dann zu bejahen, wenn das Differenzierungskriterium an diejenigen Umstände zwischen den Vergleichsgruppen anknüpft, die den Grund der Ungleichbehandlung bilden.

c. Erforderlichkeit der Differenzierung: Diese ist dann zu bejahen, wenn keine weniger belastende Differenzierung ersichtlich ist.

d. Angemessenheit: Hier gilt es sich zu fragen, ob das Differenzierungsziel gewichtig genug ist, um die konkrete Differenzierung zu rechtfertigen. Es geht also um das Verhältnis zwischen der Rechtfertigungskraft der Gründe unter Berücksichtigung von Regelungsziel, Differenzierungskriterium und Regelungskontext einerseits und den nachteiligen Folgen der Ungleichbehandlung andererseits.

III. Prüfung des Art. 3 III 1 GG

1. Anknüpfen an eines der genannten Differenzierungsmerkmale

  • Geschlecht (das ist nach dem Bundesverfassungsgericht nur eine negativ formulierte Wiederholung des Art. 3 II GG)
  • Abstammung: Wird als die biologische Beziehung eines Menschen zu seinen Vorfahren verstanden.
  • Rasse: Heutzutage natürlich ein schwieriger Begriff. Wird als eine Gruppe mit bestimmten vererbbaren Eigenschaften verstanden.
  • Sprache: Hier soll die Eigenständigkeit von völkisch-sprachlichen Minderheiten geschützt werden.
  • Heimat: Nach dem Bundesverfassungsgericht der örtliche Bereich, in dem man geboren oder ansässig ist.
  • Herkunft: Nach dem Bundesverfassungsgericht die ständisch soziale Abstammung und Verwurzelung.
  • Glaube: Umfasst auch areligiöse Einstellungen.
  • Politische Anschauungen: Umfasst das Haben, Äußern und die Umsetzung der Anschauung.
  • Zudem darf niemand wegen einer Behinderung benachteiligt werden.

2. Ungleichbehandlung

Ist es erforderlich, dass für das Eingreifen der Norm gerade „wegen“ der Merkmale ungleich behandelt wird? Früher hat das Bundesverfassungsgericht das bejaht, heute seine Meinung allerdings geändert. Ansonsten würde die Vorschrift ihres materiellen Kerns beraubt. Konsequenz ist also, dass wie bei Art. 3 I GG nicht intendierte Ungleichbehandlungen erfasst werden.

3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung

Kann man eine Ungleichbehandlung überhaupt rechtfertigen, die an die Kritierien aus Art. 3 III 1 GG anknüpft oder handelt es sich um ein absolutes Differenzierungsverbot?

Grundsätzlich ist eine Rechtfertigung nicht möglich. Allerdings gibt es enge Ausnahmen, bei denen aber immer eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderlich ist:

Differenzierungen anhand der aufgezählten Eigenschaften können zum einen zulässig sein, wenn sie zur Lösung von Problemen notwendig sind, die ihrer Natur nach nur bei Personen der einen Gruppe auftreten können oder wenn das Kriterium das konstituierende Element des zu regelnden Lebenssachverhaltes bildet und die Differenzierung zwingend erforderlich ist.

Außerdem kann kollidierendes Verfassungsrecht unter Rückgriff auf eine verfassungsimmanente Schranke zur Rechtfertigung herangezogen werden. Hier muss dann eine Abwägung im Sinne der praktischen Konkordanz vorgenommen werden.

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Art. 8 GG in der Klausur

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Die beiden Absätze des Art. 8 GG, der die Versammlungsfreiheit schützt, kommen mit einer bemerkenswerten textlichen Kürze aus. Das darf aber natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass hinter der Norm viele Probleme stecken, die von Klausurerstellern sowohl während des Studiums als auch im Examen sehr gerne sowohl in Klausuren mit verwaltungsrechtlichem Schwerpunkt als auch in Klausuren mit verfassungsrechtlichem Schwerpunkt eingebaut werden.

Dieser Artikel nimmt es sich zur Aufgabe, den Leser an den Artikel 8 GG heranzuführen, ihn aber auch mit schwierigeren Problemen vertraut zu machen, die häufig in der Verhältnismäßigkeit der Einzelmaßnahme einer Behörde behandelt werden müssen.

I. Der Schutzbereich des Art. 8 I GG

  1. Personeller Schutzbereich

Es handelt sich um ein Deutschengrundrecht, also Deutsche im Sinne des Art. 116 I GG werden geschützt. Über Art. 19 III GG können sich auch inländische juristische Personen des Privatrechts auf Art. 8 I GG berufen.

  1. Sachlicher Schutzbereich

a. Sich friedlich ohne Waffen versammeln

aa. der Versammlungsbegriff

Eine Versammlung ist die Zusammenkunft mehrerer Personen (nach h.M. mindestens 3) zu einem gemeinsamen Zweck bei innerer Verbundenheit.

Hier treffen wir gleich auf eines der größeren Probleme im Rahmen des Art. 8 I GG, wenn es nämlich darum geht, welche Anforderungen an den gemeinsamen Zweck zu stellen sind. Hier gibt es im Wesentlichen drei verschiedene Möglichkeiten: ein enger, ein aufgelockerter und ein weiter Versammlungsbegriff.

Der enge Versammlungsbegriff: Beginnen wir mit dem engsten Normverständnis, denn das ist auch diejenige Ansicht, der sich das Bundesverfassungsgericht angeschlossen hat. Nach dieser Ansicht müssen die Personen zur Erörterung öffentlicher Angelegenheiten zusammenkommen. Welche Argumente kann man für diese Ansicht ins Feld führen? Meist wird hier historisch argumentiert: Art. 8 I GG ist eine Reaktion auf die Weimarer Zeit und das Dritte Reich und dient damit primär dem Schutz politischer Versammlungen. Zudem weise das Grundrecht einen engen Bezug zum Demokratieprinzip auf, indem es einen Ausgleich für die geringen plebiszitären Mitwirkungsrechte des Einzelnen ermögliche. Die Inanspruchnahme von Art. 8 I GG soll nach diesem Verständnis dem Bewusstsein politischer Ohnmacht und gefährlichen Tendenzen zur Staatsverdrossenheit entgegenwirken.

Der erweiterte Versammlungsbegriff: Nach einer gelockerteren Ansicht genügt es, wenn eine gemeinsame Meinungsbildung und -äußerung stattfindet, unabhängig davon, ob es sich dabei um öffentliche oder private Themen handelt. Für diese Meinung lässt sich auch ein ganz schönes Argument anführen: Die Vertreter dieser Auffassung begreifen Art. 8 I GG nämlich als Komplementärgrundrecht zur Meinungsfreiheit: Art. 8 I GG schütze demzufolge die Meinungsbildung in kollektiver Form.

Der weite Versammlungsbegriff: Für diese Meinung genügt jedweder Zweck, es sei denn die jeweilige Veranstaltung dient einer reinen Konsumfunktion (wie etwa in aller Regel bei einem Musikkonzert oder einem Kinobesuch). Diese Meinung beruft sich in erster Linie auf den Wortlaut, der eine etwaige Einschränkung nicht vorsehe. Außerdem habe Art. 8 I GG den Sinn, die Isolierung des Einzelnen zu vermeiden und die Persönlichkeitsentfaltung in Kollektivform zu gewährleisten.

Jura Individuell-Hinweis: In aller Regel wird es sich in der Klausur um eine politische Demonstration handeln, sodass der Streit nicht entschieden werden muss. Muss er einmal entschieden werden, so scheint es angezeigt, dem Bundesverfassungsgericht in seiner Meinung zu folgen.

bb. Waffen

Waffen sind alle technischen Waffen im Sinne des § 1 WaffG sowie jeder Gegenstand, der zur Verletzung von Personen oder zur Beschädigung von Sachen geeignet ist und zu diesem Zweck mitgeführt wird.

Jura Individuell-Hinweis: Anders als es die Reihenfolge der Wörter in Art. 8 I GG intuitiv veranlassen würde, scheint es Sinn zu machen, erst das Vorliegen von Waffen zu prüfen, denn sind Waffen vorhanden, lässt dies die Unfriedlichkeit vermuten.

cc. Friedlich

Friedlich ist eine Versammlung, die keinen gewalttätigen und aufrührerischen Verlauf nimmt, bei der also keine Gewalttätigkeiten oder aggressiven Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen unmittelbar bevorstehen oder bereits stattfinden.

Kann es dabei ausreichen, dass etwa ein Verstoß gegen § 240 StGB vorliegt? Natürlich nicht, denn das würde den Gesetzesvorbehalt in Art. 8 II GG obsolet und es dem Gesetzgeber auch viel zu leicht machen, den Schutzbereich eines so wichtigen Grundrechts von vorneherein zu beschränken.

Jura Individuell-Hinweis: Nicht den Fehler machen, bei einzelnen unfriedlichen Versammlungsteilnehmern der Versammlung als solcher den Schutz des Art. 8 I GG zu versagen! Nur die besagten unfriedlichen Individuen verlieren den Schutz des Art. 8 I GG. Anderes kann nur dann gelten, wenn die Unfriedlichkeit auf die gesamte Versammlung übergegriffen hat.

b. Geschütztes Verhalten

Art. 8 I GG schützt ziemlich umfassend: Geschützt ist die Organisation und Vorbereitung der Versammlung, die Wahl des Versammlungsorts und -zeitpunkts, die Leitung und die Teilnahme an der Versammlung einschließlich der An- und Abreise. Nicht geschützt ist aber etwa das Recht, sich auf fremden Grundstücken zu versammeln. Wie bei anderen Grundrechten auch, enthält Art. 8 I GG natürlich auch die negative Freiheit, nicht an Veranstaltungen teilnehmen zu müssen.

 

II. Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 I GG

Achtung: Bei Art. 8 I GG gibt es natürlich ganz eindeutige Eingriffe, wie etwa die Auflösung einer Versammlung. Allerdings gibt es in der Klausur auch häufig Verhaltensweisen seitens des Staates, die etwas mehr Auseinandersetzung mit ihnen im Prüfungspunkt des Eingriffs erfordern. Im Folgenden eine Übersicht über das, was in Klausuren typischerweise auftaucht (Achtung: bei weitem keine erschöpfende Aufzählung):

  • Auflösungen und Verbote
  • Anmeldungs- und Erlaubnispflichten
  • Überwachungsmaßnahmen als klassisches Beispiel des Eingriffs der zweiten Kategorie: Hier wird ein Eingriff angenommen, soweit durch die Maßnahme die Entschlussfreiheit hinsichtlich der Teilname an der Versammlung beeinträchtigt wird (Abschreckungseffekt)
  • Behinderungen bei Anreise
  • Sanktionierung der Teilnahme an einer Versammlung
  • Behinderung der Wirkung der Versammlung (etwa indem man die Öffentlichkeit abschottet)

III. Rechtfertigung des Eingriffs in Art. 8 I GG

  1. Zwei Schranken

Es existieren zwei verschiedene Schranken für Art. 8 I GG: Da ist zum einen der Gesetzesvorbehalt des Art. 8 II GG für Versammlungen unter freiem Himmel. Findet eine Versammlung nicht unter freiem Himmel statt, so kommt Art. 8 II GG nicht zum Tragen. Für diesen Fall muss dann auf die verfassungsimmanenten Schranken zurückgegriffen werden, d.h. eine Einschränkung kann zugunsten von kollidierendem Verfassungsrecht vorgenommen werden.

Jura Individuell-Hinweis: Vorsicht: „unter freiem Himmel“ nicht wörtlich verstehen. Es geht hier nicht um eine Überdachung, sondern um die Frage, ob die Versammlung zu allen Seiten von ihrer Umwelt abgegrenzt ist. Und warum? Weil solche Veranstaltungen, die potentiell unkontrollierten Zulauf erfahren können, ein viel größeres Gefahrenpotential in sich tragen und der Verfassungsgeber sich daher dazu entschieden hat, dass es möglich sein muss, den Rahmen solcher Versammlungen zu regeln.

 

  1. Schranken-Schranken

Wie sonst auch sind in Art. 8 GG-Klausuren sowohl die Verfassungsmäßigkeit der Schranke als auch die Verfassungsmäßigkeit des Einzelaktes zu prüfen, der sich auf die Schranke stützt. Bezüglich beider Punkte sollen hier ein paar typisierte Probleme dargestellt werden und wie man mit diesen umgeht.

a. Verfassungsmäßigkeit des eingreifenden formellen oder materiellen Gesetzes

Klassiker-Problem der Anmeldepflicht in § 14 VersG: Wer § 14 VersG liest, der wird feststellen, dass Versammlungen 48 Stunden vor Beginn bei der Versammlungsbehörde anzumelden sind. Nach dem Wortlaut gilt das für jegliche Form von Versammlungen. Allerdings muss eine verfassungskonforme Auslegung der Norm dazu führen, dass die Missachtung der Anmeldepflicht nicht für sich allein das Verbot bzw. die Auflösung rechtfertigen kann. Es muss vielmehr eine gesonderte Gefahrensituation hinzutreten.

Bei Spontanveranstaltungen (nicht geplante Versammlung, die sich aus aktuellem Anlass bildet und keinen Veranstalter hat) gilt daher: Die Anmeldepflicht muss überhaupt nicht beachtet werden, da es der Gesetzgeber sonst in der Hand hätte, einen versammlungsfreien Zeitraum zu definieren (vgl. BverfGE 85, 69 (75)).

Bei Eilversammlungen (geplante Versammlung, deren Zweck aber nur erreicht werden kann, wenn die 48-Stunden-Frist nicht eingehalten wird) gilt lediglich, dass die Anmeldung vorzunehmen ist, sobald der Entschluss zur Durchführung der Versammlung feststeht.

b. Verfassungsmäßigkeit des Einzelakts

1. Problem: Einschreiten gegen Versammlung oder gewaltbereite Gegendemonstration

Das Szenario ist das Folgende: Eine friedliche Demonstration ruft eine gewalttätige Gegendemonstration hervor. Ist es dann in Ordnung, wenn etwa die Polizei die friedliche Demonstration auflöst, um den gewalttätigen Demonstranten den Grund zu nehmen, weiterhin gewalttätig zu sein?

Antwort: Nein, das geht im Grundsatz natürlich nicht, denn dann würde die Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit empfindlich erschwert werden. Das heißt, dass die Versammlungsbehörde grundsätzlich gegen die Gegendemonstration vorgehen muss und dass ein Vorgehen gegen die friedliche Ausgangsdemonstration nur unter den strengen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme eines Nichtverantwortlichen in Betracht kommt (vgl. BverfGE 69, 315 (360f.))

2. Problem: Darf eine Versammlung wegen einer Gefahr für die öffentliche Ordnung verboten bzw. aufgelöst werden?

Grundsätzlich nein. Das wird damit begründet, dass aufgrund der überragenden Bedeutung der Versammlungsfreiheit der Rückgriff auf außerrechtliche Verhaltensregeln ein Vorgehen gegen eine geschützte Versammlung nicht legitimieren kann.

In Klausuren taucht häufig die Problematik auf, ob dies auch im Zusammenhang mit rechtsextremistisch motivierten Versammlungen gilt. Hier haben einzelne Gerichte (z.B. OVG NW, DVBl. 2001, 1624 (1624 f.)) das Schutzgut der öffentlichen Ordnung als ausreichend angesehen, ein Verbot bzw. eine Auflösung zu legitimieren. Zur Begründung kann man vor allem mit der Historie argumentieren: Das Grundgesetz ist sicherlich Gegenentwurf zur nationalsozialistischen Gewaltherrschaft im Dritten Reich und die Ablehnung von rechtsextremistischem Gedankengut bringe es auch an verschiedenen Stellen zum Ausdruck, etwa in Art. 1 I, II, 20 I-III, 21 II, 24 II und 26 GG.

Dem hat sich allerdings das Bundesverfassungsgericht entgegengestellt. Aufgrund der Betroffenheit eines für eine Demokratie so wichtigen Grundrechts sei auch bei derartigen Versammlungen eine detaillierte Regelung durch den Parlamentsgesetzgeber notwendig, ein Rückgriff auf den unbestimmten Begriff der öffentlichen Ordnung damit nicht möglich. Ein weiteres Argument, das in der Klausur genannt werden sollte, besteht mit Blick auf das Parteienprivileg in Art. 21 II GG. Folgt man nämlich der Meinung etwa des OVG Nordrhein-Westfalens, so könnte rechtsextremen Parteien ein Großteil der öffentlichen Werbung für ihre politische Überzeugung untersagt werden, was für solch kleine Parteien besonders wichtig ist.

Merke aber: Auflagen können mit Verweis auf die Verletzung der öffentlichen Ordnung erlassen werden, wenn durch das Verhalten der Versammlungsteilnehmer ein Einschüchterungseffekt sowie ein Klima der Gewaltdemonstration und potentiellen Gewaltbereitschaft erzeugt wird. Ein paramilitärischer Eindruck verträgt sich nicht mit unserer Zivilgesellschaft. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht gesagt: Art. 8 I GG schützt Aufzüge und keine Aufmärsche (BverfGE, DVBl. 2001, 897 (899 f.)).

 

IV. Konkurrenzen

Zum Schluss wollen wir uns noch kurz dem Verhältnis von Art. 8 I GG zu anderen Grundrechten widmen. Natürlicherweise ist Art. 8 I GG dem Art. 2 I GG gegenüber spezieller und damit vorrangig zu prüfen. Schwieriger ist da schon die Abgrenzung der Schutzbereiche von Art. 8 I GG und der Religionsfreiheit aus Art. 4 I, II GG, der Meinungsfreiheit aus Art. 5 I 1 1. Halbsatz GG und der Kunstfreiheit aus Art. 5 III 1 1. Fall GG. Ein Stichwort hilft hier sehr: Das der versammlungsspezifischen Gefahr. Geht es um eine solche, ist Art. 8 I GG einschlägig. Erfolgt ein Eingriff jedoch mit Blick auf die religiösen Inhalte einer Versammlung, die Meinungskundgabe oder die künstlerische Betätigung, so sind die dementsprechenden Grundrechte zu prüfen.

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Art. 9 GG in der Klausur

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Man liest bei vielen Grundrechten, dass sie vom Studierenden oder Examenskandidaten in der Vorbereitung nicht ausreichend gewürdigt werden. Art. 9 GG gehört aber mit Sicherheit dazu; selbst in vielen kommerziellen Repetitorien wird zu der Norm kein einziger Fall gelöst, sondern es gibt eine kurze Übersicht mit den entscheidenden Problemen.

In der Tat sind Fälle, in denen Art. 9 GG eine zentrale Rolle spielt, in der Ausbildung eher die Ausnahme. Dann ist aber auch klar, was geschieht, wenn man die Norm einigermaßen durchschaut hat und ein Fall sich tatsächlich mal damit beschäftigt: Die Punkte gehen durch die Decke. Dieser Beitrag soll dabei helfen, die Norm zu durchschauen.

 

I. Allgemeines

Art. 9 GG enthält zwei Grundrechte. In seinem ersten Absatz schützt die allgemeine Vereinigungsfreiheit das Prinzip freier sozialer Gruppenbildung (BverfGE 38, 281 (303)) und in seinem dritten Absatz enthält er als Spezialgrundrecht der allgemeinen Vereinigungsfreiheit die wirtschaftliche Vereinigungsfreiheit (Koalitionsfreiheit).

Während Art. 9 I GG einen engen Zusammenhang mit den Kommunikationsgrundrechten aus Art. 5 I und 8 I GG aufweist, besteht dieser Zusammenhang für Art. 9 III GG zu den wirtschaftsverfassungsrechtlichen Grundrechten aus Art. 12 I, 14 und 15 GG.

Art. 9 II GG enthält einen engen Schrankenvorbehalt, der in jedem Fall auf die allgemeine Vereinigungsfreiheit anwendbar ist. Umstritten ist die Anwendbarkeit auf Art. 9 III GG. In jedem Fall unterliegen beide Grundrechte des Art. 9 GG verfassungsimmanenten Schranken und dem Vorbehalt von ausgestaltenden gesetzlichen Regelungen in Abgrenzung zum Eingriff.

 

II. Art. 9 I – Die allgemeine Vereinigungsfreiheit

1. Definition der Vereinigung, § 2 I VereinsG

Hoffentlich stutzt der Leser jetzt kurz angesichts der Tatsache, dass sich eine einfachgesetzliche Norm in der Zwischenüberschrift befindet. Denn wie wir alle wissen, kann das einfache Gesetz einen verfassungsrechtlichen Begriff nicht einfach so definieren. Es ist allerdings mehr oder weniger allgemein anerkannt, dass der Begriff des Vereins in § 2 VereinsG eine Definition enthält, die derjenigen des Grundgesetzes entspricht.

Daher hier nun § 2 VereinsG:

Verein im Sinne dieses Gesetzes ist ohne Rücksicht auf die Rechtsform jede Vereinigung, zu der sich eine Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen für längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck freiwillig zusammengeschlossen und einer organisierten Willensbildung unterworfen hat.

Jura Individuell-Hinweis: Eine Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen besteht nach herrschender Meinung bereits ab zwei Personen. Das Merkmal „für längere Zeit“ grenzt Art. 9 GG von Art. 8 GG ab. Anders als bei Art. 8 I GG ist Art. 9 I GG für jeden Zweck offen (siehe zu der Thematik Art. 8 GG in der Klausur). An der Freiwilligkeit scheitert es bei öffentlich-rechtlichen Zwangszusammenschlüssen.

2. Geschützte Verhaltensweisen

a. Positiver Gewährleistungsinhalt

Wenn wir uns nur den Wortlaut anschauen, dann ist nur die Freiheit geschützt, Vereine und Gesellschaften zu bilden. Unter das Recht auf Bildung einer Vereinigung fallen

– das Recht auf Festlegung des Sitzes,

– das Recht auf Festlegung der Rechtsform,

– das Recht auf Festlegung der inneren Organisationsstruktur

– sowie das Recht zur freien Entscheidung über die Aufnahme neuer Mitglieder.

Geschützt ist auch der Vereinsname, da Vereine damit öffentlich auftreten und er dazu dient, sich von anderen Vereinen abzugrenzen.

Würde sich, wie es der Wortlaut eben vermuten lässt, Art. 9 I GG auf die Bildung von Vereinigungen beschränken, so wäre der Schutz doch sehr unzureichend. Aus diesem Grund ist auch die sog. Vereinsautonomie geschützt. Hierunter versteht das Bundesverfassungsgericht das Recht zur Selbstbestimmung über die eigene Organisation, das Verfahren ihrer Willensbildung und die Führung der Geschäfte. Ganz wichtig für Vereinigungen ist auch der Bereich der Mitgliederwerbung.

Vorsicht: Nach herrschender Meinung werden Vereinigungen aber nur in ihrer vereinsspezifischen Betätigungsfreiheit geschützt! Was bedeutet das? Liest man Urteile des Bundesverfassungsgerichts, dann geht es um Betätigungen, die die Existenz und Funktionsfähigkeit der Vereinigungen als solche betreffen, m.a.W. das Recht auf Sicherung ihres Bestehens. Vielleicht hilft es, wenn man deutlich macht, was etwa nicht vereinsspezifisch ist: Wird einer Vereinigung eine Demonstration verboten, so bedarf es keines Rückgriffs auf Art. 9 I GG, sondern es ist einzig und allein Art. 8 I GG zu prüfen. Zur Begründung kann man anführen, dass diese Vereinigung überhaupt nicht einen erweiterten Schutz benötigt.

b. Negativer Gewährleistungsinhalt

Wir kennen das von anderen Grundrechten, geschützt ist auch immer die negative Seite und für Art. 9 I GG bedeutet das, dass jedermann das Recht hat, Vereinigungen nicht beizutreten oder auch wieder aus ihnen auszutreten. In dem Kontext kann man kurz ins Grübeln kommen, wie denn dann eigentlich Pflichtmitgliedschaften in öffentlich-rechtlichen Zwangsverbänden zulässig sein können und die Antwort ist ganz pfiffig: Art. 9 I GG schützt ja nur die Bildung von privatrechtlichen Vereinigungen und nicht von öffentlich-rechtlichen Körperschaften. Da der Schutz der negativen Vereinigungsfreiheit nicht weiter gehen kann als der Schutzbereich der positiven Vereinigungsfreiheit, ist Art. 9 I GG in diesen Fällen überhaupt nicht berührt.

 

3. Wer ist Träger des Grundrechts aus Art. 9 I GG?

Nach h.M. handelt es sich bei Art. 9 I GG um ein sog. „Doppelgrundrecht“, das einerseits den Mitgliedern der Vereinigung und andererseits aber auch der Vereinigung als solcher zusteht, ohne dass es eines Rückgriffs auf Art. 19 III GG bedarf. Die Mindermeinung bemüht eben Art. 19 III GG, sodass man im Ergebnis jeweils zum gleichen Ergebnis kommt.

 

4. Eingriffe

Eingriffe sind in mannigfaltiger Form denkbar. Reine Bagatellen stellen allerdings keine Eingriffe dar, wie etwa die Verpflichtung zur Registrierung der Vereinigungsbildung. Andererseits kann auch mal ein Eingriff im Sinne des modernen Eingriffbegriffs vorliegen, etwa durch intensive Überwachung einer Vereinigung oder durch öffentliche Warnung vor dieser.

 

5. Schranke

Art. 9 II GG scheint rein vom Wortlaut her für eine Begrenzung des Schutzbereichs zu sprechen. Aus Gründen der Rechtssicherheit versteht die h.M. Art. 9 II GG allerdings als einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt, der auch für religiöse Vereinigungen i.S.d. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 II WRV gilt. Dieser qualifizierte Gesetzesvorbehalt befasst sich mit dem Vereinsverbot und hält dieses abschließend in drei Fällen für möglich:

  • Zuwiderlaufen gegen die allgemeinen Strafgesetze: Strafgesetze sind die allgemeinen Strafgesetze, d.h. Strafvorschriften, die kein gegen die Vereinigungsfreiheit gerichtetes Sonderstrafrecht darstellen. Ein Verstoß gegen Ordnungswidrigkeiten ist nicht ausreichend.

Jura Individuell-Hinweis: Das Verhalten einzelner Mitglieder der Vereinigung ist nur dann relevant, wenn es der Vereinigung zugerechnet werden kann.

  • Ausrichtung gegen die verfassungsmäßige Ordnung: Hier ist es gut zu wissen, dass der Begriff der „verfassungsmäßigen Ordnung“ nicht der gleiche ist wie in Art. 2 I GG und Art. 20 III GG, sondern mit dem Terminus der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ im Sinne des Art. 18 GG gleichgesetzt wird. Außerdem muss das Verhalten der Vereinigung kämpferisch-aggressiv sein.
  • Ausrichtung gegen den Gedanken der Völkerverständigung: Auch hier ist es super, wenn man dem Korrektor zeigen kann, dass man einen guten Überblick über das Grundgesetz hat und den Begriff der „Völkerverständigung“ mit dem „friedlichen Zusammenleben der Völker“ aus Art. 26 I GG, mit dem „Frieden in der Welt“ aus der Präambel und dem „System gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ aus Art. 24 GG verbindet. Auch hier ist ein aggressiv-kämpferisches Vorgehen notwendig.

 

 

III. Art. 9 III GG – Die Koalitionsfreiheit

 

1. Definition der Koalition

Koalitionen sind Vereinigungen i.S.d. Art. 9 I GG, die die Wahrung und Förderung der Arbeits- und der Wirtschaftsbedingungen verfolgen. Arbeitsbedingungen sind dabei solche, die mit dem Arbeitsverhältnis selbst zu tun haben, während Wirtschaftsbedingungen mehr einen sozialpolitischen Bezug aufweisen. Über den Wortlaut hinaus müssen die Koalitionen noch weitere Kriterien erfüllen: Das Prinzip der Gegnerfreiheit (d.h. in einem Verband sind auschließlich Arbeitgeber oder Arbeitnehmer), der Unabhängigkeit (meint wirtschaftliche Unabhängigkeit gegenüber der Gegenseite), der Überbetrieblichkeit und der Durchsetzungsfähigkeit.

 

2. Geschützte Verhaltensweisen

a. Positiver Gewährleistungsinhalt

  • Das Recht sich mit anderen zu Koalitionen zusammenzuschließen.
  • Der Beitritt zu einer bereits bestehenden Koalition.
  • Der Verbleib und die Betätigung in der Koalition.

b. Negativer Gewährleistungsinhalt

Negativ sind das Fernbleiben von einer Koalition und der Austritt geschützt.

 

3. Wer ist Träger des Grundrechts aus Art. 9 III GG?

Anders als bei Art. 9 I GG ist es bei Art. 9 III GG unbestritten, dass es sich um ein Doppelgrundrecht handelt, d.h. die Mitglieder der Koalition wie auch die Koalition selbst sind Träger des Grundrechts. Zur Begründung kann man anführen, dass in Art. 9 III 3 GG von „Arbeitskampf“ die Rede ist, also einer Maßnahme, die die kollektive Koalitionsfreiheit voraussetzt. Hier ist ein Rückgriff auf Art. 19 III GG also nach keiner Ansicht notwendig.

 

4. Eingriffe vs. ausgestaltende Regelungen

Die Ausübung der Koalitionsfreiheit ist von einem gewissen stabilen Rahmen abhängig, den der Gesetzgeber liefern muss und durch welchen dieser die Ausübung der Koalitionsfreiheit festlegt oder modifiziert.

Jura Individuell-Hinweis: Rein dogmatisch enthält Art. 9 III 2 GG eine sehr spannende Vorschrift, denn es handelt sich um einen Fall unmittelbarer Drittwirkung von Grundrechten: Ein Eingriff ist bei einer rechtswidrigen Beeinträchtigung durch private Dritte zu bejahen!

 

5. Schranke

Wie bereits in der Einleitung angesprochen, ist umstritten, ob Art. 9 III GG unter dem qualifizierten Gesetzesvorbehalt aus Art. 9 II GG steht. Dagegen spricht sicherlich die systematische Stellung der Schranke vor dem Schutzbereich. Letztlich bleibt das aber ein ziemlich akademischer Streit, weil die praktische Relevanz der Schranke des Art. 9 II GG für den Schutzbereich des Art. 9 III GG sehr gering ist. Jedenfalls kann aber unter Rückgriff auf das Konzept der verfassungsimmanenten Schranke kollidierendes Verfassungsrecht einen Eingriff in Art.9 III GG rechtfertigen.

 

IV. Konkurrenzen zu anderen Grundrechten

Zum Abschluss wollen wir uns noch ein paar klassischen Konkurrenzproblemen im Zusammenhang mit Art. 9 GG widmen. Hierzu gilt, dass Art. 9 I GG durch spezielle Vereinigungsfreiheiten verdrängt wird. Art. 9 I GG muss also zurückstehen hinter

  • der Koalitionsfreiheit aus Art. 9 III GG,
  • der religiösen Vereinigungsfreiheit nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 II WRV
  • sowie der Parteiengründungsfreiheit aus Art. 21 I 2 GG.

Jura Individuell-Hinweis: Da kommunale Wählervereinigungen nicht unter den Parteienbegriff des Grundgesetzes fallen, stellen sie keine Parteien i.S.d. Art. 21 GG dar und werden damit durch Art. 9 I GG geschützt.

Jura Individuell-Hinweis: Das Parteienverbot durch das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 21 II 2 GG ist vorrangig gegenüber dem Verbot politischer Vereinigungen nach Art. 9 II GG durch die Exekutive (Stichwort Parteienprivileg!).

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Klausur Versammlungsrecht (Niedersachsen)

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Sachverhalt

Paula P. (P) ist Studentin der Rechtswissenschaften an der Leibniz Universität Hannover. Im März 2013 erfährt sie durch einen Flugzettel, der auf dem Campus der Juristischen Fakultät verteilt wird, dass für den 1. Mai 2013 eine Demonstration der N-Partei in Hannover geplant sei. P fühlt sich als überzeugte Demokratin verpflichtet, ein Zeichen gegen diese Demonstration zu setzen. Schon im Jahr 2012 hatte sie mit mehreren Kommilitonen versucht, eine entsprechende Versammlung mit verschiedenen Aktionen und Sitzblockaden zu verhindern – da diese Gegenveranstaltung jedoch ganz spontan organisiert werden musste, gelang es der Polizei innerhalb von kürzester Zeit, P und ihre Freunde wegzutragen, sodass die Demonstration der N-Partei ohne irgendwelcher Beeinträchtigungen durchgeführt werden konnte. Um die Effizienz der Gegendemonstration in diesem Jahr zu steigern, planen die P und ihre Kommilitonen zwei Wochen vor der N-Partei-Versammlung ein Straßentheater, im Rahmen derer das Blockieren und Stören der rechtsextremen Versammlung geprobt werden soll.

P meldet dementsprechend am 01.04.2013 für den 16.04.2013 eine öffentliche Kundgebung unter dem Motto „Antifaschistisches Straßentheater“ und für den 01.05.2013 eine Gegendemonstration zum Aufmarsch der N-Partei an.

Die Sachbearbeiterin der örtlich und sachlich zuständigen Versammlungsbehörde Frau Berta Bolze (B) lässt sich daraufhin die Akte aus dem Vorjahr vorlegen und lädt die P zu einem sog. Kooperationsgespräch ein. Aus diesem Gespräch, der Akte des Vorjahres, aus diversen Zeitungs-berichten sowie aus dem Inhalt der Internetseite der P schließt die Sachbearbeiterin folgerichtig, dass Ziel der von P am 16.4.2013 geplanten Veranstaltung ist, die für den 1. Mai 2013 geplante und bereits genehmigte Versammlung der N-Partei aktiv zu stören bzw. falls irgend möglich, zu verhindern. Die Sachbearbeiterin genehmigt daraufhin zwar am 14.04.2013 das beantragte Straßentheater der P; das Schreiben an P enthält jedoch folgenden Zusatz:

„Probeblockaden jedweder Art und Rollenspiele, deren Inhalt das probeweise Wegtragen von Versammlungsteilnehmern ist, die zu „Übungszwecken“ eine Blockadeaktion simulieren sowie sonstige schauspielerische Aktionen, die Blockadeaktionen darstellen, sind untersagt.“

Bezüglich der für den 1. Mai 2013 geplanten Gegendemonstration zum Aufmarsch der N-Partei hat die Sachbearbeiterin B Hinweise im Internet entdeckt, dass es Planungen der Gruppe der P gibt, die Versammlungsteilnehmer der N-Partei mit Clownskostümen zu provozieren. B befürchtet, dass es gerade aufgrund dieser Kostümierung zu Ausschreitungen kommen könnte und genehmigt die von P beantragte Gegendemonstration für den 1. Mai 2013 mit folgendem Zusatz:

„Pantomimisch-spielerische Aktionen kostümierter Personen (insbesondere mit Clownskostümen) haben einen Abstand von mindestens 200 Metern zur am gleichen Tag durchgeführten Versammlung der N-Partei einzuhalten.“

P ist empört, als sie das Schreiben der Versammlungsbehörde am 15.04.2013 liest. Aus Angst, dass sie, wenn sie die Veranstaltung am 16.04.2013 wie geplant durchführt, mit negativen Folgen für ihr berufliches Fortkommen rechnen muss, sagt sie kurzerhand die ganze Aktion für den 16.04.2013 ab. Dennoch will sie die Angelegenheit nicht auf sich beruhen lassen, da sie fest damit rechnet, dass auch in den kommenden Jahren wieder Aufmärsche der N-Partei in Hannover stattfinden sollen und sie der Auffassung ist, dass es ihr möglich sein muss, sich als Verfechterin der Werte der Verfassung unter relativ realistischen Bedingungen – und seien sie auch nur gespielt – auf eine Bekämpfung solcher Aufmärsche vorzubereiten. Auch will P nicht akzeptieren, dass es ihr und ihren Mitstreitern am 1. Mai 2013 verboten sein soll, Clownskostüme anzuziehen.

Am 18.04.2013 wendet sie sich mit ihrem Anliegen an das Verwaltungsgericht Hannover.

Wie wird das Verwaltungsgericht entscheiden?

Gutachten

Das Verwaltungsgericht Hannover wird über die Klage der P entscheiden, soweit es als Gericht zuständig ist und soweit die Klage der P zulässig und begründet ist.

 A. Verwaltungsrechtsweg

Zunächst müsste der Rechtsweg zum Verwaltungsgericht eröffnet sein.

I. Aufdrängende Sonderzuweisung

Eine aufdrängende Sonderzuweisung zum Verwaltungsgericht für die vorliegende Streitigkeit liegt nicht vor.

II. Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs, § 40 I 1 VwGO

Insofern richtet sich die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs nach § 40 I 1 VwGO.

1. Öffentlich-rechtliche Streitigkeit

Erforderlich ist dafür, dass es sich vorliegend um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit handelt. Dieses bestimmt sich zunächst nach der modifizierten Subjektstheorie. Danach ist eine Streitigkeit öffentlich-rechtlich, wenn die streitentscheidenden Normen einen hoheitlichen Träger einseitig berechtigen oder verpflichten. Zu klären ist damit, welche Normen dem vorliegenden Streit zugrunde liegen. Allerdings existieren zwei verschiedene Bescheide der B, gegen die die P jeweils vorgehen möchte. Hinsichtlich des Streitgegenstandes ist damit zum einen zwischen dem ersten Bescheid, der die Erprobung von Sitzblockaden verbietet, und dem zweiten Bescheid, der die Annäherung mit Clownskostümen an die genehmigte Veranstaltung der N auf 200 Meter beschränkt, zu differenzieren. Obwohl es sich hierbei jedoch um zwei grundlegend verschiedene Bescheide handelt, beinhalten beide Beschränkungen von Versammlungen. Insofern richtet sich der Streitgegenstand beide Male nach § 8 I NVersG. Die Normen des NVersG berechtigen einseitig eine Behörde zur Beschränkung von Versammlungen. Insofern handelt es sich nach der modifizierten Subjektstheorie bei den vorliegenden Streitigkeiten um solche des öffentlichen Rechts.

2. Nicht-verfassungsrechtlicher Art

Weiterhin ist keine doppelte Verfassungsunmittelbarkeit gegeben, da es sich weder um eine Streitigkeit auf dem Gebiet des Verfassungsrechts, noch um eine Streitigkeit zwischen zwei am Verfassungsleben Beteiligten handelt.

3. Keine abdrängende Sonderzuweisung

Eine abdrängende Sonderzuweisung ist überdies nicht erkennbar.

4. Zwischenergebnis

Die Voraussetzungen des § 40 I 1 VwGO sind erfüllt, so dass der Rechtsweg zum Verwaltungsgericht eröffnet ist.

B. Zulässigkeit

Die Klage müsste aber auch zulässig sein.

I. Statthafte Klageart

Dafür ist zunächst erforderlich, dass eine statthafte Klageart vorliegt. Die statthafte Klageart richtet sich grundsätzlich nach dem Klagebegehren des Klägers, § 88 VwGO. Als problematisch könnte sich hier jedoch erweisen, dass P sich gegen zwei Bescheide wendet. Es ist daher möglich, dass sie hinsichtlich jedes einzelnen Bescheides etwas anderes begehrt, so dass notwendigerweise die beiden Begehren jeweils separat auf ihr Klagebegehren zu untersuchen sind.

1. Bescheid 1 = Erprobung von Sitzblockaden

In dem ersten Bescheid wird der P durch die Sachbearbeiterin B zwar das Straßentheater an sich gewährt, aber lediglich unter der Beschränkung Sitzblockaden unter dem Deckmantel eines Straßentheaters zu erproben. Diese geplante Veranstaltung sollte am 16.04.2013 stattfinden, wurde aber durch die P, wegen zu befürchtender arbeitsrechtlicher Konsequenzen, abgesagt. Die statthafte Klageart ist nun entscheidend davon abhängig, ob sich die P eigenständig gegen die Beschränkung zur Wehr setzen kann.

a) Isolierte Anfechtungsklage von Nebenbestimmungen

Als statthafte Klageart käme beispielsweise eine isolierte Anfechtungsklage von Nebenbestimmungen in Betracht. Erforderlich wäre dann jedoch, dass die vorliegende Beschränkung eine Nebenbestimmung iSd § 36 VwVfG darstellt, der ein Haupt-VA zugrundeliegt. Als Haupt-VA käme lediglich die Genehmigung einer Versammlung in Betracht. Die Voraussetzungen eines VAes richten sich nach § 35 S.1 VwVfG. Danach müsste eine hoheitliche Maßnahme einer Behörde auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts zur Regelung eines Einzelfalles mit Außenwirkung vorhanden sein. Ob hinsichtlich der Genehmigung der Veranstaltung an sich aber eine Regelung zugrunde liegt ist äußerst fraglich. Laut § 1 NVersG ist es jedermann gestattet eine Versammlung durchzuführen. Es ist zwar grundsätzlich erlaubt, dass die Behörde eine Versammlung unter gewissen Umständen einschränkt, es obliegt aber nicht der Behörde darüber zu entscheiden, dass überhaupt eine Versammlung stattfinden darf. Eine Versammlung ist damit gar nicht genehmigungsfähig, so dass die B das Zustandekommen der von P geplanten Veranstaltung auch nicht hätte verhindern können. Insofern liegt der „Genehmigung“ der Versammlung keine Regelung zugrunde und es existiert kein Haupt-VA. Dies hat jedoch zur Folge, dass es sich bei den Beschränkungen um keine Nebenbestimmung iSd § 36 VwVfG handeln kann. Eine isolierte Anfechtungsklage gegen Nebenbestimmungen scheidet damit aus.

b) Fortsetzungsfeststellungsklage (FFK) oder Feststellungsklage

Möglich erscheint aber, dass das Klagebegehren zu einer FFK oder einer Feststellungsklage passen könnte.

aa) Vorliegen eines VAes

Für eine FFK ist zunächst das Vorliegen eines VAes iSd § 35 S.1 VwVfG erforderlich. Dann müsste der „Zusatz“ der B, der gerade keine Nebenbestimmung ist, einen eigenständigen VA darstellen. Es handelt sich bei dem Verbot der Erprobung von Sitzblockaden um eine Beschränkung einer Versammlung durch die B und damit um eine hoheitliche Maßnahme einer Behörde auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts. Die Einschränkung der Versammlung stellt überdies eine Regelung dar, die nur für den Fall der P gilt und ihr gegenüber bekannt gegeben wurde. Insofern liegen die Voraussetzungen des § 35 S.1 VwVfG vor. Ein VA ist damit gegeben.

bb) Vorherige Erledigung

Weiterhin müsste sich der VA bereits vor dem Ende der Verhandlung erledigt haben. Beispiele für mögliche Erledigungen liefert § 43 II VwVfG. Die P hatte Sorge, dass sie bei Durchführung der Veranstaltung in der von ihr geplanten Weise arbeitsrechtliche Konsequenzen zu fürchten habe und hat die Veranstaltung damit abgesagt. In dieser Handlung ist grundsätzlich eine Rücknahme zu erkennen. Allerdings war die Veranstaltung selbst nicht genehmigungsfähig, so dass auch keine klassische Rücknahme eines etwaigen Antrags in Betracht kommt. Unabhängig davon sollte die Veranstaltung aber bereits am 16.04.2013 stattfinden und die P wendet sich erst am 18.04.2013 an das Verwaltungsgericht. Damit ist bereits eine Erledigung in Form des Zeitablaufs gegeben.

Diese Erledigung fand allerdings nicht erst im Verlauf des Verfahrens, sondern bereits vor Klageerhebung statt. Eine direkte Anwendung des § 113 I 4 VwGO kommt wegen des Widerspruch zum Wortlaut nicht in Betracht. Fraglich ist daher, ob eine analoge Anwendung der FFK oder vielmehr eine reine Feststellungsklage Anwendung finden kann. Würde man im Falle der Erledigung des VAes vor Klageerhebung eine analoge FFK verneinen und stattdessen annehmen, dass in einem solchen Fall die Feststellungsklage eingreife, so würde die statthafte Klageart von dem reinen Zufall des Zeitpunktes der Erledigung abhängen. Dies würde aber dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwiderlaufen, so dass man auch im Falle der Erledigung vor Klageerhebung zu dem Schluss gelangen muss, dass die einzig richtige statthafte Klageart die FFK ist, allerdings lediglich in analoger Anwendung.

cc) Zwischenergebnis

P kann sich gegen den ersten Bescheid und des darin enthaltenden Verbots der Erprobung von Sitzblockaden mittels einer FFK gem. § 113 I 4 VwGO analog zur Wehr setzen.

2. Bescheid 2 = Annäherungsverbot

Auch der zweite Bescheid ist auf das Begehren der P hin zu untersuchen, § 88 VwGO.

Der zweite Bescheid der B enthält zunächst ebenfalls eine Genehmigung der Versammlung an sich und beschränkt sie in einem weiteren Schritt durch den Zusatz, dass die P an der Veranstaltung zwar grundsätzlich Clownskostüme tragen, sich aber nur maximal 200 Meter an die ebenfalls genehmigte Veranstaltung der N annähern darf.

Auch für diese Veranstaltung gilt grundsätzlich, dass eine Versammlung in der hier vorliegenden Form genehmigungsfrei ist und dessen Stattfinden nicht der Entscheidung der B unterlag. Zu untersuchen ist wiederum, ob der von der B als „Zusatz“ deklarierte Teil einen eigenen VA darstellt und mit welcher Klage sich die P dagegen wehren könnte.

a) Vorliegen eines VAes

Zunächst könnte der vermeintliche Zusatz einen eigenständigen VA iSd § 35 S.1 VwVfG darstellen. Die B hat als Behörde eine einseitige Anordnung getroffen, die eine öffentliche Versammlung im Falle des R beschränkt. Damit sind die Voraussetzungen des § 35 S.1 VwVfG erfüllt und ein VA liegt vor.

b) Keine Erledigung

Desweiteren ist zu klären, ob sich auch dieses Begehren bereits erledigt hat. Allerdings soll die Gegendemonstration erst am 01.05.2013 stattfinden und die P wendet sich bereits am 18.04.2013 an das Verwaltungsgericht. Insofern liegt das begehrte Ereignis in der Zukunft und ist noch nicht erledigt.

c) Anfechtungsklage oder Verpflichtungsklage

Das geplante Ereignis liegt lediglich zwei Wochen in der Zukunft. Insofern erscheint es fraglich, ob die P noch rechtzeitigen Rechtsschutz erhalten kann. Allerdings hat die Behörde keine sofortige Vollziehung des Annäherungsverbotes angeordnet, durch die der Suspensiveffekt der P eingeschränkt wäre. Die P kann damit nach Klageerhebung die Veranstaltung wunschgemäß durchführen, selbst dann, wenn das Gericht über ihre Klage noch nicht entschieden hat. Ein Antrag nach § 80 V VwGO scheidet damit von vornherein aus.

In Betracht kommen allerdings sowohl die Anfechtungs- als auch die Verpflichtungsklage. Eine Verpflichtungsklage würde aber nur dann eingreifen, wenn die P die B durch das Gericht dazu verpflichten möchte, den bisherigen Bescheid aufzuheben und erneut über die Genehmigung der Versammlung, diesmal allerdings ohne den Zusatz, zu entscheiden. Eine Verpflichtung zum Neuerlass ohne Zusatz käme aber nur dann in Frage, wenn ein Grund-VA existieren würde. Die Versammlung an sich ist aber genehmigungsfrei, so dass eine Verpflichtungsklage die Behörde nur verpflichten könnte, nochmals über die Beschränkung nachzudenken und diese gegebenenfalls zu unterlassen. Diese Klage würde den bestehenden VA jedoch nicht beseitigen, so dass sie das Klagebegehren nicht ausreichend durchsetzen kann. Eine Verpflichtungsklage scheidet damit aus.

Übrig bleibt aber die Anfechtungsklage. P wendet sich direkt gegen das Annäherungsverbot und damit gegen einen eigenständigen VA. Wenn dieser VA beseitigt wird, existiert für die P keinerlei Beschränkung mehr. Die Versammlung selbst ist genehmigungsfrei und darf ohne Weiteres sattfinden. Insofern ist hinsichtlich des Annäherungsverbots die Anfechtungsklage iSd § 42 I, 1. Alt. VWGO die statthafte Klageart.

3. Zwischenergebnis

Nach genauer Betrachtung des Sachverhaltes ist festzustellen, dass P zwei unterschiedliche Klagebegehren iSd § 88 VwGO verfolgt. Hinsichtlich des 1. Bescheides ist die statthafte Klageart damit die FFK in analoger Anwendung des § 113 I 4 VwGO und hinsichtlich des 2. Bescheides die Anfechtungsklage gem. § 42 I, 1. Alt. VwGO. Hinsichtlich der weiteren Voraussetzungen ist daher zwischen den jeweiligen Klagearten zu differenzieren.

II. Klagebefugnis

Neben der statthaften Klageart ist erforderlich, dass die P klagebefugt ist.

1. Zu § 113 I 4 VwGO analog

Bei der FFK handelt es sich grundsätzlich nicht um eine Feststellung eines erledigten VAes sondern vielmehr um eine Anfechtung eines bereits erledigten VAes. Aufgrund der Nähe zu § 42 I, 1. Alt. VwGO ist daher auch eine Klagebefugnis analog § 42 II VwGO erforderlich. Die Klagebefugnis richtet sich nach der Möglichkeitstheorie. Danach ist die Klagebefugnis gegeben, wenn die Möglichkeit besteht, dass der Kläger in subjektiven Rechten verletzt worden ist. Die P hätte die erste Versammlung nur durchführen können, sofern sie keine Sitzblockaden erprobt. Diese Einschränkung könnte einen rechtswidrigen Eingriff in das aus Art. 8 I GG garantierte Grundrecht auf Versammlungsfreiheit darstellen. Die Möglichkeit einer Rechtsverletzung besteht, wodurch auch eine Klagebefugnis zu bejahen ist.

2. Zu § 42 I, 1. Alt. VwGO

Hinsichtlich des zweiten Bescheides ist die Anfechtungsklage einschlägig, so dass sich die erforderliche Klagebefugnis hierbei direkt nach § 42 II VwGO richtet. Für die Anfechtungsklage ist die Klagebefugnis sowohl nach der Möglichkeitstheorie, als auch nach der sog. Adressatentheorie zu beurteilen. Die Adressatentheorie ist zu bejahen, wenn der Kläger Adressat eines belastenden VAes ist, der ihn in seinem Grundrecht aus Art. 2 I GG belastet. Der zweite Bescheid enthält ein Annäherungsverbot. Ein Verbot belastet den Adressaten grundsätzlich, so dass gemäß der Adressatentheorie die Klagebefugnis der P gegeben ist. Allerdings erscheint durch das Annäherungsverbot überdies die Möglichkeit zu bestehen, dass die P in ihrem aus Art. 8 I GG garantierten Versammlungsrecht verletzt wurde. Insofern ist P gem. § 42 II VwGO sowohl über die Adressaten-, als auch durch die Möglichkeitstheorie klagebefugt.

III. Klagegegner

1. Zu § 113 I 4 VwGO analog

Der richtige Klagegegner für die FFK bestimmt sich nach § 78 I Nr.2 VwGO analog iVm § 79 II NJG. Die Polizeidirektion H als dem Ministerium für Inneres und Sport nachgeordnete ober Landesbehörde und nach § 24 I Nr. 1, II NVersG zuständige Versammlungsbehörde, die den VA erlassen hat, ist im vorliegenden Fall der richtige Klagegegner.

2. Zu § 42 I, 1. alt. VwGO

Hinsichtlich der Anfechtungsklage richtet sich der Klagegegner direkt nach § 78 I Nr.2 VwGO iVm § 79 II NJG. Aber auch hier ist die Polizeidirektion H der richtige Klagegegner.

IV. Beteiligten- und Prozessfähigkeit

Weiterhin müssen sowohl die Klägerin, als auch die Beklagte beteiligten- sowie prozessfähig sein.

1. Die Klägerin P
a) Beteiligtenfähigkeit

Die Beteiligtenfähigkeit der Klägerin P als natürliche Person, bestimmt sich nach § 61 Nr.1, 1. Alt. VwGO.

b) Prozessfähigkeit

Nach § 62 I Nr.1 VwGO ist die P überdies auch prozessfähig.

2. Die Beklagte Polizeidirektion H
a) Beteiligtenfähigkeit

Die Polizeidirektion H  ist eine Landesbehörde, so dass sich die Beteiligtenfähigkeit nach § 61 Nr. 3 VwGO iVm § 79 I NJG bestimmt.

b) Prozessfähigkeit

Als Behörde ist die Polizeidirektion H nicht in der Lage selbstständig zu handeln, so dass es einen Vertreter bedarf. Die Prozessfähigkeit ergibt sich damit aus § 62 III VwGO.

V. Besondere Sachurteilsvoraussetzungen

Weiterhin ist zu untersuchen welche besonderen Sachurteilsvoraussetzungen für die Zulässigkeit der Klagen vorhanden sein müssen.

1. Vorverfahren
a) Zu § 113 I 4 VwGO analog

Es bedarf zunächst der Klärung, ob § 113 I 4 VwGO analog überhaupt ein Vorverfahren bedarf. Grundsätzlich ist ein Vorverfahren iSd § 68 I 1 VwGO nur bei § 42 I, 1., 2. Alt. VwGO erforderlich, also lediglich bei der Anfechtungs- als auch bei der Verpflichtungsklage. Insofern ist fraglich, ob es bei § 113 I 4 VwGO analog eines Vorverfahrens gem. § 68 I 1 VwGO analog überhaupt bedarf. Diese Frage ist jedoch hinfällig, wenn die Anwendung des § 68 I 1 VwGO in Niedersachsen ohnehin durch § 68 I 2 VwGO von vornherein ausgeschlossen sein sollte. Gem. § 68 I 2 VwGO iVm § 80 I NJG ist die Durchführung eines Vorverfahrens grundsätzlich entbehrlich, sofern kein Fall des § 80 III NJG vorliegen sollte. Ein solcher Fall ist hier jedoch nicht einschlägig, so dass das Vorverfahren in Niedersachsen tatsächlich nicht durchgeführt werden muss. Die Frage der analogen Anwendung des § 68 I 1 VwGO kann damit dahinstehen.

b) Zu § 42 I, 1. Alt. VwGO

Auch im Falle der Anfechtungsklage iSd § 42 I, 1. Alt. VwGO gilt grundsätzlich § 68 I 1 VwGO. Im Wege des § 68 I 2 VwGO iVm § 80 NJG und der Nichteinschlägigkeit des § 80 III NJG ist das Vorverfahren für den hier vorliegenden Fall unstatthaft.

2. Klagefrist

Erforderlich ist auch, dass die P ihre Klagen fristgerecht einreicht.

a) Zu § 113 I 4 VwGO analog

Wie oben bereits festgestellt werden konnte, ist eine FFK nichts anderes als eine Anfechtungsklage gegen einen bereits erledigten VA und gerade nicht nur eine Feststellungsklage. Insofern richtet sich die Klagefrist für § 113 I 4 VwGO analog nach der für die Anfechtungsklage geltenden Vorschrift. Gemäß § 74 I 1 VwGO analog ist die Klage damit grundsätzlich einen Monat ab Bekanntgabe iSd § 41 I 1 VwVfG des VAes einzureichen. Vorliegend existiert jedoch keine Rechtsmittelbelehrung, so dass sich die Klagefrist nach § 58 II 1 VwGO verlängert und insgesamt ein Jahr beträgt. Die P hat ihre Klage bereits vier Tage nach der tatsächlichen Kenntnisnahme von dem VA erhoben, so dass vorliegend sogar beide Fristen beachtet worden sind. Damit ist die FFK der P fristgerecht erhoben worden.

b) Zu § 42 I, 1. Alt. VwGO

Die Klagefrist der Anfechtungsklage richtet sich nach § 74 I 1 VwGO und beträgt grundsätzlich einen Monat. Wegen des Versäumnisses der Rechtsmittelbelehrung durch die B verlängert sich gem. § 58 II 1 VwGO die Klagefrist jedoch auf insgesamt ein Jahr. Auch die Anfechtungsklage hat P vier Tage nach der Bekanntgabe des VA (vgl. § 41 I 1 VwVfG) erhoben, so dass die Klagefrist von ihr eingehalten wurde.

3. Fortsetzungsfeststellungsinteresse

Letztlich ist das Vorhandensein eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses (FF-Interesses) bezüglich der FFK iSd § 113 I 4 VwGO analog erforderlich. Ein solches ist vor allem dann gegeben, wenn bezogen auf den VA eine Wiederholungsgefahr besteht oder der Kläger durch den VA so stark verletzt wurde, dass ein Rehabilitationsinteresse notwendig ist. P befürchtete arbeitsrechtliche Konsequenzen, sofern sie die Veranstaltung wie geplant stattfinden lassen hätte. Bereits im Vorjahr hatte sie bei einer Gegendemonstration an einer Sitzblockade teilgenommen, die polizeilich aufgelöst wurde. Insofern wurde eine Akte über den Vorfall angelegt, aus der das Verhalten auch für die B erkennbar war. Es war daher nicht auszuschließen, dass bei geplantem Stattfinden der Veranstaltung, die Erprobung von Sitzblockaden polizeilich aufgelöst und unterbunden worden wäre, so dass die P erneut polizeilich in Erscheinung getreten wäre. Die Sorge vor arbeitsrechtlichen Konsequenzen war daher nicht unbegründet, so dass die P ein Rehabilitationsinteresse hat.

Überdies ist es nicht unwahrscheinlich, dass der P auch in Zukunft Beschränkungen seitens der B bzw. der Polizeidirektion H auferlegt werden, um die Erprobung von Sitzblockaden zu unterbinden. Insofern besteht zusätzlich auch eine Wiederholungsgefahr.

Damit ist das FF-Interesse vorhanden.

VI. Zwischenergebnis

Die FFK gem. § 113 I4 VwGO analog gegen den ersten Bescheid, sowie die Anfechtungsklage gem. § 42 I, 1. Alt. VwGO gegen den zweiten Bescheid sind zulässig.

C. Objektive Klagehäufung, § 44 VwGO

Wegen des Vorliegens zweier Klagen ist ferner zu prüfen, ob eine objektive Klagehäufung gem. § 44 VwGO gegeben ist, die die Geltendmachung beider Klagen in lediglich einem Verfahren ermöglichen würde.

I. Identität der Beklagten

Dazu müsste bei beiden Klagen die Identität der Beklagten vorhanden sein. Sowohl die FFK, als auch die Anfechtungsklage richten sich beide gegen die Stadt S, so dass eine Identität der Beklagten vorhanden ist.

II. Selbes Gericht

Zudem müsste dasselbe Gericht für die Klagen zuständig sein. Beide Male ist hier der Verwaltungsrechtsweg eröffnet, so dass jeweils die Verwaltungsgerichtsbarkeit der Stadt Hannover und damit dasselbe Gericht zuständig ist.

III. Sachlicher Zusammenhang

Letztlich müsste ein sachlicher Zusammenhang zwischen den verfolgten Klagen bestehen. P möchte zwei Veranstaltungen vornehmen, die sich nach dem NVersG richten. Beide Male werden die Versammlungen von der B eingeschränkt, so dass ein gleicher Sachverhalt gegeben ist. Die erste Veranstaltung soll darüber hinaus eine Vorbereitung der zweiten Veranstaltung sein, denn die erprobten Sitzblockaden sollen am 01.05.2013 zur Anwendung kommen. Damit besteht auch ein sachlicher Zusammenhang zwischen den Klagen.

IV. Zwischenergebnis

Die Voraussetzungen der objektiven Klagehäufung gem. § 44 VwGO sind erfüllt, so dass die P beide Klagen in nur einem Verfahren verfolgen kann.

D. Begründetheit

Die Klagen müssten allerdings auch begründet sein.

I. Zu § 113 I 4 VwGO analog

Die FFK gem. § 113 I 4 VwGO analog wäre begründet, soweit der VA tatsächlich rechtswidrig war und die P in ihren subjektiven Rechten verletzt hat.

1. Rechtmäßigkeit des VA

Damit ist zunächst festzustellen, ob der erste Bescheid, der die Erprobung von Rollenspielen verbietet, rechtswidrig war. Dies wäre nicht der Fall, wenn der Bescheid auf einer Ermächtigungsgrundlage beruht und sowohl formell, als auch materiell rechtmäßig war.

a) Ermächtigungsgrundlage = § 8 I NVersG

Der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes besagt, dass ein belastender VA nur ergehen kann, wenn für ihn eine Ermächtigungsgrundlage vorhanden ist. Vorliegend handelt es sich um einen die P belastenden VA, so dass es einer Ermächtigungsgrundlage bedarf. Die B beschränkt hier eine Versammlung, die in Niedersachsen stattfinden soll. Insofern ist das NVersG anzuwenden. Das NVersG gewährt in § 8 I NVersG die Einschränkung von Versammlungen unter freiem Himmel, so dass § 8 I NVersG eine wirksame Ermächtigungsgrundlage darstellt.

b) Formelle Rechtmäßigkeit

Zudem müsste die formelle Rechtmäßigkeit gegeben sein.

aa) Zuständigkeit

Dies erfordert zunächst die Zuständigkeit der B, die laut Sachverhalt jedoch gegeben ist.

bb) Verfahren

Außerdem müsste das für VAe geltende Verfahren eingehalten worden sein. Dies setzt vor allem nach § 28 I VwVfG eine vorherige Anhörung der P voraus. Die B hat die P vor ihrer Entscheidung zu einem Konfliktgespräch eingeladen und ihr die Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben. Damit ist auch das Verfahren eingehalten worden.

cc) Form

Letztlich müsste die B die Form beachtet haben. Grundsätzlich ist ein VA formfrei, § 37 II 1 VwVfG. Wurde der VA jedoch schriftlich erlassen, so ist ihm eine Begründung gem. § 39 VwVfG hinzuzufügen. Aus welchen Gründen die B die Erprobung von Sitzblockaden jedoch verbietet, ist nicht ersichtlich. Insofern fehlt es an der Begründetheit und damit wäre der VA grundsätzlich formwidrig und formell unrechtmäßig. Allerdings ermöglicht § 45 Nr.2 VwVfG, für den Fall der fehlenden Begründung, eine Heilung der Formvorschrift, sofern die B bis zum Ende der Verhandlung die Begründung noch nachholt. Davon ist vorliegend zunächst auszugehen.

Insofern ist der VA zwar grundsätzlich nicht formell rechtmäßig, er kann es aber werden, sofern die B ihren Fehler heilen wird.

c) Materielle Rechtmäßigkeit

Dementsprechend ist weiter zu prüfen, ob der VA materiell rechtmäßig war.

aa) Tatbestandsmerkmale

Dies setzt zunächst voraus, dass die Tatbestandsvoraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage, also die Voraussetzungen des § 8 I NVersG, vorliegen.

(a) Versammlung unter freiem Himmel

Bei der von P geplanten Veranstaltung müsste es sich um eine Versammlung unter freiem Himmel handeln. Eine Versammlung iSd NVersG ist gem. § 2 NVersG eine ortsfeste oder sich fortbewegende Zusammenkunft von mindestens zwei Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung. Unter freiem Himmel findet die Veranstaltung statt, wenn sie nicht zu den Seiten hin begrenzt ist. P hatte vor, sich mit anderen, Gelichgesinnten, zu treffen und gemeinsam Sitzblockaden zu erproben, die nicht ohne weiteres durch die Polizei aufzulösen sind. Diese Erprobung sollte zudem öffentlich und unter freiem Himmel stattfinden. Damit liegt eine Versammlung unter freiem Himmel vor.

(b) Zuständige Behörde, § 24 I Nr.1 NVersG

Die zuständige Behörde richtet sich nach § 24 I Nr.1 NVersG. Allerdings hat B sowohl als örtlich, wie auch als sachlich zuständige Sachbearbeiterin der Stadt S gehandelt, so dass sich hierbei keinerlei Probleme ergeben.

(c) Öffentliche Sicherheit

Überdies müsste durch die Versammlung der P die öffentliche Sicherheit gefährdet sein. Eine solche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit kommt immer dann in Betracht, wenn ein Gesetzesverstoß vorhanden ist. Möglich erscheint vorliegend ein Verstoß gegen § 240 I StGB. Sollte eine Nötigung bejaht werden könne, so läge ein Gesetzesverstoß und damit eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit vor. Demzufolge ist eine inzidente Prüfung des § 240 I StGB vorzunehmen und zwar aus dem Blickwinkel, dass die Versammlung tatsächlich stattgefunden hätte.

P könnte sich wegen Nötigung gem. § 240 I StGB strafbar gemacht haben, indem sie die N- Partei mit Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Duldung, Handlung oder einem Unterlassen zwingt.

(aa.) Objektiver Tatbestand

Dann müsste zunächst der objektive Tatbestand des § 240 I StGB erfüllt sein.

((a.)) Nötigungsmittel

Dazu müsste die P Gewalt angewandt haben. Gewalt ist der (zumindest auch) physisch vermittelte Zwang zur Überwindung eines bestehenden oder erwarteten Widerstandes. Unbestritten und damit unproblematisch ist, dass die Herbeiführung einer körperlichen Zwangseinwirkung beim Opfer Gewalt ist, womit sowohl vis absoluta als auch vis compulsiva umfasst sind. Ob der Gewaltbegriff jedoch auf ein Verhalten ausgedehnt werden kann, das lediglich in der körperlichen Anwesenheit besteht und dessen Zwangswirkung auf den Genötigten nur psychischer Natur ist, war lange umstritten. Problematisch war dabei vor allem, dass die Gefahr der Ausuferung des Gewaltbegriffes bestand, der zu einem Widerspruch gegen den Bestimmtheitsgrundsatzes aus Art. 103 II GG geführt hätte. Der BGH hat die Vorgaben dadurch versucht zu erfüllen, dass er eine Eingrenzung bezüglich der psychischen Zwangseinwirkung vornimmt, den Verzicht auf eine körperliche Kraftentfaltung beim Angriff aber aufrecht erhält und als sinnvoll einstuft. Im Bezug auf Sitzblockaden auf Autobahnen entwickelte der BGH eine Zwei-Reihen-Theorie, der bis heute zu folgen ist. Er entschied dabei, dass die erste Reihe von Autofahrern, die sich der Sitzblockade nähern, und die ohne eine Verletzung von Demonstranten in Kauf zu nehmen nicht weiterfahren können, lediglich einem psychischen Hindernis unterliegen. Dieses rein psychische Hindernis stelle jedoch noch keine Gewalt dar. Die „zweite Reihe“ von Autofahrern haben, durch die stehengebliebene „erste Reihe“, jedoch ein tatsächlich nicht überwindbares Hindernis vor sich. Insofern wird auf diese Reihe auch tatsächlicher Zwang ausgeübt, der physischer Natur ist und damit auch unter den Gewaltbegriff fällt.

Folgt man der Auffassung des BGH, indem man den vermittelten Zwang bzgl. der „zweiten Reihe“, für ausreichend erklärt, so ist dennoch daran zu denken, dass die Grundrechte der Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit, Art. 5, 8 GG, die Tat rechtfertigen könnten. Bei einer nach dem Versammlungsgesetz ordnungsgemäß angemeldeten, friedlichen Demonstration sind die mit der Durchführung notwendig verbundenen Nebenfolgen erlaubt. Gleiches gilt für Eil- und Spontandemonstrationen. Ist aber die Beeinträchtigung Dritter nicht bloße Nebenfolge, sondern beabsichtigt, so wird dies nicht mehr von Art. 8 GG gedeckt. Vielmehr kann diese Versammlung sogar aufgelöst werden. Auch Art. 5 GG rechtfertigt die Blockade nicht, denn § 240 StGB ist ein allgemeines Gesetz i.S.d. Art. 5 II GG.

Vorliegend würde die Probeblockade selbst noch keine Gewalt darstellen. Allerdings lag der Zweck der Erprobung von Sitzblockaden darin, diese polizeifeste Sitzblockade an der Gegendemonstration am 01.05.2013 durchzuführen und damit aktiv die N- Partei an ihrem Weiterkommen zu hindern und deren Versammlung zu unterbinden. Sowohl nach der Zwei-Reihen-Theorie, als auch nach der Einschränkung der Rechtfertigung über die Grundrechte der Versammlungs- und Meinungsfreiheit übt mindestens die erste Personenreihe der N-Partei, die sich aufgrund der Sitzblockade der P nicht fortbewegen kann, als physisches Hindernis für die restlichen Versammlungsteilnehmer der N- Partei. Damit ist physische Gewalt und ein Nötigungsmittel gegeben.

((b.)) Nötigungshandlung

Überdies ist eine Nötigungshandlung, also eine Drohung, erforderlich. Eine Drohung ist das In-Aussicht-Stellen eines empfindlichen Übels, auf dessen Verwirklichung der Täter Einfluss hat oder Einfluss zu haben vorgibt. Empfindlich ist das Übel, wenn es einen Wertverlust darstellt, der aufgrund seines Ausmaßes geeignet ist, das Verhalten des Genötigten zu bestimmen. Durch die Sitzblockade würde P mit ihren Sitzblockadenteilnehmern aktiv die Versammlung der N-Partei behindern können, so dass bereits das vorbereitende Üben ein künftiges Übel in Aussicht stellt. Eine Nötigungshandlung liegt also vor.

((c.)) Nötigungserfolg

§ 240 I StGB ist ein Erfolgsdelikt, sodass die Nötigung erst vollendet ist, wenn das Opfer infolge des Einsatzes eines Nötigungsmittels auch tatsächlich die bezweckte Handlung oder Unterlassung vornimmt. Die N-Partei wäre an der Ausübung ihrer Versammlung tatsächlich gehindert, so dass auch ein Nötigungserfolg bestehen würde. Folglich ist auch der Nötigungserfolg vorhanden.

(bb.) Subjektiver Tatbestand

Der Zweck der Sitzblockade der P besteht gerade in der Behinderung der Versammlung der N-Partei, so dass nicht nur Vorsatz im Wege des dolus eventualis, sondern vielmehr dolus directus 1. Grades vorliegt und damit der subjektive Tatbestand erfüllt ist.

(cc.) Rechtswidrigkeit

Rechtfertigungsgründe für das Verhalten der P liegen nicht vor. Überdies ist die aktive Behinderung einer „genehmigten“ Versammlung unter dem Deckmantel der eigenen Versammlungsfreiheit weder von der Meinungs- noch von der Versammlungsfreiheit umfasst, und damit als verwerflich einzustufen. Aus diesem Grund ist auch die Rechtswidrigkeit gegeben.

(dd.) Schuld

Schuldausschließungs- sowie Entschuldigungsgründe sind nicht ersichtlich, so dass P auch schuldhaft handelte.

(ee.) Zwischenergebnis

Die Voraussetzungen der Nötigung gem. § 240 I StGB sind allesamt erfüllt, so dass sich P wegen Nötigung strafbar gemacht hätte, wenn sie die Sitzblockaden zum Zwecke der Behinderung der Versammlung der N- Partei erprobt und anschließend tatsächlich ausführt. Aufgrund des Vorliegens eines Gesetzesverstoßes ist damit die öffentliche Sicherheit gefährdet.

(d) Öffentliche Ordnung

Dadurch, dass die erprobte Sitzblockade nahezu polizeifest und damit nicht oder nur schwer aufzulösen wäre, hätte dies auch eine Gefahr für die öffentliche Ordnung zur Folge.

(e) Gefahr

Weiterhin müsste eine Gefahr vorliegen, also ein Zustand, der nach allgemeiner Lebenserfahrung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit den Eintritt eines Schadens erwarten lässt. P hat bereits im Vorjahr im Wege einer Sitzblockade versucht, die Versammlung der N-Partei zu behindern. Des Weiteren ist sie davon überzeugt, dass es ihr Recht sei, diese Behinderung vorzunehmen, so dass eine hinreichende Wahrscheinlichkeit der Behinderung und damit eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gegeben sind.

(f) Unmittelbarkeit

Letztlich müsste die Gefahr auch unmittelbar sein, also allzeit in ein konkretes Ereignis umzuschlagen drohen. Die tatsächliche Gegendemonstration soll bereits in zwei Wochen stattfinden, so dass ein zeitlicher Zusammenhang zur Vorbereitung der Sitzblockaden zu sehen ist. Die Unmittelbarkeit ist damit vorhanden.

(g) Zwischenergebnis

Damit liegen alle Tatbestandsvoraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage des § 8 I NVersG vor.

bb) Richtiger Adressat

Als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal wird überdies vorausgesetzt, dass sich die Maßnahme der Behörde gegen den Störer, als den richtigen Adressaten, wendet. Die Beschränkung von Versammlungen nach § 8 I NVersG ist dem Versammlungsleiter iSd § 7 I 1 NVersG mitzuteilen. P hat die Versammlung ins Leben gerufen und ist für die Ausführung und Einhaltung der Beschränkungen als Versammlungsleiterin verantwortlich. Der Bescheid der B wurde auch an sie gerichtet, so dass sie richtiger Adressat der Maßnahme ist.

cc) Rechtsfolge

Die materielle Rechtmäßigkeit wäre allerdings nur gegeben, wenn auch die Rechtsfolge des § 8 I NVersG eingehalten worden wäre.

(a) Ermessen

§ 8 I NVersG ist eine Ermessensvorschrift, so dass die Entscheidung der B lediglich eingeschränkt, nämlich nur auf das Vorliegen von Ermessensfehlern hin, überprüfbar ist, § 114 VwGO.

(aa.) Ermessensnichtgebrauch

In Betracht kommt zunächst ein Ermessensfehler in Form des Ermessensnichtgebrauch. Ein solcher Fehler ist immer dann anzunehmen, wenn die Behörde gar nicht erkannt hat, dass sie in ihrer Entscheidung frei ist, sondern vielmehr davon ausgeht, dass sie einer gebundenen Entscheidung unterliegt. Die B ist vorliegend der Ansicht gewesen, dass sie die Versammlung genehmigen könne und hat nicht erkannt, dass eine Versammlung genehmigungsfrei ist. Indem sie die Versammlung vermeintlich genehmigt und lediglich mit vermeintlichen Auflagen belegt hat, könnte man ein Verhalten erkennen, dass einer Ermessensausübung entspräche, denn sie hat die Versammlung aus ihrer Sicht nicht vollständig verboten, sondern lediglich eingeschränkt.

Allerdings stellt die Beschränkung einen eigenständigen VA dar und ist gerade nicht an einen Grund-VA geknüpft. Über die Art und Weise der Beschränkung hat sich die B allerdings keine Gedanken gemacht. Dies lässt sich auch aus der fehlenden Begründung ihrer Entscheidung erkennen. Insofern muss man im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis gelangen, dass die B keinerlei Ermessen ausgeübt hat. Ein Ermessensnichtgebrauch und damit ein Ermessensfehler ist damit vorhanden.

(bb.) Ermessensreduktion auf Null

Ein solcher Fehler wäre aber unbeachtlich, wenn eine Ermessensreduktion auf Null vorliegen würde. Dann dürfte die Behörde in diesem konkreten Fall nicht von ihrer bisherigen Verwaltungspraxis abweichen, sondern würde mehr oder weniger einer gebundenen Entscheidung unterliegen. Für eine Ermessensreduktion auf Null liegen allerdings keine Anhaltspunkte vor, so dass der Ermessensnichtgebrauch auch nicht geheilt werden kann. Der Ermessensfehler bleibt damit weiterhin bestehen.

(b) Verhältnismäßigkeit

Obwohl die Rechtsfolge nicht beachtet wurde und damit der VA bereits an dieser Stelle rechtswidrig ist, ist unter dem Aspekt des Rechtsstaatsprinzips aus Art 20 III GG und aufgrund der Erstellung eines ausführlichen Gutachtens darüberhinaus zu klären, ob die Maßnahme der Behörde verhältnismäßig ist.

(aa.) Legitimer Zweck

Dies erfordert zunächst die Verfolgung eines legitimen Zweckes seitens der Behörde. Die B wollte vorliegend verhindern, dass durch die Erprobung von Sitzblockaden die Durchführung einer Sitzblockade in der Weise eingeübt wird, die nicht ohne weiteres von der Polizei aufgelöst werden kann und damit eine nicht verbotene Versammlung zu stören vermag. Eine derartige Störung ist gem. § 4 NVersG verboten. Damit verfolgt die B einen legitimen Zweck.

(bb.) Mittel

Als Mittel zur Durchführung des legitimen Zwecks wählt die B die Möglichkeit der Beschränkung der Versammlung gem. § 8 I NVersG.

(cc.) Zweck- Mittel- Relation

Darüber hinaus muss eine Zweck-Mittel-Relation gegeben sein.

((a.)) Geeignetheit

Insofern muss das gewählte Mittel zur Erreichung des legitimen Zweckes zunächst geeignet sein. Wenn die B die öffentliche Erprobung von Sitzblockaden unterbindet, wird es der P nicht ohne größere Probleme möglich sein, eine polizeifeste Sitzblockade zu erproben. Damit ist die Geeignetheit zu bejahen.

((b.)) Erforderlichkeit

Das Mittel müsste zur Zweckerreichung aber auch erforderlich sein. Die Erforderlichkeit ist immer dann gegeben, wenn kein milderes, gleich geeignetes Mittel vorhanden ist. Die Versammlung der P am 16.04.2013 verfolgte ausschließlich den Zweck der Erprobung von Sitzblockaden. Die B hätte damit keine andere, gleich effektive Beschränkung wählen können, um die Erprobung zu verhindern, als diese Erprobung im Ganzen zu unterbinden. Damit ist die Beschränkung auch erforderlich gewesen, um einen störungsfreien Ablauf der Versammlung der N-Partei zu ermöglichen. Die Erforderlichkeit liegt damit ebenfalls vor.

((c.)) Angemessenheit

Letztlich bedarf es einer Angemessenheit zwischen dem eingesetzten Mittel und dem verfolgten Zweck, die eine Rechtsgüterabwägung voraussetzt.

((aa.)) Rechtsgut, weswegen eingegriffen wird

Zunächst ist das Rechtsgut herauszufiltern, weswegen seitens der Behörde überhaupt eingegriffen wird. Vorliegend möchte die B die Versammlungsfreiheit der N-Partei schützen. Dies wäre bei einer vorhandenen Sitzblockade nicht in ausreichendem Maße gewährleistet, denn dadurch würde die P in die Entschließungs- und Handlungsfreiheit der Teilnehmer der N-Partei eingreifen. Insofern ist Art. 2 I GG dasjenige Rechtsgut, weswegen eingegriffen wird.

((bb.)) Rechtsgut, in welches eingegriffen wird

Auf der anderen Seite ist dasjenige Rechtsgut herauszufiltern, in welches eingegriffen wird. Die Beschränkung der Versammlung der P, dem im Endeffekt ein Verbot der Versammlung gleichkommt, stellt einen Eingriff in ihr durch Art. 8 I GG gewährtes Recht auf Versammlungsfreiheit dar.

((cc.)) Rangfolge

Unter Beachtung der Rangfolge von Grundrechten ist vorliegend festzustellen, dass Art. 8 I GG grundsätzlich als spezielleres Grundrecht höher wiegt, als der Auffangtatbestand des Art. 2 I GG.

((dd.)) Einzelfallbetrachtung

Dennoch ist hinsichtlich der Gewichtung eine Einzelfallbetrachtung vorzunehmen. P kann ihre Versammlungsfreiheit aus Art. 8 I GG in einer Art ausüben, die Art. 2 I GG nicht berührt. Allerdings legt die P es ausschließlich darauf an, unter dem Deckmantel der Versammlungsfreiheit eine andere Versammlung aktiv zu stören und möglichst zu behindern. Der Zweck ihrer Versammlung besteht ausschließlich in der Vorbereitung von möglichst effizient störenden Maßnahmen. Insofern ergibt eine Einzelfallbetrachtung, dass trotz des grundsätzlich spezielleren Grundrechts aus Art. 8 I GG eine Unterwertigkeit im vorliegenden Fall besteht und der Schutz der Entschließungs- und Handlungsfreiheit der N-Partei höherwertiger und schützenswerter ist.

((ee.)) Zwischenergebnis

Die Voraussetzungen der Verhältnismäßigkeit sind sämtlich erfüllt, so dass die Beschränkung der Versammlung der P zum Schutz der Störungsfreiheit der Versammlung der N-Partei verhältnismäßig ist.

(c.) Zwischenergebnis

Die Entscheidung der B ist zwar ermessensfehlerhaft, aber verhältnismäßig erfolgt.

dd) Zwischenergebnis

Die Entscheidung der Behörde war materiell nicht rechtmäßig.

d) Zwischenergebnis

Der VA ist nicht rechtmäßig zustande gekommen.

2. Subjektive Rechtsverletzung

Für das Vorliegen einer begründeten Klage ist aber überdies erforderlich, dass der Kläger in seinen subjektiven Rechten verletzt wurde. Die P könnte durch den materiell unrechtmäßigen VA und dem darin enthaltenden Verbot der Erprobung von Sitzblockaden in ihrem Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 I GG verletzt worden sein.

a) Schutzbereich

Es handelt sich vorliegend um eine Versammlung iSd Art. 8 I GG und P als Deutsche ist zur Geltendmachung des Grundrechts berechtigt, so dass sowohl der persönliche, als auch der sachliche Schutzbereich des Art. 8 I GG vorliegen.

b) Eingriff

Durch das Verbot der Erprobung von Sitzblockaden liegt zudem ein Eingriff vor.

c) Rechtfertigung

Zu klären bleibt allerdings, ob der Eingriff in den Schutzbereich gerechtfertigt werden kann.

aa) Schranke

Grundsätzlich wird die Versammlungsfreiheit des Art. 8 I GG nicht schrankenlos gewährleistet. Sie ist vielmehr durch oder aufgrund eines Gesetzes einschränkbar, sofern dieses Gesetz verfassungsmäßig ist. Vorliegend existiert das NVersG, das durch seinen § 8 I NVersG die Beschränkung von Versammlungen ausdrücklich gewährleistet, sofern die öffentliche Sicherheit oder Ordnung unmittelbar gefährdet ist. Das NVersG ist zudem verfassungsgemäß. Insofern existiert durch § 8 I NVersG eine rechtmäßige Schranke.

bb) Schranken-Schranke

Weiterhin ist aber Voraussetzung, dass das verfassungsgemäße Gesetz die Versammlungsfreiheit nicht soweit einschränkt, dass das Grundrecht nahezu gar nicht mehr ausgeübt werden kann. Es muss insofern ein verfassungsgemäßer Eingriff in Art. 8 I GG vorhanden sein. Wie oben jedoch bereits festgestellt werden konnte, überwiegt im Rahmen einer Einzelfallbetrachtung des vorliegenden Falles das Grundrecht der N-Partei aus Art. 2 I GG das Grundrecht der P aus Art. 8 I GG. Insofern erfolgte ein verhältnismäßiger Eingriff.

d) Zwischenergebnis

Der Eingriff in Art. 8 I GG ist gerechtfertigt, mit der Konsequenz, dass Art. 8 I GG nicht verletzt wurde und eine subjektive Rechtsverletzung der P nicht angenommen werden kann.

3. Ergebnis

Die FFK der P gem. § 113 I 4 VwGO analog ist zwar vor dem Verwaltungsgericht Hannover zulässig, allerdings wegen fehlender subjektiver Rechtsverletzung unbegründet.

 

II. Zu § 42 I, 1. Alt. VwGO

Die Anfechtungsklage der P gem. § 42 I, 1. Alt. VwGO wäre begründet, soweit der VA tatsächlich rechtswidrig ist und die P in ihren subjektiven Rechten verletzt.

1. Rechtmäßigkeit des VA

Damit ist festzustellen, ob der zweite Bescheid, der ein Verbot der Annäherung mit Clownskostümen an die zeitgleich stattfindende Demonstration der N-Partei enthält, rechtswidrig ist. Dies wäre nicht der Fall, wenn der Bescheid auf einer Ermächtigungsgrundlage beruht und sowohl formell, als auch materiell rechtmäßig ist.

a) Ermächtigungsgrundlage

Als Ermächtigungsgrundlage für die Beschränkung einer in Niedersachsen stattfindenden Versammlung kommt § 8 I NVersG in Betracht.

b) Formelle Rechtmäßigkeit

Auch hinsichtlich des zweiten Bescheides hat die sachlich und örtlich zuständige Behörde der S gehandelt. Das zwischen B und P geführte Kooperationsgespräch erfüllt zudem das Anhörungserfordernis aus § 28 I VwVfG, so dass auch das Verfahren eingehalten wurde. Aufgrund des schriftlich erlassenen Bescheides wäre eine Begründung seitens der Behörde notwendig, § 37 II 1 VwVfG iVm § 39 I 1 VwVfG. In der von B dargelegten Angst, dass es wegen des Tragens von Clownskostümen zu einer Provokation der N-Partei und dadurch zu Ausschreitungen kommen könnte, liegt eine ausreichende Begründung vor. Damit ist auch das Formerfordernis schriftlich erlassener VAe Rechnung getragen worden. Die formelle Rechtmäßigkeit des zweiten Bescheides ist gegeben.

c) Materielle Rechtmäßigkeit

Auch die materielle Rechtmäßigkeit müsste erfüllt sein.

aa) Tatbestandsmerkmale

Dazu müssten zunächst sämtliche Tatbestandsvoraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage, also des § 8 I NVersG vorliegen.

(a.) Versammlung

Bei der von P geplanten Veranstaltung handelt es sich um eine Gegendemonstration, also um eine Zusammenkunft von mehr als zwei Personen, die gemeinsam ihre Interessen gegen die der N-Partei öffentlich kundgeben wollen und damit um eine Versammlung iSd § 2 NVersG.

(b.) Zuständige Behörde, § 24 I Nr.1 NVersG

Die zuständige Behörde iSd § 24 I Nr.1 NVersG hat laut Sachverhalt vorliegend gehandelt.

(c.) Öffentliche Sicherheit

Überdies müsste die öffentliche Sicherheit gefährdet sein. Dies ist immer dann der Fall, wenn ein Gesetzesverstoß vorhanden ist. Vorliegend könnte sich ein solcher Gesetzesverstoß aus Art. 8 II GG iVm § 4 NVersG ergeben. Grundsätzlich darf die Versammlungsfreiheit aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden. Ein solches Gesetz stellt das NVersG auf alle Fälle dar und dieses ist auch verfassungsmäßig. Fraglich ist daher allein, ob das Verhalten der P gegen § 4 NVersG verstößt. Dazu müssten wiederum die Voraussetzungen des § 4 NVersG vorliegen.

(aa.) Nicht verbotene Versammlung

Die N-Partei ist eine demokratisch legitimierte Partei, solange das Bundesverfassungsgericht nicht etwas Gegenteiliges feststellt, Art. 21 II 1, 2 GG. Damit besitzt sie auch die Berechtigung an Versammlungen teilzunehmen oder selbst Versammlungen zu organisieren. Die Versammlung der N-Partei war dementsprechend zu Recht nicht verboten.

(bb.) Ziel ist die Behinderung ordnungsgemäßer Durchführung

Des Weiteren müsste P mit ihrer Versammlung das Ziel verfolgen, die nicht verbotene Versammlung der N-Partei in der Art und Weise zu stören, dass deren ordnungsgemäße Durchführung nicht mehr möglich ist. Die Gegendemonstration an sich behindert die Versammlung der N-Partei jedoch grundsätzlich nicht. Allerdings erfolgt durch das Tragen von Clownskostümen in unmittelbarer Nähe zu den Versammlungsteilnehmern der N-Partei eine Lächerlichmachung ihrer Interessen. Dies hat zur Folge, dass die eigentlichen Interessen der N-Partei in den Hintergrund geraten und die Versammlung an sich überflüssig erscheinen lassen. Genau darauf legt es die P mit ihrer Gegendemonstration und dem Tragen von Clownskostümen jedoch an. Insofern ist das Ziel der Versammlung der P ausschließlich die Behinderung der ordnungsgemäßen Durchführung der Versammlung der N-Partei.

(cc.) Zwischenergebnis

Damit liegen die Voraussetzungen des Art. 8 II GG iVm § 4 NVersG vor und existiert ein Gesetzesverstoß sowie eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit.

(b.) Öffentliche Ordnung

Eine Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung ist ebenfalls vorhanden.

(c.) Gefahr

Allerdings müsste die Beeinträchtigung so stark sein, dass von einer Gefährdung gesprochen werden kann. Eine Gefahr ist ein Zustand, der nach allgemeiner Lebenserfahrung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit den Eintritt eines Schadens erwarten lässt. Wenn die S das Tragen von Clownskostümen nicht unterbindet, so wird die Lächerlichmachung der N-Partei unabdingbar eintreten und die ordnungsgemäße Durchführung ihrer Versammlung verhindert. Insofern besteht ein Zustand, der mit hinreichender Wahrscheinlichkeit den Eintritt eines Schadens erwarten lässt. Damit ist eine Gefahr gegeben.

(d.) Unmittelbarkeit

Überdies müsste die Gefahr unmittelbar bevorstehen. Die Gegendemonstration der P soll bereits in zwei Wochen stattfinden. Ein unmittelbarer, zeitlicher Zusammenhang zwischen der Gefahr und der Versammlung besteht damit.

(e.) Richtiger Adressat

Als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal wird überdies vorausgesetzt, dass sich die Maßnahme der Behörde gegen den Störer, als den richtigen Adressaten, wendet. Die Beschränkung von Versammlungen nach § 8 I NVersG ist dem Versammlungsleiter iSd § 7 I 1 NVersG mitzuteilen. P hat die Versammlung ins Leben gerufen und ist für die Ausführung und Einhaltung der Beschränkungen als Versammlungsleiterin verantwortlich. Der Bescheid der B wurde auch an sie gerichtet, so dass sie richtiger Adressat der Maßnahme ist.

bb) Rechtsfolge

Zu untersuchen ist weiterhin, ob die Rechtsfolge beachtet worden ist und die Entscheidung verhältnismäßig war.

(a.) Ermessen

§ 8 I NVersG stellt die Entscheidung über die Anordnung von Beschränkungen der Versammlung in das Ermessen der Behörde. Insofern ist aufgrund des § 114 VwGO lediglich eine eingeschränkte Überprüfbarkeit der Ermessensentscheidung auf Ermessensfehler hin möglich.

(aa.) Ermessensnichtgebrauch

Für einen Ermessensnichtgebrauch dürfte die B nicht erkannt haben, dass ihre Entscheidung in ihrem Ermessen steht und sie damit die Wahl über die Rechtsfolge der Maßnahme hat. Betrachtet man hier wiederum die Fehlannahme der B, dass das Verbot von Clownskostümen eine Art Nebenbestimmungen darstellt, dann hätte sie durch die Beschränkung des Haupt-VAes und des nicht generellen Verbots der Versammlung Ermessen ausgeübt. Die Versammlung der P war jedoch nicht genehmigungsfähig, so dass die Beschränkung einen eigenen Haupt-VA darstellt. Hinsichtlich der Clownskostüme hat die B jedoch entschieden, dass diese eine Provokation der Versammlung der N-Partei darstellen könnte. Sie hat daraufhin aber das Tragen von Clownskostümen durch die P nicht vollständig verboten, sondern lediglich ein Näherungsverbot ausgesprochen, um eine Provokation zu vermeiden. Die vorhandene Begründung ihrer Entscheidung, sowie die Abwägung zwischen Verbot und Beschränkung machen deutlich, dass sich die B in diesem Fall über ihre verschiedenen Möglichkeiten des Handelns im Klaren war. Ein Ermessensnichtgebrauch ist daher abzulehnen, denn die B hat Ermessen ausgeübt.

(bb.) Ermessensüberschreitung

Ein Ermessensfehler könnte allerdings in Form der Ermessensüberschreitung vorliegen, wenn die von B getroffene Entscheidung eine Grundrechtsverletzung darstellen würde. In Betracht käme eine Verletzung der durch Art. 8 I GG geschützten Versammlungsfreiheit, sofern dessen Voraussetzungen gegeben sind.

((a.)) Schutzbereich

Dafür erforderlich ist zunächst die Eröffnung des persönlichen und sachlichen Schutzbereichs. Es handelt sich vorliegend um eine Versammlung iSd Art. 8 I GG und P als Deutsche ist zur Geltendmachung des Grundrechts berechtigt, so dass sowohl der persönliche, als auch der sachliche Schutzbereich des Art. 8 I GG eröffnet sind.

((b.)) Eingriff

Durch das Verbot der Annäherung an die Versammlung der N-Partei mit Clownskostümen ist ein Eingriff vorhanden.

((c.)) Rechtfertigung

Fraglich ist jedoch, ob der Eingriff in den Schutzbereich gerechtfertigt werden kann.

((aa.)) Schranke

Grundsätzlich wird die Versammlungsfreiheit des Art. 8 I GG nicht schrankenlos gewährleistet, sondern kann durch oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden, sofern dieses Gesetz verfassungsmäßig ist. Vorliegend existiert das NVersG, das durch seinen § 8 I NVersG die Beschränkung von Versammlungen ausdrücklich gewährleistet, sofern die öffentliche Sicherheit oder Ordnung unmittelbar gefährdet ist. Das NVersG ist zudem verfassungsgemäß. Insofern existiert durch § 8 I NVersG eine rechtmäßige Schranke.

((bb.)) Schranken-Schranke

Weiterhin dürfte das verfassungsgemäße Gesetz die Versammlungsfreiheit nicht soweit einschränken, dass das Grundrecht nahezu gar nicht mehr ausgeübt werden kann. Es muss insofern ein verfassungsgemäßer Eingriff in Art. 8 I GG vorhanden sein. Dies wäre dann der Fall, wenn der Eingriff in den Schutzbereich verhältnismäßig war.

(((a.))) Legitimer Zweck

Insofern müsste die B mit dem Näherungsverbot einen legitimen Zweck erfüllt haben. Die B war sich sicher, dass das Tragen von Clownskostümen in der Nähe der Versammlung der N-Partei eine Lächerlichmachung der Interessen der N-Partei  und damit eine Provokation zur Folge habe. Sie war darüber hinaus der Ansicht, dass das Tragen der Clownskostüme ausschließlich darauf ausgerichtet war, die Versammlung der N-Partei zu behindern. Ein solches Verhalten ist durch § 4 NVersG jedoch verboten, so dass die B durch das Näherungsverbot lediglich die Einhaltung des NVersG und damit einen legitimen Zweck verfolgte.

(((b.))) Mittel

Das zur Verfolgung des legitimen Zwecks eingesetzte Mittel ist das Verbot der Annäherung mit Clownskostümen auf 200 m an die N-Partei.

(((c.))) Zweck-Mittel-Relation

Ferner muss eine Betrachtung der Zweck-Mittel-Relation erfolgen.

(((aa.))) Geeignetheit

Das Näherungsverbot war geeignet, die Provokation der N-Partei aufgrund des Tragens von Clownskostümen durch P und ihre Anhänger, sowie die damit verbundene Lächerlichmachung zu unterbinden.

(((bb.))) Erforderlichkeit

Die Erforderlichkeit ist immer dann gegeben, wenn kein gleich geeignetes, aber milderes Mittel vorhanden ist, das den legitimen Zweck auf die gleiche Weise erfüllt hätte. Die B hätte der P das Tragen von Clownskostümen im Ganzen verbieten  können. Dies hätte aber einen erheblicheren Eingriff dargestellt, als lediglich die Annäherung einzuschränken. Insofern existiert kein milderes Mittel, so dass das Näherungsverbot erforderlich war.

(((cc.))) Angemessenheit

Letztlich müsste das Näherungsverbot verhältnismäßig im engeren Sinne, also angemessen sein. Dies setzt die Durchführung einer Rechtsgüterabwägung voraus.

((((a.)))) Rechtsgut, weswegen eingegriffen wird.

Dafür ist zunächst das Rechtsgut herauszufiltern, weswegen der Eingriff erfolgt. Wegen des Tragens von Clownskostümen, der damit verbundenen Lächerlichmachung der Interessen der N-Partei und der naheliegenden Provokation würde die P möglicherweise die Versammlung der N-Partei behindern. Vorliegend möchte die B durch ihr Verbot die Störungsfreiheit der nicht verbotenen Versammlung der N-Partei gewährleisten und schützen. Das Rechtsgut, weswegen der Eingriff erfolgte ergibt sich damit aus Art. 8 I GG iVm § 4 NVersG.

((((b.)))) Rechtsgut, in welches eingegriffen wird

Auf der anderen Seite ist dasjenige Rechtsgut herauszufiltern, in welches eingegriffen wird. Das Verbot, sich mit Clownskostümen mehr als 200 m an die Versammlung der N-Partei anzunähern, beschränkt die P in der freien Ausübung und Kundgebung ihrer Interessen im Rahmen einer Zusammenkunft mit Gleichgesinnten. Das Näherungsverbot stellt damit einen Eingriff in die durch Art. 8 I GG gewährte Versammlungsfreiheit dar.

((((c.)))) Rangfolge

Vorliegend stehen sich damit das Recht auf störungsfreie Ausübung der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 I GG iVm § 4 NVersG auf Seiten der N-Partei und das Recht auf Versammlungsfreiheit aus Art. 8 I GG auf Seiten der P gegenüber. Beide Male ist damit Art. 8 I GG betroffen und damit grundsätzlich eine Gleichwertigkeit der Grundrechte gegeben, wobei das Recht der N-Partei wegen der innewohnenden Konkretisierung geringfügig höher wiegt.

((((d.)))) Einzelfallbetrachtung

Hinsichtlich der Gewichtung der Rechte im konkreten Fall ist jedoch eine Einzelfallbetrachtung notwendig. Würde man der P erlauben, an dem Tag der Versammlung der N-Partei Clownskostüme in deren Nähe zu tragen, so würden Außenstehende sich überwiegend auf die Kostümierung und gerade nicht auf die Interessen der N-Partei konzentrieren, die diese durch ihre Versammlung vermitteln möchte. Gegen die Teilnehmer der Gegendemonstration unter der Leitung der P könnte sich die N-Partei im konkreten Fall auch nicht zur Wehr setzen. Überdies ist zu bemerken, dass es sich bei der N-Partei um eine verfassungsgemäße Partei handelt, die – sofern das BVerfG nicht ihre Verfassungswidrigkeit feststellt, Art. 21 II 1, 2 GG- die gleichen Rechte besitzt, wie die P. Insofern ist es nicht gerechtfertigt, die Interessen der P höher zu stellen, als die der N-Partei.

Überdies soll das NVersG und damit auch § 4 NVersG die Ausübung und die Grenzen der Versammlungsfreiheit konkretisieren. Insofern stellt das Störungsverbot einen individuelleren Schutz dar, als die allgemein durch Art. 8 I GG gewährte Versammlungsfreiheit. Folglich muss eine Einzelfallbetrachtung unter den genannten Aspekten zu dem Schluss gelangen, dass das Recht der N-Partei auf störungsfreie Ausübung der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 I GG iVm § 4 NVersG das Recht der P auf Versammlungsfreiheit aus Art. 8 I GG überwiegt.

((((e.)))) Zwischenergebnis

Damit ist die Verhängung des Näherungsverbotes angemessen.

(((dd.))) Zwischenergebnis

Die Zweck-Mittel-Relation fällt zu Gunsten der N-Partei aus.

(((d.))) Zwischenergebnis

Der Eingriff in den Schutzbereich des Art. 8 I GG war verhältnismäßig, so dass die Schranken-Schranke erfüllt wurde und der Eingriff gerechtfertigt ist.

(b.) Zwischenergebnis

Eine Grundrechtsverletzung ist nicht gegeben. Damit hat die B das ihr eingeräumte Ermessen aber auch nicht überschritten. Ein Ermessensfehlgebrauch kommt überdies ebenfalls nicht in Betracht. Folglich ist kein Ermessensfehler vorhanden und die B hat ihr Ermessen ermessensfehlerfrei ausgeübt. Die Rechtsfolge wurde von der B beachtet.

cc) Zwischenergebnis

Die Verhängung des Näherungsverbotes gegenüber der P seitens der B ist materiell rechtmäßig.

2. Subjektive Rechtsverletzung

Da eine Abwägung der Interessen im konkreten Fall keine Grundrechtsverletzung der P ergibt, ist überdies eine subjektive Rechtsverletzung nicht einschlägig.

3. Ergebnis

Der VA ist rechtmäßig und die P nicht in ihren subjektiven Rechten verletzt, so dass die Anfechtungsklage der P gem. § 42 I, 1. Alt. VwGO unbegründet ist.

E. Gesamtergebnis

Der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten ist eröffnet und die Klagen sind jeweils zulässig. Allerdings sind sowohl die FFK gem. § 113 I 4 VwGO analog, als auch die Anfechtungsklage gem. § 42 I, 1. Alt. VwGO unbegründet.

Das Verwaltungsgericht Hannover wird die Klagen der P als unbegründet zurückweisen.

Anmerkungen

zur Problematik des Ermessens: Prüfungsschema; ausführlicher Fachartikel

Vielen Dank, dass Sie diesen Beitrag gelesen haben. Wir hoffen, dass er Ihnen weiterhelfen oder zumindest Ihr Interesse wecken konnte. Hier finden Sie den Beitrag Klausur Versammlungsrecht (Niedersachsen) auf unserer Website Jura Individuell.

Die Verpflichtungsklage

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Die Verpflichtungsklage stellt neben der Anfechtungsklage eine weitere Klage des zu beherrschenden „Standardrepertoire“ im Verwaltungsrecht dar und ist ebenfalls in § 42 I VwGO geregelt (genauer: § 42 I Alt. 2, 3 VwGO). Sie kommt infrage, wenn der Erlass eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsaktes begehrt wird. In Klausuren spielt die Verpflichtungsklage häufig im Baurecht (Baugenehmigung) eine Rolle.

Zu unterscheiden ist zwischen der Versagungsgegenklage (§ 42 I Alt. 2 VwGO) und der Untätigkeitsklage (§ 42 I Alt. 3 VwGO).

A. Sachurteilsvoraussetzungen

I. Verwaltungsrechtswegseröffnung, § 40 I 1 VwGO

Der Verwaltungsrechtsweg ist eröffnet, wenn es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art ohne Sonderzuweisung handelt, § 40 I 1 VwGO.

Jura Indivuell- Tipp: In aller Regel ist die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs unproblematisch gegeben und kann kurz mit den gängigen Theorien abgehandelt werden.

II. Zuständigkeit des Gerichts, §§ 45, 52 VwGO

Die sachliche Zuständigkeit richtet sich nach § 45 VwGO und die örtliche nach § 52 Nr. 1 bis 5 VwGO.

B. Zulässigkeit der Verpflichtungsklage

I. Statthaftigkeit, § 42 I Alt. 2, 3 VwGO

Die Verpflichtungsklage in Form der Versagungsgegenklage (Alt. 2) ist statthaft, wenn die Klage auf den ablehnenden Verwaltungsakt (§ 35 S. 1 VwVfG) einer Behörde gerichtet ist.

Die Verpflichtungsklage in Form der Untätigkeitsklage (Alt. 3) ist statthaft, wenn die Behörde nach einem Antrag (gar) nicht entschieden hat.

In Klausuren hat die Verpflichtungsklage vor allem im Baurecht große Bedeutung, wenn eine vom Kläger begehrte Baugenehmigung von der zuständigen Behörde abgelehnt wird und dieser nun dagegen vorgehen möchte.

II. Klagebefugnis, § 42 II VwGO

Bei der Verpflichtungsklage richtet sich (wie bei der Anfechtungsklage) die Klagebefugnis nach § 42 II VwGO. Demnach müsste der Kläger möglicherweise in subjektiv-öffentlichen Rechten verletzt sein. Dies ist dann der Fall, wenn er durch die Ablehnung des von ihm begehrten VA in seinem Recht verletzt ist. Die Adressatentheorie ist hier nicht anwendbar, da Art. 2 I GG als Grundrecht nur ein Abwehr- und gerade kein Leistungsrecht enthält.

III. Ordnungsgemäßes Widerspruchsverfahren, §§ 68 ff. VwGO

Grundsätzlich ist vor Klageerhebung ein Widerspruchsverfahren gemäß §§ 68 ff. VwGO durchzuführen. In einigen Bundesländern (u. a. Bayern, Niedersachsen) entfällt das Widerspruchsverfahren (z. B. Art. 15 I, II BayAGVwGO für Bayern, § 80 I NJG für Niedersachsen) jedoch und ist nur in wenigen fakultativen Fällen von Bedeutung.

IV. Klagefrist, §§ 74 I 2, 58 II VwGO

Die Verpflichtungsklage gegen Verwaltungsakte beträgt nach § 74 I 2 VwGO bei ordnungsgemäßer Rechtsbehelfsbelehrung (vgl. § 58 I VwGO) einen Monat. Unterbleibt eine solche, gilt gemäß § 58 II VwGO die Jahresfrist.

Die Klagefrist berechnet sich nach § 57 II VwGO in Verbindung mit §§ 222 I ZPO, 187 I, 188 II BGB. Fällt das Fristende auf einen Samstag, Sonntag oder Feiertag, endet die Frist nach § 222 II ZPO am darauf folgenden Werktag.

Welche Tage allgemeine Feiertage sind, bestimmt sich nach Bundes- sowie dem Landesrecht, in dem das für die Klage zuständige Gericht seinen Sitz hat. (Fies zum Beispiel hierzu war in einem bayerischen Examenstermin, das Fristende auf den 8. August in Augsburg zu setzen, welcher einzig und allein nur im bayerischen Augsburg ein Feiertag ist.)

V. Beteiligten- und Prozessfähigkeit, §§ 61, 62 VwGO

Die Beteiligten- und Prozessfähigkeit bestimmt nach §§ 61, 62 VwGO.

Jura Individuell- Tipp: Dieser Punkt ist in der Regel kurz anzusprechen und nur zu problematisieren, wenn sich im Sachverhalt Hinweise ergeben.

C. Begründetheit der Verpflichtungsklage

Wichtig ist stets, den Obersatz korrekt zu formulieren, da dieser die Begründetheit einleitet und die Prüfungsreihenfolge vorgibt.

Obersatz:

Die Verpflichtungsklage ist begründet, soweit die Ablehnung oder Unterlassung des begehrten VA rechtswidrig ist und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, § 113 V 1 VwGO.

I. Passivlegitimation, § 78 I Nr. 1 VwGO

Die Klage ist grundsätzlich gegen den Rechtsträger, nicht gegen die Behörde zu richten (sog. Rechtsträgerprinzip), § 78 I Nr. 1 VwGO. Ausnahmsweise können die Bundesländer durch Landesrecht (Verordnung genügt) nach § 78 I Nr. 2 VwGO bestimmen, dass die Klage gegen die zuständige Behörde selbst zu richten. (Kopp/Schenke, VwGO, 20. Auflage 2014, § 80 Rn. 3, 10)

II. Unterschiedliche Aufbauarten

Bei der Verpflichtungsklage gibt es zwei unterschiedliche Aufbaumöglichkeiten. Der Anspruchsaufbau (= Regelfall) kommt insbesondere bei gebundenen Entscheidungen in Betracht und der „Ablehnungsaufbau“ (oder auch Rechtswidrigkeitsaufbau) bei Ermessensentscheidungen.

Jura Individuell – Tipp: Der Regelfall in Klausuren ist meist die Ablehnung der Erteilung einer Baugenehmigung. Hier ist der Anspruchsaufbau zu wählen. Die Anspruchsgrundlage auf Erteilung einer Baugenehmigung in den landesrechtlichen Vorschriften ist stets eine gebundene Entscheidung (vgl. „ist zu erteilen“ z. B. § 70 I NBauO, § 75 BauO NW, Art. 68 I 1 BayBO, § 73 LBauO).

1. Anspruchsaufbau

Die Anspruchsgrundlage kann sich aus Gesetz, öffentlich-rechtlichem Vertrag oder einer Zusicherung ergeben.

2. „Ablehnungsaufbau“

Hier ist die formelle und materielle Rechtswidrigkeit des Versagungsbescheides zu prüfen.

Jura Individuell – Tipp: Es ergeht kein Verpflichtungsurteil, sondern ein Bescheidungsurteil nach § 113 V 2 VwGO, da die Sache noch nicht spruchreif ist.  Spruchreife bedeutet, dass das Verwaltungsgericht zu einer abschließenden Entscheidung über den Erlass des VA in der Lage ist (Kopp/Schenke, VwGO, 20. Auflage 2014, § 113 Rn. 193). Bei Ermessensentscheidungen der Verwaltung fehlt es an einer Spruchreife.

3. Rechtsverletzung

D. Tenorierung für das 2. Staatsexamen

Im Folgenden werden Tenorierungskonstellationen dargestellt, wobei auf die Kostengrundentscheidung, die vorläufige Vollstreckbarkeit und die Entscheidung über die Zulassung der Berufung verzichtet wird.

I. Das Gericht hält die Klage für begründet (Verpflichtungsurteil)

Tenor: „Der Bescheid (…) vom (…) wird aufgehoben. Der/Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger … zu erteilen. “

II. Das Gericht hält die Klage für unbegründet (Verpflichtungsurteil)

Tenor: „Die Klage wird abgewiesen.“

III. Das Gericht erlässt ein Verbescheidungsurteil

Tenor: „Der Bescheid des (…) vom (…) wird aufgehoben. Der Beklagte wird verpflichtet, den Antrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

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Das Organstreitverfahren

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In der Fallbearbeitung sieht sich der Bearbeiter oft mit der Frage nach den Erfolgsaussichten eines Verfahrens vor dem BVerfG konfrontiert. Das Organstreitverfahren gemäß Art. 93 I Nr.1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG ist eines dieser Verfahren. Es stellt eine verfassungsgerichtliche Innenrechtsstreitigkeit kontradiktorischer Art zwischen einem Antragssteller und einem Antragsgegner dar.

In der Regel begehrt der Antragssteller vom BVerfG die Feststellung, dass er durch eine Maßnahme des Antragsgegners in seinen verfassungsmäßigen Rechten verletzt ist.

Der folgende Beitrag legt sowohl die Zulässigkeit als auch die Begründetheit des Organstreitverfahrens dar und zeigt am Ende einen Beispielsfall.

A. Zulässigkeit des Antrags

I. Zuständigkeit des BVerfG (Art. 93 I Nr. 1 GG)

Gemäß Art. 93 I Nr. 1 GG entscheidet das BVerfG über die Auslegung des Grundgesetzes aus Anlass von Streitigkeiten über dem Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch das Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind.

Das Organstreitverfahren ist also ein kontradiktorisches Verfahren zwischen obersten Bundesorganen (bzw. Teilen derselben) über die ihnen durch das Grundgesetz zugewiesenen Rechte und Pflichten (Kompetenzen).

II. Ordnungsgemäßer Antrag

Der Antrag ist gemäß § 23 I BVerfGG schriftlich einzureichen und zu begründen. Zwar statuiert § 64 II BVerfGG die Pflicht, die Bestimmung des Grundgesetzes zu benennen, gegen die die Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners verstoßen haben soll, es genügt jedoch, wenn sie sich aus dem Inhalt der Begründungsschrift entnehmen lässt.

III. Beteiligungsfähigkeit / Parteifähigkeit (Art. 93 I Nr. 1 GG, § 63 BVerfGG)

Die Prüfung der Parteifähigkeit kann problematisch sein, da die entscheidenden Normen – Art. 93 I Nr. 1 GG und § 63 BVerfGG – insoweit nicht deckungsgleich sind. Sie verhalten sich zueinander wie zwei sich überschneidende Kreise, d.h. § 63 BVerfGG ist zum einen weiter, zum anderen enger als Art. 93 I Nr. 1 GG.

Während § 63 BVerfGG die parteifähigen Organe enumerativ aufzählt, stellt die Regelung des Art. 93 I Nr. 1 GG auf alle obersten Bundesorgane und auch auf andere Beteiligte ab. Auf der anderen Seite erweitert § 63 BVerfGG die Parteifähigkeit im Gegensatz zu § 93 I Nr. 1 GG auch auf Teile der genannten Organe.

Der Ausweg aus diesem Konflikt erfolgt in einer verfassungskonformen Auslegung des § 63 BVerfGG. Die Erweiterung der Parteifähigkeit auf Organteile wird als zulässige Interpretation des § 93 I Nr. 1 GG angesehen. Die Beschränkung des § 63 BVerfGG auf den enumerativ aufgezählten Kreis wird hingegen als nicht verfassungsgemäß aufgefasst. Somit können alle obersten Bundesorgane und auch andere Beteiligte i.S.d. Art. 93 I Nr. 1 GG ihre Parteifähigkeit direkt aus dem Grundgesetz herleiten. Auch Organteilen wird die Parteifähigkeit zugesprochen.

1. Parteifähigkeit (+)

  • Bundespräsident
  • Bundestag
  • Bundesrat
  • Bundesregierung
  • Bundeskanzler
  • Bundestagspräsident
  • Bundesratspräsident
  • Ausschüsse
  • Fraktionen
  • Mitglieder der Bundesregierung
  • Abgeordnete bei Wahrnehmung eigener Rechte aus dem Abgeordnetenstatus
  • Fraktionen in Untersuchungsausschüssen
  • Bundesversammlung
  • Parteien, bei Wahrnehmung von Rechten aus dem Grundgesetz

2. Parteifähigkeit (-)

  • Das „Volk“ als solches
  • Der einzelne Bürger
  • Bundesrechnungshof
  • Bundesbank
  • Wehrbeauftragter des Bundestages
  • Bundesverfassungsgericht
  • Abgeordnete, sofern sie Rechte des Gesamtorgans Bundestag wahrnehmen

Bsp. Zur Parteifähigkeit: der Bundespräsident möchte die Nationalhymne ändern. Statt des Deutschlandliedes soll John Lennons Song „Give peace a chance“ als Nationalhymne dienen. Gemäß einer entsprechenden Anordnung, die von der Bundeskanzlerin gegengezeichnet wurde (vgl. Art. 58 S. 1 GG), ordnet der Bundespräsident an, dass die neue Nationalhymne ab dem 01.10.2013 gelten solle.

Die X-Partei im deutschen Bundestag, welche sich zur X-Fraktion zusammengeschlossen hat, sieht darin einen Verfassungsverstoß. Der Bundespräsident könne nicht durch Anordnung die Nationalhymne ändern. Hierzu sei der Bundestag berufen, er sei in seiner Gesamtheit der Vertreter des deutschen Volkes.

Statthaft ist ein Organstreitverfahren.

Streitgegenstand ist die Neufestsetzung der Nationalhymne.

Fraglich ist die Parteifähigkeit der X-Partei. Wenn eine Rechtsverletzung vorliegt, dann gegenüber dem Bundestag als Verfassungsorgan. Die X-Partei ist als X-Fraktion lediglich Teil dieses Organs. Gleichwohl ist den Fraktionen als Teil des Organs Bundestag gemäß § 63 BVerfGG gestattet, in Prozessstandschaft gemäß § 64 I BVerfGG Rechte des Organs, dem sie angehören, wahrzunehmen. Die X-Fraktion ist deshalb beteiligtenfähig und auch antragsbefugt. 

IV. Antragsgegenstand

Antragsgegenstand ist gemäß § 64 I BVerfGG eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners, die rechtserheblich ist. Der Begriff der Maßnahme ist weit auszulegen. Es können nicht nur Einzelmaßnahmen, sondern beispielsweise auch Gesetzgebungsverfahren angegriffen werden (nicht aber eine Norm selbst, da insoweit § 93 I Nr. 2 GG einschlägig ist).

Die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners ist rechtserheblich, wenn zwischen den Parteien eine konkrete Meinungsverschiedenheit über verfassungsrechtliche Rechten und Pflichten besteht.

Beispiele von konkreten verfassungsrechtlichen Rechten und Pflichten:

  • Nichtzuerkennung des Fraktionsstatus
  • Beschluss des Parlaments, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen
  • Beschluss eines Ausschusses selbst
  • Erlass eines Gesetzes oder das Unterlassen das Gesetz zu erlassen
  • Besetzung von Ausschüssen mit Abgeordneten durch den Bundestag
  • Auflösung des Bundestages nach Art. 68 GG durch den Bundespräsidenten

Klausurtipp: Da die erforderliche Rechtserheblichkeit nur dann bejaht werden kann, wenn der Antragssteller durch die Maßnahme bzw. Unterlassung in seinen verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechten betroffen ist, kann sie auch erst im Rahmen der Antragsbefugnis erörtert werden. Wird sie bereits im Rahmen des Antragsgegenstandes erörtert, sollte bei der Antragsbefugnis dennoch ein kurzer Hinweis dergestalt erfolgen, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass die rechtserhebliche Maßnahme den Antragssteller in seinen verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechten beeinträchtige.

V. Antragsbefugnis

Gemäß § 64 I BVerfGG muss die Möglichkeit einer Rechtsverletzung bzw. –gefährdung bestehen (sog. Möglichkeitstheorie). Ob eine solche Verfassungsrechtsverletzung oder –gefährdung tatsächlich vorliegt, wird allerdings nicht in der Zulässigkeit, sondern in der Begründetheit geprüft!

Diese Rechtsposition muss sich nach dem Normtext aus dem Grundgesetz ergeben. Es genügen also, anders als bei der Beteiligungsfähigkeit, keine Rechte aufgrund einer Geschäftsordnung. Da die Beteiligten nicht als natürliche Personen auftreten, können sie insbesondere keine Grundrechte geltend machen. Der Antragssteller ist also nur dann antragsbefugt, wenn er eine Rechtsverletzung geltend macht, die sich aus seiner organschaftlichen Stellung ergibt. Dies werden in erster Linie Kompetenzübergriffe des Antragsgegners sein.

Bsp.: Abgeordneter A hat über einen längeren Zeitraum illegale Parteispenden entgegengenommen. Um den Sachverhalt umfassend aufzuklären, setzt der Bundestag einen Untersuchungsausschuss ein. A ist der Auffassung, die Einsetzung des Untersuchungsausschusses greife in unzulässiger Weise in sein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ein (Art. 1 I GG i.V.m. Art. 2 I GG). Darüber hinaus sei er an der freien Ausübung seines Mandats (Art. 38 I S. 2 GG) gehindert.

Sofern sich A auf das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung beruft, ist der Organstreit unzulässig, da dieser die Geltendmachung einer Verletzung von organschaftlichen Rechten voraussetzt. Grundrechte begründen keine organschaftlichen Rechte. Etwas anderes gilt im Hinblick auf Art. 38 I S. 2 GG. Dort ist der verfassungsrechtliche Status als Abgeordneter verankert. Sofern eine Verletzung dieses verfassungsrechtlichen Abgeordnetenstatus nicht ausgeschlossen werden kann, ist A antragsbefugt.

Darüber hinaus kann sich der Antragssteller gemäß § 64 I BVerfGG auch auf Rechtspositionen berufen, die dem Organ zustehen, welchem er angehört. Hierbei handelt es sich um einen Fall der gesetzlichen Prozesstandschaft, da der Antragssteller im eigenen Namen fremde Rechte geltend machen kann. Mit Blick auf die Rechte des Bundestages sollen allerdings nur Fraktionen zu ihrer Geltendmachung befugt sein, nicht hingegen der einzelne Bundestagsabgeordnete.

VI. Antragsgegner

Richtiger Antragsgegner ist das Organ/ der Organteil, welcher für die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung die Verantwortung trägt.

VII. Antragsfrist

Gemäß § 64 III BVerfGG besteht eine sechsmonatige Frist. Liegt die beanstandete Maßnahme im Erlass gesetzlicher Vorschriften, so beginnt die Frist mit der Verkündung des Gesetzes. Beim Unterlassen startet die Frist, wenn die Erfüllung der Handlungspflicht ernstahft und endgültig verweigert wird.

VIII. Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis

Schließlich muss ein Rechtsschutzbedürfnis bestehen. Wurde allerdings die Antragsbefugnis bejaht, wird in der Regel auch das Rechtsschutzbedürfnis gegeben sein, sodass es einer Prüfung dann nicht bedarf.

Ein Fehlen des Rechtsschutzbedürfnisses kommt dann in Betracht, wenn:

  • Es einfachere Möglichkeiten gibt, das Recht zu verteidigen, etwa wenn der Antragssteller Rechtsverletzungen durch eigenes Verhalten hätte vermeiden können
  • Die Beschwer entfallen ist, die Sache sich also erledigt hat (obwohl es durchaus angebracht sein kann, abgeschlossene Tatbestände einer verfassungsrechtlichen Prüfung zu unterziehen, insbesondere dann, wenn eine rechtsbeeinträchtigende Wirkung für die Zukunft besteht)
  • Keine Wiederholungsgefahr besteht

In diesen Fällen muss das Rechtsschutzbedürfnis geprüft und ggf. verneint werden.

B. Begründetheit

Der Antrag im Organstreitverfahren ist nach § 67 S. 1 BVerfGG begründet, soweit die angegriffene Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners verfassungswidrig ist. Ein einhelliges Schema für die Begründetheit zu verfassen ist schwerlich möglich. In der Begründetheit können die verschiedensten Variationen auftauchen. Ein (grobes!) Orientierungsschema lautet wie folgt:

I. Rechtsposition des Antragsstellers

Ein durch das Grundgesetz übertragenes Recht (§ 64 I BVerfGG)

II. Beeinträchtigung (Eingriff, Verletzung)

Handlung oder Unterlassung des Antragsgegners

III. Rechtfertigung

1. Durch Grundgesetz

  • Grundgesetznormen (ggf. praktische Konkordanz)
  • Staatsstrukturprinzipien

2. Ggf. durch Gesetz oder Rechtsverordnung

a. Formelle Verfassungsmäßigkeit
aa. Zuständigkeit
  • Verbandskompetenz (Art. 70 ff. GG)
  • Organkompetenz (Art. 77 I 1, 80 I 1 GG)
bb. Verfahren
  • Initiative (Art. 76 I, 80 I 1, III GG)
  • Beschluss (Art. 77 I, 80 I 1 GG)
  • Beteiligung des Bundesrates (Art. 77, 80 II GG)
cc. Form (Verkündung Art. 82 GG)
b. Materielle Verfassungsmäßigkeit
aa. Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz
bb. Verhältnismäßigkeit
  • Geeignetheit
  • Erforderlichkeit
  • Angemessenheit

Wichtig zu beachten ist, dass das Bundesverfassungsgericht lediglich die Rechtswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme oder Unterlassung feststellt. Es ergeht also ein Feststellungsurteil. Eine Aufhebung der Maßnahme durch das Bundesverfassungsgericht kommt nicht in Betracht. Bei Begründetheit des Antrags ist der Antragsgegner jedoch verpflichtet, dem Urteil Folge zu leisten, da dieses alle Staatsorgane bindet.

Beispielsfall

Sachverhalt

Vor den Wahlen zum derzeit amtierenden Bundestag war in das BWahlG der folgende § 46a eingeführt worden:

§ 46a Ruhen des Mandats

(1)    Ein Abgeordneter, der Mitglied der Bundesregierung ist, kann gegenüber dem Präsidenten des Bundestages schriftlich erklären, dass sein Mandat für die Dauer seiner Amtszeit als Mitglied der Bundesregierun ruhen soll.

(2)    War der Abgeordnete auf einer Landesliste gewählt, übt während seiner Amtszeit als Mitglied der Bundesregierung der auf der Landesliste nächstberufene Bewerber das Mandat aus.

(3)    Endet die Zugehörigkeit eines Mitglieds der Bundesregierung, kann der Betroffene erklären, dass auch das Ruhen seines Mandats endet. In diesem Fall scheidet von mehreren aus einer Landesliste zur Ausübung des Mandats berufenen Bewerbern derjenige aus dem Bundestag aus, der als letzter berufen worden war.

(4)    Das Ruhen eines Abgeordnetenmandats, seine Ausübung durch einen Nachfolger, das Enden des Ruhen und das dadurch bewirkte Ausscheiden eines Bewerbers werden vom Bundeswahlleiter festgestellt.

Bei der letzten Bundestagswahl erreichte die X-Partei so viele Stimmen, dass sie mit sehr knapper Mehrheit die Regierungsfraktion stellen kann. Bei dieser Bundestagswahl ist A als Abgeordneter der X-Partei in den Bundestag gewählt worden. Anschließend wurde er vom Bundeskanzler als Bundesminister ernannt. Nun klagt A über die ständige Arbeitsüberlastung. Er erklärt am 02.01.2013 gem. § 46a BWahlG, er wolle sein Bundestagsmandat ruhen lassen. Daraufhin ist gem. § 46a II BWahlG an seiner Stelle der nach der Landesliste der X-Partei „nächstberufene Bewerber“ B am 06.01.2013 in den Bundestag eingezogen.

Nach dem Einzug des B in den Bundestag steht für den 20.01.2013 die zweite Lesung eines Gesetzes zur Änderung des Ausländergesetzes an. Am 07.01.2013 hatte B öffentlich erklärt, er wolle keinesfalls dieser geplanten Gesetzesänderung zustimmen.

Am 09.01.2013 erklärt Minister A vor Journalisten, er sei im Dauerstress, der mit der Ausübung eines Ministeramtes verbunden sei, nicht mehr gewachsen. Einen Tag später wird A auf seinen Wunsch hin auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten entlassen (Art. 64 GG). A erklärt dem Bundeswahlleiter schriftlich, er wolle sein Mandat gem. § 46a III BWahlG ab sofort wieder ausüben. Am 14.01.2013 stellt der Bundeswahlleiter das „Ende des Ruhens des Mandats“ von A und das Ausscheiden des Abgeordneten B aus dem Bundestag fest. Am 20.01.2013 wird das Änderungsgesetz zum Ausländergesetz mit der Stimme des A verabschiedet.

B hält § 46a BWahlG für verfassungswidrig, weil er mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl nicht vereinbar sei. Darüber hinaus sei er nicht mit dem freien Mandat des Abgeordneten und nicht mit der Gleichheit des Mandats vereinbar.

Lösung:

Möglicherweise verstößt § 46a BWahlG tatsächlich gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl, gegen das freie Mandat der Abgeordneten und gegen die Gleichheit des Mandats. Ein entsprechender Rechtsbehelf des B müsste zulässig und begründet sein.

A. Zulässigkeit eines Organstreitverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht

I. Zuständigkeit des BVerfG

Auch hinsichtlich Bundestagsabgeordneten, die die Verletzung ihres Status aus Art. 38 I S. 2 GG (freies Mandat) geltend machen, ist zwar prinzipiell die Verfassungsbeschwerde denkbar (Art. 38 I S. 2 GG ist ein grundrechtsgleiches Recht). Soweit der einzelne Abgeordnete aber die Verletzung eines Rechts, das mit seinem Status verfassungsrechtlich verbunden ist, behauptet, ist das Organstreitverfahren vor dem BVerfG gegenüber der Verfassungsbeschwerde der speziellere Rechtsbehelf.

II. Beteiligtenfähigkeit/Parteifähigkeit

B müsste auch legitimiert sein, den Antrag zu stellen (§ 63 BVerfGG). Fraktionen sind parteifähig, weil sie als Teil des Organs Bundestag mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Anders verhält es sich mit dem einzelnen Abgeordneten, der allenfalls ein Organmitglied nicht aber ein Organteil sein kann. Aber auch dieser ist parteifähig, obwohl er nicht in § 63 BVerfGG genannt ist, denn gem. Art. 93 I Nr.1 GG ist er ein „anderer Beteiligter“, der durch das Grundgesetz mit eigenen Rechten ausgestattet ist. Die Ausstattung mit eigenen Rechten ergibt sich aus dem durch Art. 38 I S.2 GG garantierten verfassungsrechtlichen Status als Abgeordneter. B ist somit parteifähig.

III. Antragsbefugnis

Die Antragsbefugnis richtet sich nach § 64 I BVerfGG. Demgemäß muss B geltend machen, dass ihm ein Recht „zur ausschließlich eigenen Wahrnehmung seiner Kompetenzen übertragen“ oder „seine Beachtung erforderlich ist, um die Wahrnehmung seiner Kompetenzen zu gewährleisten“. Dabei muss die geltend gemachte Rechtsverletzung möglich sein (herrschende Möglichkeitstheorie).

B behauptet, § 46a BWahlG sei verfassungswidrig, weil dieser mit dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl nicht vereinbar sei. Darüber hinaus sei § 46a BWahlG nicht mit dem freien Mandat der Abgeordneten und nicht mit der Gleichheit des Mandats vereinbar. Er macht somit geltend, dass er durch die Regelung des § 46a BWahlG in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten verletzt sei. Da diese geltend gemacht Rechtsverletzung möglich erscheint, ist B antragsbefugt.

Das Organstreitverfahren ist mithin zulässig.

B. Begründetheit des Organstreitverfahrens

I. Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl

Art. 38 I S.1 GG statuiert unter anderem den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl. Dieser Grundsatz fordert nicht nur das Fernbleiben von Wahlmännern, sondern auch ein Wahlverfahren, in dem der Wähler vor dem Wahlakt erkennen kann, wie sich die eigene Stimmabgabe auf den Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken kann.

Fraglich ist daher die Verfassungsmäßigkeit des ruhenden Mandats, bei dem Mitglieder der Bundes- bzw. Landesregierung ihr Mandat ruhen lassen und bei Ausscheiden aus der Regierung unter Verdrängung des inzwischen nachgerückten Listenbewerbers wieder in den Bundes- bzw. Landtag eintreten können. Ein Verstoß gegen die Unmittelbarkeit der Wahl liegt allerdings noch nicht bei der Möglichkeit, das Mandat ruhen zu lassen, also noch nicht in der Möglichkeit des Ausscheidens aus dem Parlament und dem Nachrücken des nächsten Listenbewerbers. Ein Verstoß gegen Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl liegt dann vor, wenn es im Belieben des Ausgeschiedenen steht, den Nachgerückten durch Wiedereintritt in das Parlament zu verdrängen.

Vorliegend ist die Möglichkeit des Ruhenlassens des Mandats in § 46a I BWahlG vorgesehen. Da dies noch nicht gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl verstößt, ist die Vorschrift des § 46 a BWahlG nicht verfassungswidrig.

Etwas anderes könnte sich aber im Hinblick auf § 46a III BWahlG ergeben. Diese Vorschrift statuiert in Satz 1 das Recht des Abgeordneten, sein ruhendes Mandat wieder auszuüben. Bestimmte Anforderungen an das Wiederaufnehmen des Mandats stellt die Vorschrift nicht. Damit stellt sie die Aufnahme des Mandats in das Belieben des ausscheidenden Regierungsmitglieds. A macht es von seiner physischen und psychischen Konstitution abhängig, ob er sein niedergelegtes Mandat wieder aufnimmt. Diese – von § 46a III BWahlG gedeckte – Vorgehensweise verstößt gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl. § 46a III BWahlG ist daher zu weit gefasst und verfassungswidrig.

II. Verstoß gegen das freie Mandat des Abgeordneten

Art. 38 I S. 2 GG garantiert die Freiheit des Abgeordneten. Die hier zu untersuchende Freiheit des Abgeordneten besagt, dass alle staatlichen Maßnahmen untersagt sind, die den Bestand und die Dauer des Mandats beeinträchtigen und die inhaltliche Bindung der Mandatsausübung herbeiführen oder sanktionieren. Daraus folgt, dass der Verlust des Abgeordnetenstatus keine Frage des einfachen Rechts ist, sondern durch die Verfassung selbst gehindert wird. Hat demnach ein Bewerber ein Mandat errungen, ist sein Status geschützt. Eine Regelung in BWahlG über den Verlust des Abgeordnetenmandats, wie dies § 46a III S.2 BWahlG vorsieht, ist daher verfassungswidrig.

III. Verstoß gegen die Gleichheit des Mandats

Schließlich statuiert Art. 38 I S. 2 GG den Anspruch der Abgeordneten auf Gleichheit des Mandats. Die Gleichheit der Abgeordneten verbietet Differenzierungen des verfassungsrechtlichen Status: „Alle Mitglieder des Parlaments sind formal gleichgestellt“. Gegen die Gleichheit des Mandates verstößt es daher, wenn ein Regierungsmitglied sein Mandat ruhen und bei Ausscheiden aus der Regierung wiederaufleben lassen kann. Da dies vorliegend § 46a III BWahlG zulässt, verstößt die Vorschrift auch gegen die Gleichheit des Mandats.

IV. Ergebnis

Die Vorschrift des § 46a III BWahlG verstößt gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl. Darüber hinaus ist sie nicht mit dem freien Mandat des Abgeordneten und nicht mit der Gleichheit des Mandats vereinbar. Das von B beantragte Organstreitverfahren vor dem BVerfG ist somit zulässig und begründet.

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Nichtigkeitsklage, Art. 263 AEUV

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Einleitung:

Dieser Artikel befasst sich mit der Nichtigkeitsklage.
Daneben gibt es im Europarecht noch das Vertragsverletzungsverfahren in Form der Aufsichtsklage und der Staatenklage, die Untätigkeitsklage und das Vorabentscheidungsverfahren.

Im Folgenden wird die Nichtigkeitsklage kurz dargestellt und anhand eines Prüfungsschemas genauer aufgearbeitet.

A. Die Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV im Allgemeinen:

Die Nichtigkeitsklage ermöglicht es, die Rechtmäßigkeit von Handlungen der Unionsorgane und sonstigen Einrichtungen der EU zu überprüfen. Ziel ist es, sekundäres Unionsrecht (wenn primäres Unionsrecht dadurch verletzt wurde) durch den EuGH (bzw. das EuG) für nichtig erklären zu lassen, vgl. Art. 264 I AEUV.

Die Nichtigkeitsklage kann – sollte es um die Nichtigkeit von Beschlüssen gehen – ähnlich der Form einer Anfechtungsklage oder – sollte es um Richtlinien und Verordnungen gehen – ähnlich der Form einer Normenkontrollklage ausgestaltet sein.

Folge einer erfolgreichen Nichtigkeitsklage ist immer die Nichtigkeitserklärung der beanstandeten Handlung, vgl. Art. 264 I AEUV. Diese wirkt ex-tunc und erga omnes, d.h. gegenüber allen. Gemäß Art. 266 I AEUV trifft die betroffenen Organe eine Folgenbeseitigungspflicht.

B. Prüfschema:

I. Zulässigkeit der Klage

(1.) Rechtsweg – Achtung: gedankliche Vorprüfung!

Der Rechtsweg zum EuGH ist gem. Art. 19 III EUV i.V.m. Art. 263 AEUV eröffnet, wenn eine Verletzung von Unionsrecht gerügt wird. Es gilt insoweit das im Europarecht allgemeingültige Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, Art. 19 III EUV. Siehe insbesondere Art. 19 III lit. c EUV: „in allen in den Verträgen vorgesehenen Fällen“.
Im Europarecht wird die Eröffnung des Rechtswegs allerdings nicht ins Gutachten mit aufgenommen, sie dient lediglich als gedankliche Vorprüfung und stellt keinen eigenen Prüfungspunkt dar!

1. Sachliche ZuständigkeitSachlich zuständig ist grundsätzlich das EuG, vgl. Art. 256 I S. 1 AEUV

Für Nichtigkeitsklagen von Mitgliedstaaten und EU-Organe, ist jedoch abweichend davon der EuGH zuständig, vgl. Art. 51 Satzung des EuGH.

2. Parteifähigkeit / Beteiligtenfähigkeit

Aktiv parteifähig, d.h. antragsberechtigt, sind gemäß Art. 263 II AEUV die Mitgliedstaaten, das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission, gemäß Art. 263 III AEUV der Rechnungshof, die EZB und der Ausschuss der Regionen, sowie gemäß Art. 263 IV AEUV alle natürlichen und juristischen Personen. Aktive Parteifähigkeit bedeutet dabei, die Fähigkeit, vor Gericht zu klagen.

Passiv parteifähig sind das Europäische Parlament, der Rat, die Kommission, die EZB, der Europäische Rat vgl. Art. 263 I 1 AEUV. Weiterhin sind Einrichtungen und sonstige Stellen der Union passiv parteifähig, sofern ihre angegriffenen Handlungen Rechtswirkungen gegen Dritte entfalten, Art. 263 I 2 AEUV. Passive Parteifähigkeit bedeutet dabei, vor Gericht verklagt zu werden.

3. Klagegegenstand

Klagegegenstand können nur Handlungen mit Rechtswirkung sein. Daher werden neben Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse auch Handlungen erfasst, die dazu bestimmt sind, Rechtswirkungen zu erzeugen. Unerheblich ist dabei ihre formelle Bezeichnung. Empfehlungen und Stellungnahmen sind mangels Rechtswirkung kein zulässiger Klagegenstand, Art. 263 I 1, 288 V AEUV.
Primärrechtliche Bestimmungen können nicht Klagegenstand sein.

4. Klagebefugnis

Die Voraussetzungen der Klagebefugnis bestimmen sich grundsätzlich danach, wer als Kläger auftritt.

a) Privilegierte Klagebefugnis

Treten Unionsorgane und Mitgliedstaaten nach Art. 263 II AEUV als Kläger auf, ist eine Klagebefugnis nicht erforderlich. Es handelt sich für diese daher um ein sog. objektives Verfahren, d.h. sie sind privilegiert klagebefugt.

b) Teilprivilegierte Klagebefugnis

Berechtigte nach Art. 263 III AEUV, folglich die EZB, der Rechnungshof und der Ausschuss der Regionen sind hingegen nur teilprivilegiert klagebefugt. Sie müssen die Verletzung eigener Rechte substantiiert geltend machen, da sie nur zur „Wahrung ihrer Rechte“ klagen dürfen.

c) Nichtprivilegierte Klagebefugnis

Berechtigte nach Art. 263 IV AEUV, d.h. alle natürlichen und juristischen Personen, sind nicht privilegiert klagebefugt. Für sie handelt es sich um ein sog. subjektives Verfahren, d.h. sie müssen ein spezifisches Rechtsschutzbedürfnis nachweisen um klagen zu können. Die Anforderungen an dieses spezifische Rechtsschutzbedürfnis werden in Art. 263 IV AEUV genannt. Danach kommen drei Alternativen in Betracht: Die natürlichen und juristischen Personen müssen entweder Adressat der Handlung sein (Alt. 1) oder durch die Handlung unmittelbar und individuell betroffen sein (Alt. 2) oder die Handlung ist ein Rechtsakt mit Verordnungscharakter, der sie unmittelbar betrifft und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht (Alt. 3).

Beachte dabei: Richtlinien und Verordnungen haben immer Adressaten: Die Mitgliedsstaaten; es sind auch Beschlüsse angreifbar, die an andere nat. oder jur. Personen ergangen sind!

aa) den Kläger unmittelbar und individuell betreffende Handlungen

(1) unmittelbare Betroffenheit
Unmittelbare Betroffenheit liegt immer dann vor, wenn sich die beanstandete Maßnahme auf die individuelle Interessens- oder Rechtslage der natürlichen oder juristischen Person direkt dadurch auswirkt, dass keine weiteren Vollzugsakte mehr notwendig sind, d.h das der ausführenden Stelle kein Ermessen in Form eines inhaltlichen Entscheidungsspielraums eingeräumt wird. Es kommt nicht darauf an, ob formal noch ein weiterer Rechtsakt erforderlich ist. Ein Beispiel hierfür wäre ein Subventionsrückforderungsbeschluss der Kommission, da der Mitgliedstaat, an den der Beschluss adressiert ist, diesbezüglich kein (inhaltliches) Ermessen hat. Unerheblich ist es daher, dass noch ein nationaler Rückforderungsbescheid ergehen muss. Die Person, die die Subvention zurückzahlen muss, ist direkt, d.h. individuell von dem Beschluss betroffen. Dem Beschluss allein kommt hier unmittelbare Wirkung zu.

(2) individuelle Betroffenheit
Individuelle Betroffenheit liegt nach der vom EuGH entwickelten „Plaumann-Formel“ dann vor, wenn der Rechtsakt den Kläger wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den eigentlichen Adressaten (EuGH, Rs. 25/62 (Plaumann), Slg. 1963, 213 [238]; abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ALL/?uri=CELEX:61962CJ0025). Individuelle Betroffenheit bedeutet somit „tatsächliche“ Betroffenheit. Ein Beispiel: Eine Entscheidung der Kommission, die alle Personen betrifft, die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Antrag auf z.B. eine Subvention gestellt haben. Diese Personen sind im Gegensatz zu Personen, die zwar jederzeit den Antrag stellen könnten, dies aber noch nicht getan haben, individuell betroffen.

bb) Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die den Kläger unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen
Rechtsake mit Verordnungscharakter sind nach einer neuen Entscheidung des EuGH nur solche Rechtsakte, die nicht in einem Gesetzgebungsverfahren erlassen wurden, d.h. keine Gesetzgebungsakte gem. Art. 289 III AEUV sind (EuGH, Rs. C-583/11 P (Inuit), Urteil v. 03.10.2013 = JuS 2014, 184 = JA 2014, 236). Der Begriff Rechtsakt mit Verordnungscharakter gehe auf den Verfassungsvertrag zurück. In diesem wurde zwischen Gesetzgebungsakten und Rechtsakten mit Verordnungscharakter unterschieden. Weiterhin müsse nach dem EuGH aus systematischen Gründen der Begriff enger sein als der der Handlung (s.o. Alt. 1 und 2). Damit werden insbesondere Rechtsakte nach Art. 290, Art. 291 II AEUV erfasst sowie sonstige Rechtsakte, die alleine von Rat oder Kommission erlassen werden.
Die unmittelbare Betroffenheit wird dabei wie bisher nach der Plaumannformel ermittelt.

5. Klagegründe

Sämtliche Klagegründe sind in Art. 263 II AEUV normiert: Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung des Vertrags oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm oder Ermessensmissbrauch.

Die Klagegründe sind plausibel darzulegen. Das bedeutet lediglich die Geltendmachung, das tatsächliche Vorliegen des Klagegrundes ist dann Teil der Begründetheit.

6. Form und Frist

Die Klagefrist beträgt zwei Monate ab Bekanntgabe oder Kenntnisnahme des Klägers von der angegriffenen Handlung, vgl. Art. 263 VI AEUV. Bezüglich der Fristberechnung sind Art. 49 ff. VerfO EuGH, bzw. Art. 101 f. VerfO EuG zu beachten.

Die Klage muss schriftlich erhoben werden, vgl. Art. 21 Satzung EuGH. Zum Inhalt der Klageschrift s. ebenfalls Art. 21 Satzung EuGH

II. Begründetheit der Klage

Die Nichtigkeitsklage ist begründet, wenn ein Klagegrund des Art. 263 II AEUV tatsächlich gegeben ist, die Handlung also tatsächlich rechtswidrig war.

Dabei wird nur die Rechtmäßigkeit der beanstandeten Handlung überprüft, die Verletzung eines subjektiven Rechts ist insoweit unerheblich (da nicht Prüfungsgegenstand).

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Aufhebung von Verwaltungsakten

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 I. Sinn und Zweck

Die Rücknahme und der Widerruf sind Instrumente der Behörde, mit denen sie entweder selbstinitiiert oder auf Antrag des Bürgers, Verwaltungsakte außerhalb eines Rechtsbehelfsverfahrens aufheben kann. Bedeutsam ist, dass sowohl die Rücknahme als auch der Widerruf nach Eintritt der Bestandskraft eines Verwaltungsaktes, d.h. nach Unanfechtbarkeit seine Aufhebung ermöglichen.

Verinnerlichen Sie sich zu Beginn der Klausur unbedingt den Sinn und Zweck der Vorschriften über die Aufhebung von Verwaltungsakten. Dieser liegt in dem Ausgleich zwischen dem Vertrauensschutz des Adressaten auf den Fortbestand des Verwaltungsaktes und dem Interesse der Verwaltung an der Herstellung rechtmäßiger Zustände. Letzteres ist gesetzlich als Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung in Art. 20 III GG verankert. Diesen Interessenkonflikt müssen Sie in Ihrer Klausur zum Ausdruck bringen – und dem Korrektor zeigen, dass Sie in der Lage sind, diesen anhand von Abwägungskriterien, die Ihnen der Aktenauszug liefert, entweder zugunsten der Verwaltung oder zugunsten des Bürgers sinnvoll aufzulösen.

II. Abgrenzung Rücknahme und Widerruf

Vertiefen Sie sich nicht zu sehr in Streitigkeiten bezüglich der Abgrenzung der §§ 48 und 49 VwVfG. Die Rücknahme dient grundsätzlich der Korrektur rechtswidriger Entscheidungen – wohingegen der Widerruf auf die Anpassung eines Verwaltungsaktes an eine veränderte Sach- oder Rechtslage gerichtet ist. Zu § 48 VwVfG greifen Sie damit bei rechtswidrigen Verwaltungsakten; § 49 VwVfG hingegen ist anzuwenden, wenn Sie es mit einem rechtmäßigen Verwaltungsakt zu tun haben. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtswidrigkeit ist grundsätzlich der Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes (ergibt sich aus § 49 II Nrn. 3, 4 VwVfG). Sofern der Verwaltungsakt erst später rechtswidrig wird, weil sich die Sach- oder Rechtslage geändert hat und dies aus besonderen Gründen auf den Erlasszeitpunkt zurückwirkt (z.B. rückwirkende Aufhebung des rechtmäßigen Gesetzes, auf dem der Verwaltungsakt beruht, durch den Gesetzgeber), richtet sich die Aufhebung nach § 48 VwVfG und nicht nach § 49 VwVfG. Grund dafür ist, dass der ursprünglich rechtmäßige Verwaltungsakt rückwirkend rechtswidrig wird. Eine Besonderheit gilt es bei Dauerverwaltungsakten (Wirkung für die Zukunft) zu beachten: Sind sie bei Erlass rechtmäßig und werden sie durch eine später eintretende Änderung der Rechts- oder Sachlagen rechtswidrig, richtet sich die Aufhebung nach dem BVerwG und Teilen der Literatur ebenfalls nach § 48 VwVfG. Denn ab der Rechts- oder Sachlageänderung ist der Dauerverwaltungsakt rechtswidrig.

III. Rücknahme eines Verwaltungsaktes

1. Anwendbarkeit

Die allgemeinen Vorschriften über die Aufhebung von Verwaltungsakten sind nur subsidiär anwendbar. Sie werden nach §§ 1 I, 2 VwVfG verdrängt, soweit speziellere Vorschriften – betreffend die Aufhebung von Verwaltungsakten – eingreifen. Durch die Subsidiarität sollen spezielle Wertung des Fachrechts gewahrt bleiben. Spezialgesetzliche Vorschriften über die Aufhebung von Verwaltungsakten existieren in den §§ 44 ff. SGB X .(Sie können damit rechnen, dass Ihnen im Klausurfall derartige spezialgesetzliche Vorschriften als Anlage beigefügt werden. Beachten Sie bei Sozialleistungsstreitigkeiten die Gerichtskostenfreiheit gemäß § 188 S.2 VwGO und tenorieren Sie korrekt: „ Die Kosten des Verfahrens – für das Gerichtskosten nicht erhoben werden – trägt der (…)“).

Neben den „exotischeren“ Normen finden Sie viele gängige – und bei Klausurerstellern beliebte – spezialgesetzliche Vorschriften auch im Sartorius. Wegen ihrer Häufigkeit einprägen sollten Sie sich insbesondere die spezialgesetzlichen Normen für die Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 3 StVG und für die Rücknahme der waffenrechtlichen Erlaubnis nach § 45 I WaffG.

Seien Sie wachsam, wenn es in Ihrem Klausursachverhalt um die Rücknahmepflicht der Gaststättenerlaubnis nach § 15 I GastG geht. Diese Vorschrift normiert lediglich eine Rücknahmepflicht bei Vorliegen von Versagungsgründen nach § 4 I Nr.1 GastG. Die Rücknahme selbst richtet sich jedoch nach der Ermessensnorm des § 48 VwVfG. ( Achtung: Verwechseln Sie § 15 I nicht mit § 15 II und III GastG; Letztere sehen vollständig eigene Regelungen – allerdings nur für den Widerruf der Gaststättenerlaubnis – vor, die einen Rückgriff auf die allgemeinen Aufhebungsvorschriften, in dem Fall auf § 49 VwVfG, verbieten.)

Verdeutlichen Sie in Ihrer Klausur ggf. auch, dass rechtswidrige Verkehrsregelungen nach § 48 VwVfG aufzuheben sind, da nach der Rechtsprechung weder § 45 I 1 StVO noch § 45 III 1 StVO spezielle Anforderungen für die Rücknahme beinhalten.

2. Formelle Aufhebungsvoraussetzungen

Die formellen Voraussetzungen sind meist unproblematisch gegeben. Sie sollten jedoch in der gebotenen Kürze auf die Zuständigkeit der im Zeitpunkt der Rücknahmeentscheidung zuständigen Behörde nach § 48 V i.V.m. § 3 VwVfG eingehen. Sofern ursprünglich eine sachlich unzuständige Behörde entschieden hat, ist für die Rücknahme die zum Zeitpunkt der Rücknahmeentscheidung tatsächlich zuständige Behörde entscheidungsbefugt. Vergessen Sie auch nicht, dass vor der Rücknahme des Verwaltungsaktes gemäß § 28 I VwVfG eine Anhörung erforderlich ist.

3. Materielle Aufhebungsvoraussetzungen

3.1 Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes

Materiell ist die objektive Rechtswidrigkeit des aufzuhebenden Verwaltungsaktes erforderlich. Diese liegt vor, wenn Außenrechtsnormen – hierzu gehört auch das Gemeinschaftsrecht – verletzt wurden. Immer wieder wird in Aktenauszügen die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes wegen des Verstoßes gegen Verwaltungsvorschriften problematisiert. Häufig werden die entsprechenden Verwaltungsvorschriften abgedruckt sein, um Sie ein wenig in die Irre zu leiten. Heben Sie sich positiv von der Masse ab und formulieren Sie kurz aber bündig, dass aus der Verletzung von Verwaltungsvorschriften allein keine Rechtswidrigkeit folgt, da es sich um interne Vorschriften handelt, denen es an einem Außenbezug mangelt. Eine Rechtswidrigkeit kann sich aber durchaus mittelbar aus einem Verstoß gegen Art. 3 I GG i.V.m. dem Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung ergeben, wenn die Behörde sich in vergleichbaren Fällen genau an die Verwaltungsvorschriften zu halten pflegte. In diesem Fall müssen Sie die Einhaltung der Verwaltungsvorschriften prüfen. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtswidrigkeit ist grundsätzlich der Zeitpunkt des Verwaltungserlasses. Sofern der Verwaltungsakt ursprünglich rechtmäßig war aber später rechtswidrig wird, beispielsweise weil sich die Sach- oder Rechtslage geändert hat, prüfen Sie also nicht § 48 VwVfG sondern § 49 VwVfG.

3.2 Begünstigender Verwaltungsakt

Innerhalb des § 48 VwVfG ist zwischen begünstigenden und nicht begünstigenden Verwaltungsakten zu unterscheiden. Die Unterscheidung ist insofern von Bedeutung, dass ein rechtswidriger belastender Verwaltungsakt nach dem Grundsatz der freien Rücknehmbarkeit (§ 48 I 1 VwVfG) jederzeit aufgehoben werden kann. Ein rechtlich vorteilhafter rechtswidriger Verwaltungsakt hingegen kann nur unter den einschränkenden Voraussetzungen der §§ 48 I 2, II-IV VwVfG zurückgenommen werden.

Lernen Sie keine überflüssigen Definitionen auswendig, sondern arbeiten Sie mit dem Gesetz: Ein Verwaltungsakt ist gemäß §48 I 2 VwVfG begünstigend, wenn er ein Recht oder einen rechtlichen Vorteil begründet oder bestätigt. Im Gegensatz zur Frage der Rechtswidrigkeit ist die Begünstigung stets im Zeitpunkt der Rücknahme zu beurteilen. Dies macht Sinn, wenn Sie sich daran erinnern, dass das Interesse des Bürgers am Fortbestand des Verwaltungsaktes von Bedeutung ist. Allerdings kann diese Beurteilung dazu führen, dass ein zunächst belastender Verwaltungsakt – für die juristische Sekunde seiner Aufhebung – zu einem begünstigenden Verwaltungsakt wird, da die Behörde zugleich eine belastendere Regelung (Verböserung) trifft. Der ursprüngliche Verwaltungsakt ist dann für die Beurteilung der Begünstigung in Relation zu der „Verböserung“ zu setzen. Stellt er dem verböserten Verwaltungsakt gegenüber Vorteile für den Adressaten dar, so bemisst sich seine Rücknahme nach den Einschränkungen für begünstigende Verwaltungsakte nach den §§ 48 I 2, II-IV VwVfG.

3.3 Besondere Voraussetzungen der §§ 48 II-III VwVfG

Erinnern Sie sich nochmals: Der rechtswidrige Verwaltungsakt kann nach § 48 I 1 VwVfG ohne weitere Voraussetzung zurückgenommen werden. Dieser Konstellation werden Sie in der Klausur wegen ihrer Einfachheit nicht begegnen. Haben Sie es aber mit einem rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakt zu tun, so prüfen Sie die Rücknahmevoraussetzungen des § 48 II VwVfG sofern Sie die Rücknahme eines solchen Geldverwaltungsaktes oder eines auf teilbare Sachleistung gerichteten Verwaltungsaktes überprüfen. Bei sonstigen Verwaltungsakten, prüfen Sie die Anforderungen des § 48 III VwVfG.

3.3.1 Spezieller Vertrauensschutz nach § 48 II VwVfG

Der Vertrauensschutz des § 48 II VwVfG setzt voraus, dass der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interessen an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Ob der Vertrauensschutz durchgreift, prüfen Sie dreistufig:

3.3.1.1 Tatsächliches Vertrauen und deren Schutzwürdigkeit (1.Stufe)

Im ersten Schritt stellen Sie gemäß § 48 II 1 VwVfG fest, ob der Adressat tatsächlich auf den Verwaltungsakt vertraut hat. Ein solches ist zu verneinen, wenn der Begünstigte keine Kenntnis von dem Verwaltungsakt hatte. Da Sie auf einen solchen Fall im Examen nicht stoßen werden, prüfen Sie in jedem Fall die Schutzwürdigkeit des Vertrauens. Die Schutzwürdigkeit des Vertrauens entfällt,  wenn zumindest eine der Ziffern 1-3 des § 48 II S.3 VwVfG durchgreift.

Nach § 48 II 3 Nr.1 VwVfG entfällt die Schutzbedürftigkeit des Vertrauens, wenn der Begünstigte den Verwaltungsakt durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat. Dabei muss das Verhalten des Begünstigten gerade ursächlich für die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes gewesen sein. Dies können Sie sich anhand des Wortlauts „erwirkt hat“ merken, da das Erwirken schon dem Wortsinn nach eine Kausalität bzgl. des Zielobjekts voraussetzt. Die Rechtsprechung bejaht sogar die Zurechnung des Fehlverhaltens eines Vertreters. Entscheidend ist, ob der Vertreter innerhalb der Risikosphäre bzw. des Verantwortungsbereichs des Begünstigten gehandelt hat.

Sofern der Begünstigte den streitgegenständlichen Verwaltungsakt in oben bezeichneter Weise erwirkt hat, so denken Sie daran, dass die Jahresfrist des § 48 IV 1 VwVfG gemäß § 48 IV 2 VwVfG nicht eingreift. Insofern liegt es nahe, dass Klausurersteller auf § 48 II 3 Nr.1 VwVfG hinaus wollen, wenn Probleme der Ausschlussfrist in den Aktenauszug eingebaut sind.

Ferner entfällt der Vertrauensschutz nach § 48 II 3 Nr.2 VwVfG, wenn der Begünstigte den zurückzunehmenden Verwaltungsakt durch Angaben erwirkt hat, die in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig waren. Auch hier finden Sie den Begriff des „Erwirkes“, der Ihnen einen Hinweis für das Kausalitätserfordernis bietet. So liegt auch hier ein Erwirken vor, wenn die fehlerhaften Angaben für die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts ursächlich sind. Ein darüber hinausgehendes ziel- und zweckgerichtetes Handeln ist nach der Rechtsprechung nicht erforderlich. Schließlich gibt es keinen sachlichen Grund das Merkmal des Erwirkens anders als in § 48 II 3 Nr.1 VwVfG auszulegen.

Schließlich kann sich der Begünstigte nach § 48 II 3 Nr.3 VwVfG nicht auf Vertrauen berufen, wenn er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Hier reicht die Kenntnis oder die grob fahrlässige Unkenntnis der die Rechtswidrigkeit begründenden Umstände nicht aus; vielmehr ist entscheidend, ob der Begünstigte nach seiner individuellen Urteils- und Einsichtsfähigkeit (subjektiver Sorgfaltsmaßstab) die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte. Maßgebend ist der individuelle Bildungsstand des Begünstigten. Verwerten Sie für die Beurteilung alle Hinweise (wie den Schulabschluss, behördliche Erfahrungen, Rechtskundigkeit), die Ihnen der Aktenauszug liefert.

3.3.1.2 Regelvermutung des § 48 II S.2 VwVfG (2.Stufe)

Sofern Sie zu dem Ergebnis gelangen, dass die Schutzwürdigkeit des Vertrauens nicht nach § 48 II 3 VwVfG ausgeschlossen ist, kommen Sie zu der Regelvermutung nach § 48 II VwVfG. Die Norm besagt, dass das Vertrauen in der Regel schutzwürdig ist, wenn der Begünstigte gewährte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht oder nur unter erheblichen Nachteilen rückgängig machen kann. Entgegen Ihres Wortlauts als Regelvermutung ist die Vorschrift eng auszulegen. So liegt ein Verbrauch der Leistungen i.S.d. § 48 II 2 1.Var. nur bei sog. Luxusaufwendungen vor. Hat der Begünstigte hingegen Schulden getilgt oder Anschaffungen vorgenommen, die bei bereicherungsrechtlicher Betrachtung noch in seinem Vermögen vorhanden sind, greift die Regelvermutung der Schutzwürdigkeit nicht. Der Begriff der Vermögensdisposition nach § 48 II 2, 2.Var VwVfG ist demgegenüber weitgehender. Hierunter fällt jedes Verhalten, das in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem begünstigten Verwaltungsakt steht und Auswirkungen auf die Vermögenssituation des Begünstigten hat. Diese Disposition ist aber nur dann schutzwürdig, wenn deren Rückgängigmachung unmöglich oder für den Betroffenen unzumutbar ist. Die Unmöglichkeit kann sich z.B. daraus ergeben, dass eingegangene Verpflichtungen nicht mehr rückgängig gemacht werden können (aber beachten Sie die §§ 495, 501, 503 BGB); die Unzumutbarkeit kann daraus resultieren, dass die Rückabwicklung mit erheblichen Verlusten für das individuelle Vermögen des Begünstigten verbunden wäre.

3.3.1.3 Abwägungsentscheidung (3.Stufe)

Auf dritter Stufe führen Sie eine Abwägung zwischen dem Vertrauensschutz des Betroffenen und dem öffentlichen Aufhebungsinteresse durch. Darin liegt ein großer Schwerpunkt Ihrer Klausur. Hierbei setzen Sie die Auswirkungen der Rücknahme für den Begünstigten, die Folgen der Nichtrücknahme für die Allgemeinheit und für Dritte, die Art des Zustandekommens des Verwaltungsakts (hierbei gilt, je förmlicher das Verfahren, desto eher darf der Begünstigte auf den Verwaltungsakt vertrauen), die Schwere der Rechtswidrigkeit und die seit dem Erlass des Verwaltungsaktes verstrichene Zeit ins Verhältnis. Die Rücknahme des Verwaltungsaktes ist auf dieser Stufe nur dann rechtswidrig, wenn die Schutzwürdigkeit des Begünstigten überwiegt. Klausurtaktisch sollten Sie sich in der Regel gegen die Schutzwürdigkeit entscheiden, da unter dem oben genannten Stichwort „Folgen der Nichtrücknahme für die Allgemeinheit und für Dritte“ das gesetzliche Gebot der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit (bei der Ausführung des Haushaltsplans) mit einfließt. Daraus ergibt sich, dass in den Fällen der rechtswidrigen Gewährung im Regelfall das Ermessen nur durch eine Entscheidung zugunsten der Rücknahme fehlerfrei ausgeübt werden kann – sofern nicht schwerwiegende Vertrauensschutzgesichtspunkte dagegen sprechen. Merken Sie sich, dass die Haushaltsgrundsätze in der Regel das Interesse des Begünstigten, die Leistung behalten zu dürfen überwiegen. Diesen Grundsatz des intendierten Ermessens müssen Sie deutlich zum Ausdruck bringen. Häufig liegt in der Klausur gerade kein Ermessensfehler vor, da aufgrund des intendierten Ermessens ohnehin nur die Aufhebungsentscheidung sachlich richtig ist.

3.3.2 Sonstige begünstigende Verwaltungsakte

Die Rücknahme sonstiger begünstigender Verwaltungsakte , die nicht unter § 48 II VwVfG fallen, sind unter § 48 III VwVfG gefasst. § 48 I VwVfG eröffnet ein Ermessen auch bezüglich der sonstigen Verwaltungsakte. Erfasst sind insbesondere sog. statusbegründende Verwaltungsakte wie z.B die Erteilung des Vertriebenenausweises, eines Bauvorbescheids, eines Einbürgerungsbescheides oder gar eines Rückstellungsbescheides. Einzig strittig ist, ob Vertrauensgesichtspunkte i.S.d. § 48 II 2 VwVfG in die Ermessensentscheidung einzustellen sind. Schließlich gewährt § 48 III VwVfG für Verwaltungsakte, die nicht unter § 48 II VwVfG fallen, einen Sekundärausgleich für enttäuschtes Vertrauen. Die heutige Rechtsprechung geht jedoch davon aus, dass auch bei der Rücknahme sonstiger begünstigender Verwaltungsakte im Rahmen der Ermessensentscheidung eine Abwägung zwischen dem Vertrauen und dem öffentlichen Interesse an der Rücknahme jedenfalls dann durchzuführen ist, wenn das schutzwürdige Vertrauen des Begünstigten durch einen bloßen finanziellen Ausgleich nicht angemessen aufgefangen wird. Sie können sich bei der Abwägung an den Kriterien des § 48 II 2 VwVfG orientieren, doch sollten Sie, um Missverständnissen vorzubeugen, nur vom Rechtsgedanken des § 48 II 2 VwVfG – aber keinesfalls von einer Analogie sprechen.

Insbesondere gelten hier die Kriterien der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit bei der Abwägung nicht, da es sich nicht um Geldleistungs- oder sonstige Sachleistungsverwaltungsakte handelt. Damit ist das Ermessen auch nicht intendiert. Sie können damit innerhalb des § 48 III i.V.m. § 48 I VwVfG sowohl zugunsten der Behörde als auch zugunsten des Bürgers entscheiden. –

3.4. Rücknahmefrist (§ 48 II VwVfG)

Die Rücknahme ist ab dem Zeitpunkt der Kenntnisnahme der Tatsachen, die die Rücknahme rechtfertigen, binnen einer Jahresfrist zulässig. Die Rücknahmefrist gilt bei allen begünstigenden Verwaltungsakten, sofern der Verwaltungsakt nicht nach § 48 II 3 Nr.1 VwVfG – insbesondere durch arglistiges Handeln – erwirkt wurde. Die Streitigkeiten zu dieser Vorschrift müssen Sie kennen, Sie sollten sich damit allerdings nicht zu lange aufhalten und sich positionieren. Nachfolgende Schwerpunktsetzung hilft Ihnen dabei.

Zunächst war lange strittig, ob die Vorschrift nur – dem Wortlaut entsprechend- auf Tatsachenfehler anwendbar ist, oder sie sich auch auf Rechtsanwendungsfehler erstreckt. Allerdings hat bereits das BVerwG die Anwendbarkeit des § 48 IV VwVfG auch auf Rechtsanwendungsfehler bejaht, da sich kein wertungsmäßiger Unterscheid zeigt.

Des Weiteren ist der Fristbeginn streitig. Nach der Rechtsprechung beginnt die Frist erst dann zu laufen, wenn die Behörde alle für die Rücknahme maßgeblichen Tatsachen kennt. Das bedeutet, dass die Frist nicht beginnt, bevor die Behörde auch Kenntnis von Tatsachen hat, die für die Gewährung von Vertrauensschutz und die Ermessenserwägungen von Bedeutung sind. Bringen Sie in Ihrer Klausur folgende Schlagwörter: Es handelt sich bei § 48 IV VwVfG nicht um eine nach Kenntnis der Rechtmäßigkeit beginnende Bearbeitungsfrist, die von der Mindermeinung favorisiert wird, sondern um eine nach Aufklärung aller Tatsachen beginnende und bereits anerkannte, behördenfreundliche Entscheidungsfrist. In der Klausur bedeutet das für Sie, dass Sie im Zweifel auf den Eingangszeitpunkt der Stellungnahme im Anhörungsverfahren, welches nach § 28 I VwVfG zu erfolgen hat, zurückgreifen.

Letztendlich ist auch umstritten, wer genau Kenntnis erlangen muss, da die Norm nur pauschal von der „Behörde“ spricht. Die Streitigkeit hat mittlerweile das BVerwG erneut behördenfreundlich dahingehend aufgelöst, dass der jeweils behördeninterne Amtswalter von den oben bezeichneten Tatsachen Kenntnis erlangen muss. Innerhalb der Klausuren ist häufig die Jahresfrist – von dem Eingang bei der Behörde an berechnet – verstrichen. Stellen Sie klar, dass die Entscheidungsfrist erst mit Kenntnisnahme des Amtswalters zu laufen beginnt.

3.5 Ermessen

§ 48 VwVfG eröffnet der Behörde ein Rücknahmeermessen („kann“). Die an § 40 VwVfG auszurichtende Ermessensentscheidung umfasst sowohl das Entschließungsermessen („ob“) als auch das Auswahlermessen („wie“). Berücksichtigen Sie hier die oben genannten Wertungsgesichtspunkte je nachdem, ob es sich um Geld- oder sonstige Sachleistungsverwaltungsakte – oder um die sonstige Verwaltungsakte des § 48 III VwVfG handelt. Wie oben im Kontext der jeweiligen Art des Verwaltungsakts bereits dargestellt, wägen Sie zwischen den privaten Interessen des Betroffenen und den öffentlichen Interessen der Behörde und der Allgemeinheit ab. Denken Sie daran, dass die Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit des öffentlichen Haushalts nur bei Geld- und Sachleistungsverwaltungsakten ein intendiertes Ermessen vorgibt – und machen Sie dies in Ihrer Klausur auch deutlich. Für den Fall, dass Sie eine behördliche Entscheidung zu entwerfen haben, ist entscheidend, dass Sie bei der gemäß § 39 I 3 VwVfG besonders zu begründende Ermessensentscheidung deutlich machen, dass die Behörde ihr Ermessen und die einzustellenden Wertungskriterien erkannt hat. Verdeutlichen Sie auch den Zweck des Rechtsgebiets, aus dessen Bereich der zurückzunehmende Verwaltungsakt stammt, welche Umstände für die Ermessensentscheidung ermittelt wurden und mit welchem Gewicht diese einzustellen sind. Führen Sie diese Abwägung jedoch nicht im Falle des intendierten Ermessens durch, da dann, wie bei den Sachleistungs- und Geldverwaltungsakten das Rücknahmeermessen durch ein gesetzliches Gebot (zB dem Gebot der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit) gelenkt wird.

IV. Widerruf eines Verwaltungsaktes

 1. Anwendbarkeit

Im Gegensatz zu § 48 VwVfG, der die Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte umfasst, regelt § 49 VwVfG den Widerruf rechtmäßiger Verwaltungsakte – sofern es keine Spezialregelungen innerhalb des Fachgebiets gibt, aus dem der zu widerrufende Verwaltungsakt stammt. Ein Rückgriff auf die Norm des § 49 VwVfG ist auch hier zumindest dann blockiert, wenn das Fachrecht eine vollständige Regelung über den Widerruf trifft.

Neben dem Widerruf rechtmäßiger Verwaltungsakte greift § 49 VwVfG nach der Rechtsprechung auch bei rechtswidrig gewordenen Verwaltungsakten ein.

Wie auch bei der Rücknahme, gibt es einige Sondervorschriften, die die Anwendbarkeit des § 49 VwVfG sperren. Im Sozialverwaltungsrecht haben Sie §§ 46, 47 SBG X als vorrangig zu beachten, im Wirtschaftsrecht treffen Sie auf § 15 II, III GastG, die den Widerruf der Gaststättenerlaubnis abschließend klären und § 45 II WaffG regelt abschließend den Widerruf waffenrechtlicher Erlaubnisse. Eine weitere spezielle Widerrufsvorschrift ist in § 21 BImSchG zu finden.

2. Formelle Aufhebungsvoraussetzungen

In formeller Hinsicht prüfen Sie den Ihnen bekannten Dreiklang durch: Die örtliche Zuständigkeit folgt aus § 49 V i.V.m. § 3 VwVfG. Sofern eine sachlich unzuständige Behörde entschieden hat, ist für die Rücknahme die zum Zeitpunkt der Rücknahmeentscheidung tatsächlich zuständige Behörde entscheidungsbefugt. Das Anhörungserfordernis folgt aus § 28 I VwVfG. Bezüglich der Form ergeben sich in der Regel keine Probleme.

3. Materielle Aufhebungsvoraussetzungen

3.1 Rechtmäßiger Verwaltungsakt

Materiell muss der aufzuhebende Verwaltungsakt rechtmäßig sein. Maßgeblich ist, ob der Verwaltungsakt im Zeitpunkt des Erlasses im Einklang mit der Rechtsordnung stand. An dieser Stelle wird von Ihnen eine umfassende Prüfung der Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Sachverhaltes erwartet. Sofern Sie zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kommen – und die Voraussetzungen des § 48 VwVfG nicht vorliegen, was Sie zuvor prüfen müssen – so darf der Verwaltungsakt nach h.M. – über den Wortlaut des § 49 VwVfG hinaus, nach § 49 VwVfG zurücknehmen. Dieses Vorgehen basiert auf einem „Erst-recht-Schluss“. Veranschaulichen Sie sich dies: Die Anforderungen für die Aufhebung eines rechtmäßigen Verwaltungsaktes nach § 49 VwVfG müssen erst recht für einen rechtswidrigen Verwaltungsakt gelten, da es wesentlich untragbarer ist, dass ein solcher bestehen bleibt.

Gern problematisiert wird auch der Fall in dem ein Dauerverwaltungsakt ursprünglich rechtmäßig erlassen wurde, aber aufgrund einer später veränderten Sach- oder Rechtslage rechtswidrig geworden ist. Erinnern Sie sich: Nach h.M ist für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage der Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes maßgeblich. Deswegen können Sie die bundesverwaltungsgerichtliche Meinung, die auch von Teilen der Literatur vertreten wird, ablehnen, die davon ausgeht, dass der Dauerverwaltungsakt ab dem Zeitpunkt der veränderten Sach- oder Rechtslage rechtswidrig wird, wodurch die Anwendbarkeit des § 48 VwVfG eröffnet sei. Nach anderer Auffassung ist der rechtswidrig gewordene Dauerverwaltungsakt unter § 49 II Nrn. 3, 4, III VwVfG zu fassen.

3.2 Begünstigender Verwaltungsakt

Der aufzuhebende Verwaltungssakt wird in der Klausur immer begünstigend sein, da Sie ansonsten nach § 49 I VwVfG, der keine Klausurprobleme aufwirft, vorgehen müssten. Ziehen Sie auch hier die Legaldefinition des § 48 I 2 VwVfG heran: Ein Verwaltungsakt ist begünstigend, wenn er ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt. Beurteilen Sie die Begünstigung nach dem objektiven Regelungsgehalt des Verwaltungsaktes unter Berücksichtigung des Zwecks der ihm zugrunde liegenden Norm.

3.3 Vorliegen eines Widerrufsgrundes

Die Widerrufsgründe sind in §§ 49 II und III VwVfG enthalten. Auch § 49 VwVfG unterscheidet zwischen Verwaltungsakten, die eine Geld- oder teilbare Sachleistung zur Erfüllung eines bestimmten Zwecks gewähren oder hierfür Voraussetzung sind (§ 49 III VwVfG) und sonstigen Verwaltungsakten (§ 49 II VwVfG). Beachten Sie, dass rechtmäßige Verwaltungsakte nur für die Zukunft widerrufbar sind, sofern es sich nicht um Geldleistungsverwaltungsakte handelt. Nur Letztere können unter den Voraussetzungen des § 49 III VwVfG auch für die Vergangenheit widerrufen werden. Aus diesem Grund ist gerade der Widerruf von Geldleistungsverwaltungsakten für die Vergangenheit besonders examensrelevant.

Zusammengefasst ist ein begünstigender, ursprünglich rechtmäßiger Verwaltungsakt nach § 49 II 1 VwVfG  widerrufbar, wenn er einen Widerufsvorbehalt enthält (Nr.1), der Begünstigte eine Auflage nicht erfüllt hat (Nr.2), sich die Sachlage (Nr.3) oder die Rechtslage (Nr.4) geändert hat oder schwere Nachteile für das Gemeinwohl zu verhüten oder zu beseitigen sind (Nr. 5). Soll ein Verwaltungsakt hingegen (auch) für die Vergangenheit widerrufen werden (§ 49 III 1 VwVfG), muss es sich zusätzlich um einen Geldleistungs- oder teilbaren Sachleistungsverwaltungsakt handeln und der begünstigte muss die Mittel entweder zweckwidrig verwendet haben (Nr.1) oder eine Auflage nicht erfüllt haben (Nr.2).

3.3.1 Widerrufsgründe des § 49 II VwVfG (Widerruf für die Zukunft)

Der Widerufsvorbehalt nach § 49 II 1 Nr.1 VwVfG ist deswegen der klausurrelevanteste Widerrufsgrund, weil der Widerrufsvorbehalt eine Nebenbestimmung i.S.d. § 36 VwVfG ist und Sie dessen Rechtmäßigkeit inzident überprüfen müssen. Sehr klausurrelevant ist die Zulässigkeit des Widerrufs bei einem rechtswidrigen Widerrufsvorbehalt. Beachten Sie, dass mit der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts der Widerruf auch aufgrund eines rechtswidrigen Widerrufsvorbehalt möglich ist, wenn der Verwaltungsakt bereits unanfechtbar geworden ist. Der Hintergrund dieser Überlegung ist, dass der Widerrufsvorbehalt mit der Unanfechtbarkeit eine Tatbestandswirkung entfaltet. Allerdings steht es Ihnen frei, die Rechtswidrigkeit des Widerrufsvorbehalts bei der Ermessensausübung zugunsten des Adressaten zu berücksichtigen. Ist der Verwaltungsakt hingegen zum Zeitpunkt des Widerrufs noch anfechtbar, so kommt es konsequenterweise auf die Rechtmäßigkeit des Widerrufs an.

Im Rahmen des Widerrufsvorbehalts kommt auch der angekündigte „Erst-Recht-Schluss“ zur Anwendung. Mit dem „Erst-Recht-Schluss“ argumentieren Sie dann, wenn es um die Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte geht, sie also eigentlich die Voraussetzungen des § 48 VwVfG prüfen müssten. Da § 48 VwVfG aber den Widerrufsvorbehalt als Rücknahmegrund gerade nicht vorsieht, das Interesse an der Aufhebung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes aber höher ist als an der Aufhebung eines rechtmäßigen Verwaltungsaktes, dürfen Sie im „Erst-Recht-Schluss“ auf § 49 II 1 Nr.1 VwVfG zurückgreifen.

Ferner kann ein begünstigender Verwaltungsakt widerrufen werden, wenn er mit einer Auflage verbunden worden ist und der Begünstigte diese nicht oder nicht innerhalb einer gesetzten Frist erfüllt hat, § 49 II 1 Nr.2 VwVfG. Auch hier prüfen Sie zunächst die Rechtmäßigkeit der Auflage anhand der Maßstäbe des § 36 VwVfG und beachten insbesondere das Koppelungsverbot nach § 36 II VwVfG. Innerhalb der Ermessensprüfung müssen Sie im Rahmen der Erforderlichkeit darauf zu sprechen kommen, dass die Behörde die Durchsetzung der Auflage zunächst als weniger einschneidendes Mittel versuchen muss. Im Rahmen der Angemessenheit ist zudem der Widerruf unverhältnismäßig, wenn eine relativ unwichtige Auflage nicht erfüllt worden ist.

Bei veränderter Sachlage kommt ein Widerruf nach § 49 II 1 Nr.3 VwVfG in Betracht. An dieser Stelle müssen Sie die Frage aufwerfen, ob die Behörde aufgrund der nachträglich eingetretenen Tatsachen berechtigt wäre, den Verwaltungsakt nicht zu erlassen. Das bedeutet, dass die Behörde bei nunmehr bekannter Sachlage – bei gebundenen Verwaltungsakten verpflichtet, und bei Ermessensverwaltungsakten berechtigt – wäre, den Verwaltungsakt nicht zu erlassen. Dieser Widerrufsgrund findet häufig Anwendung, wenn ein Erlaubnisinhaber nach Erlaubniserteilung wegen einer Straftat verurteilt worden ist.

Demgegenüber bezieht sich § 49 II 1 Nr.4 VwVfG auf eine geänderte Rechtslage. Darunter wird die Änderung des geschriebenen Rechts, nicht aber die veränderte Auslegung einer unveränderten Regelung durch die Rechtsprechung oder die behördliche Auslegungspraxis gefasst. Insofern begründet auch die Auslegung von Verwaltungsvorschriften keine Änderung der Rechtslage. Jedoch fordert § 49 II 1 Nr.4 VwVfG, dass der Begünstigte von der Vergünstigung noch keinen Gebrauch gemacht oder aufgrund des Verwaltungsaktes noch keine Leistungen empfangen hat. Zudem muss nach § 49 II 1 Nr.4 VwVfG ohne den Widerruf des begünstigenden Verwaltungsaktes eine Gefährdung des öffentlichen Interesses drohen. Das bedeutet, dass der Widerruf zur Beseitigung oder Verhinderung eines andernfalls drohenden Schadens für den Staat, die Allgemeinheit oder anderweitig geschützte Rechtsgüter erforderlich sein muss.

Letztendlich ist ein Widerruf auch zulässig, um schwere Nachteile für das Gemeinwohl zu verhüten oder zu beseitigen, § 49 II 1 Nr.5 VwVfG. Hierbei handelt es sich jedoch lediglich um einen wenig examensrelevanten Tatbestand. Bei Bedarf können Sie die Anforderungen in einem Kommentar nachlesen.

Beachten Sie bei den Tatbeständen des § 49 II 1 Nr.1-3 VwVfG, dass § 49 II 2 VwVfG auf die Jahresfrist des § 48 IV VwVfG verweist. Denken Sie daran, dass die Frist erst zu laufen beginnt, wenn der jeweilige Amtswalter alle für die Rücknahme maßgebliche Tatsachen kennt. In der Regel stellen Sie in der Klausur auf den Eingang der Stellungnahme im Anhörungsverfahren ab.

 3.3.2 Widerrufsgründe des § 49 III VwVfG (Widerruf für die Vergangenheit)

§ 49 III VwVfG beinhaltet ausschließlich Widerrufsgründe für die Aufhebung von Geld- oder Sachleistungsverwaltungsakten. Ausschließlich Geld-und Sachleistungsverwaltungsakte sind auch für die Vergangenheit – also rückwirkend – widerrufbar, sofern die Voraussetzungen des § 49 III VwVfG erfüllt sind.

Nach § 49 III 1 VwVfG Nr.1 VwVfG besteht ein Widerrufsgrund darin, dass eine Leistung nicht oder nicht alsbald nach der Erbringung oder aber nicht mehr für den im dem Verwaltungsakt bestimmten Zweck verwendet wird. Merken Sie sich, dass es auf ein Verschulden nicht ankommt. Das Oberverwaltungsgericht Münster urteilte im Jahre 2003, dass die Entscheidung zulasten des Subventionsempfängers ausgeht, wenn nicht nachgewiesen werden konnte, dass die Mittel zweckentsprechend verwendet wurden.

Des Weiteren ist ein Widerruf eines begünstigenden Verwaltungsaktes nach § 49 III Nr.2 VwVfG möglich, wenn ein Verwaltungsakt mit einer Auflage verbunden ist, die der Begünstigte nicht oder nicht fristgerecht erfüllt hat. Orientieren Sie sich hier an dem zur Nichterfüllung einer Auflage gemäß § 49 II 1 Nr.2 VwVfG Gesagten. Häufig wird an dieser Stelle ein Zusatzproblem eingebaut. So enthält häufig nicht der Zuwendungsbescheid selbst sondern ein zusätzlich geschlossener öffentlich-rechtlicher Vertrag zwischen der Zuwendungsbehörde und dem Begünstigten die Auflage(n). Beispielsweise kann in diesem öffentlich-rechtlichen Vertrag die Verpflichtung enthalten sein, dass die Zuwendungen zurückzuzahlen sind, wenn gegen die Bestimmungen des Vertrages einschließlich konkreter Bewirtschaftungsauflagen verstoßen wird. In einem solchen Fall müssen Sie klären, ob die Vereinbarung wirksam ist und daher die Wirksamkeit des öffentlich-rechtlichen Vertrag es gemäß §§ 54 ff. VwVfG überprüfen (Vorliegen eines öffentlich-rechtlichen Vertrages, Schriftform, keine Nichtigkeit nach § 59 VwVfG).

Auch bei dem Widerruf nach § 49 III 1 Nr.1 oder Nr.2 VwVfG haben Sie die Jahresfrist des § 48 II VwVfG nach § 49 II 2 VwVfG zu beachten.

3.4 Ermessen

Auch § 49 VwVfG eröffnet der Behörde einen Ermessensspielraum. Im Rahmen der Ermessenserwägungen wägen Sie zwischen dem Interesse am Fortbestand des Verwaltungsaktes und den Widerrufsgründen ab. Argumente für beide Waagschalen werden Sie in Ihrem Aktenauszug reichlich finden. Der Korrektor will insbesondere sehen, dass Sie in der Lage sind, auf alle Argumente gekonnt einzugehen und diese sinnvoll ins Verhältnis zu setzen. Wie bei der Rücknahme von Sach- oder Geldleistungsverwaltungsakten nach § 48 II VwVfG ist bei dem Widerruf dieser das Ermessen wegen der haushaltsrechtlichen Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zugunsten einer Aufhebungsentscheidung reduziert. Insofern besteht wieder intendiertes Ermessen zugunsten der Aufhebungsentscheidung, was Sie auch zum Ausdruck bringen müssen. Nur ausnahmsweise ist die Aufhebung unverhältnismäßig, etwa, wenn der Pflichtverletzung nur ein geringes Gewicht zukommt oder die wirtschaftliche Existenz des Begünstigten nachweislich (!) gefährdet ist. Dann ist die Aufhebung ggf. auf gewisse Zeiträume zu beschränken. Merken Sie sich auch Folgendes: Die Nichterfüllung einer bloß geringfügigen Auflage rechtfertigt nicht den Widerruf des Verwaltungsaktes.

Viel Erfolg im Examen.

 

Vielen Dank, dass Sie diesen Beitrag gelesen haben. Wir hoffen, dass er Ihnen weiterhelfen oder zumindest Ihr Interesse wecken konnte. Hier finden Sie den Beitrag Aufhebung von Verwaltungsakten auf unserer Website Jura Individuell.

Prüfung der Verfassungsbeschwerde

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Kurzschema zur Prüfung einer Verfassungsbeschwerde (Zulässigkeit) mit Obersatz der Begründetheit:

A. Zulässigkeit

I. Zuständigkeit

Das BVerfG entscheidet in Verfassungsbeschwerden gem. Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerGG

II. Beschwerdeführer, Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG

1. Beschwerdefähigkeit– „Jedermann“, Grundrechtsfähigkeit ist entscheidend
2. Prozessfähigkeit– Einsichtsfähigkeit und Reife, gesetzlich nicht geregelt, nach BVerfG ist die Grundrechtsfähigkeit entscheidend

III. Beschwerdegegenstand, § 90 I BVerfGG

„Akt öffentlicher Gewalt“– Rechtsschutzverfassungsbeschwerde
Urteilsverfassungsbeschwerde (nur spezifische Verfassungsrecht, keine Überprüfung falscher Anwendung einfachen Rechts)
– Einzelaktsverfassungsbeschwerde

IV. Beschwerdebefugnis, § 90 I BVerfGG

Grundrechtsverletzung muss möglich sein
-Beschwerdeführer muss selbst (er als Adressat), unmittelbar (es bedarf keines weiteren Vollzugsaktes) und gegenwärtig (schon oder noch) betroffen sein -> Beschwer

IV. Rechtswegerschöpfung / Subsidiarität

– § 90 II 1 BVerfGG, Grundsatz der Rechtswegerschöpfung, Ausnahme: § 90 II 2 BVerfGG
– BVerfGG Grundsatz der Subsidiarität, Ausnahme: § 90 II 2 BVerfGG analog

V. Frist

– § 93 I BVerfGG: Monat
– § 93 III BVerfGG: Jahr

VI. Form

– §§ 23 I, 92 BVerfGG

B. Begründetheit

Obersatz:

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn der Hoheitsakt tatsächlich Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte verletzt, § 95 I BVerfGG.

 

Jura- Individuell- Hinweis: Ein ausführlicher Artikel zu diesem Thema mit den Schritten der Begründetheitsprüfung ist unter Musteraufbau Verfassungsbeschwerde zu finden.

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Öffentliches Baurecht –Überblick

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Was ist öffentliches Baurecht? Als Student wird man erstmals im Rahmen der Vorlesungen zum besonderen Verwaltungsrecht mit Baurecht konfrontiert, es ist sehr klausur- und examensrelevant, vergeht doch nahezu bundesweit kein Examenstermin ohne Baurecht. Doch was genau ist es, das öffentliche Recht? Dieser Artikel soll einen ersten Überblick über diese Thematik verschaffen.

A. Allgemeines – Abgrenzung zum privaten Baurecht

In der Bundesrepublik Deutschland handelt es sich beim öffentlichen Baurecht um ein Teilgebiet des öffentlichen Rechts, genauer gesagt des besonderen Verwaltungsrechts. Es umfasst die Rechtsvorschriften, die Art und Maß der baulichen Nutzung des Bodens betreffen. Es wird durch den Gesetzgeber versucht das Bauen in einem gesetzlich festgelegtem Rahmen zu reglementieren. Es werden Belange normiert, auf die der Einzelne bei der Verwirklichung seines Bauvorhabens Rücksicht nehmen muss. Dabei legt das öffentliche Baurecht fest, wo gebaut werden darf und wie gebaut werden darf. So werden in den  §§ 30 ff. BauGB beispielweise verschiedene Baubereiche normiert: Im Geltungsbereich eines Bebauungsplans nach § 31 BauGB, im unbeplanten Innenbereich nach § 34 BauGB oder im Außenbereich nach § 35 BauGB. Daneben gibt es noch das private Baurecht, dieses umfasst den Interessenausgleich privater Grundstückseigentümer untereinander und das Bauvertragsrecht. Das private Baurecht bemisst sich nahezu ausschließlich an den Normen des BGB. In Betracht kommen diesbezüglich hauptsächlich der Bereich des Sachenrechts (§§ 854 ff. BGB) sowie des Werkvertragsrechts (§§ 631 ff. BGB). Privates und öffentliches Baurecht stehen grundsätzlich eigenständig nebeneinander. Im Rahmen eines baurechtlichen Genehmigungsverfahrens wird daher stets nur die Übereinstimmung des geplanten Vorhabens mit den öffentlich-rechtlichen Vorschriften geprüft. Privatrechtliche Vorschriften gehören hingegen nicht zum Prüfungsmaßstab des öffentlich-rechtlichen Baugenehmigungsverfahrens. Eine Baugenehmigung kann daher nicht wegen entgegenstehender privater Rechte nicht erteilt werden!

B. Bauplanungs- und Bauordnungsrecht

Was genau ist unter der / dem oben angesprochenen Art und Maß der baulichen Nutzung des Bodens zu verstehen? Unter diesem Oberbegriff lassen sich die Zulässigkeit, Grenzen, Ordnung und Förderung des baulichen Nutzung von Grund und Boden subsumieren. Das öffentliche Baurecht lässt sich diesbezüglich in Bauplanungsrecht und Bauordnungsrecht unterscheiden. Dabei wird das Bauplanungsrecht auch Städtebaurecht genannt.

1. Bauplanungsrecht / Städtebaurecht

Das Bauplanungsrechts ist Bundesrecht und überwiegend im BauGB geregelt, die Bundeskompetenz ergibt sich aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 18 GG, das Grundgesetz spricht hier vom sog. Bodenrecht. Weitere relevante Bundesgesetze sind die Baunutzungsverordnung (BauNVO) und das Raumordnungsgesetz (ROG). Inhalt des Bauplanungsrechts ist die Festlegung der rechtlichen Qualität des Bodens und dessen Nutzbarkeit: Es normiert die flächenbezogenen Anforderungen eines Bauvorhabens, indem es das einzelne Bauvorhaben im größeren, städtebaulichen Zusammenhang betrachtet. Es wird geregelt, wie die städtebauliche Ordnung aussehen soll, wie diese rechtlich sichergestellt werden kann und wie sich jedes einzelne Bauvorhaben darin einfügt. Sinn und Zweck des Bauplanungsrechts ist die Gewährleistung einer geordneten städtebaulichen Entwicklung. Das Bauplanungsrecht bestimmt dabei insbesondere die planerischen Voraussetzungen für die Bebauung und Nutzung von Grundstücken. Es wird festgelegt, ob gebaut werden darf, was gebaut werden darf, wie viel gebaut werden darf und welche Nutzung das fertige Bauvorhaben haben darf. Es wird somit die rechtliche Qualität des Bodens bestimmt. Dies wird im BauGB sichergestellt durch

  • das Recht der Bauleitplanung (§§ 1-13a BauGB)
  • die Sicherung der Bauleitplanung (§§ 14-28 BauGB)
  • Vorschriften hinsichtlich baulicher und sonstiger Nutzung (§§ 29-38 BauGB).

Daneben sind in der BauNVO die maßgeblichen Vorschriften über die Darstellung und Festsetzung in den Bauleitplänen enthalten. Jura-Individuell-Hinweis: BauGB und BauNVO sind die maßgeblichen Vorschriften für die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit eines Bauvorhabens. Als kleine Hilfestellung kann man sich daher neben § 9a Nr. 1 BauGB die BauNVO kommentieren.

2. Bauordnungsrecht

Das Bauordnungsrecht ist Landesrecht, die Landeskompetenz ergibt sich aus Art. 30, 70 GG. Die einzelnen Bundesländer haben es z.B. in der Bayerischen Bauordnung (BayBO), der Landesbauordnung Baden-Württemberg (LBO), der Bauordnung von Berlin (BauOBln), der Hessischen Bauordnung (HbauO), der Sächsischen Bauordnung (SächsBO) etc. umgesetzt. Das Bauordnungsrecht ist im Gegensatz zum Bauplanungsrecht objektbezogen und betrifft die einzelne bauliche Anlage. Gegenstand des Bauordnungsrechts sind die „technischen“ Anforderungen baulicher Vorhaben. Die Landesbauordnungen enthalten daher Vorschriften über das Baugenehmigungsverfahren, bauliche Gestaltungsvorschriften (z.B. zur Erstellung von Flächennutzungsplänen oder Bebauungsplänen), Instandhaltungspflichten, Handlungsverpflichtungen bei von Gebäuden ausgehenden gefährlichen oder rechtswidrigen Zuständen sowie Vorschriften zu Errichtung, Änderungen oder Abbruch baulicher Anlagen. Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass sich das Bauordnungsrecht mit dem „Wie“ des Bauens beschäftigt. Sinn und Zweck ist dabei die Gefahrenabwehr sowie die Sicherung ästhetischer und sozialer Aspekte. Daher wird das Bauordnungsrecht teilweise auch als Baupolizeirecht bezeichnet.

3. Zusammenhänge zwischen Bauplanungs- und Bauordnungsrecht

Privates und öffentliches Baurecht lassen sich – im Gegensatz zu öffentlichem und privaten Baurecht – nicht getrennt voneinander betrachten. Sie stehen zwar selbständig nebeneinander, die Grenzen sind jedoch fließend: Betrachtet man diesbezüglich beispielsweise Art. 68 Abs. 1 S. 1 BayBO, so ist eine Baugenehmigung zu erteilen, sofern dem Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften widersprechen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Es ist damit also sowohl das Bauordnungs- als auch das Bauplanungsrecht gemeint. Neben der Art eines baulichen Vorhabens ist im Genehmigungsverfahren stets auch die Vereinbarkeit mit mit den bauplanungsrechtlichen Vorschriften der §§ 29-38 BauGB zu prüfen.

4. Zusammenspiel mit anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften

Neben dem BauGB und den einzelnen landesrechtlichen Vorschriften können in baurechtlichen Klausuren oder Hausarbeiten auch andere öffentlich-rechtliche Vorschriften relevant werden. In Betracht kommt z.B. das Naturschutzrecht, Wasserrecht oder der Denkmalschutz. Ebenso sich verfassungsrechtliche Vorschriften zu beachten: Hier ist zunächst an Art. 14 I S. 1 GG zu denken, dieser Artikel garantiert einem Grundstücksbesitzer die Herrschafts- und Nutzungsfreiheit über sein Grundstück, welche auch die Freiheit umfasst, den eigenen Grund und Boden zu nutzen, sprich zu bebauen. Dieses Recht erfährt durch das öffentliche Baurecht Schranken, vgl. Art. 14 I Satz 2 GG.

5. Übersicht

Übersicht Öff BauR - Grafik

C. Klausurrelevante Konstellationen

Baurecht als Teil des öffentlichen Rechts ist extrem klausur- und vor allem auch examensrelevant. Beliebte Konstellationen sind diesbezüglich:

  • Der Streit um eine Baugenehmigung: A beantragt eine Baugenehmigung, sein Antrag wird jedoch abgelehnt. Daher erhebt er Verpflichtungsklage gem. § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO auf Erteilung der Genehmigung. Sein Antrag hat gem. § 113 Abs. V VwGO Aussicht auf Erfolg, wenn die gewünschte Baugenehmigung zu erteilen ist.
  • Die Nachbarklage: A erhält die beantragte Baugenehmigung. Nachbar N ficht diese jedoch mittels einer Anfechtungsklage gem. § 42 Abs. 1 Alt 1 VwGO an. Seine Klage hat wiederum Aussicht auf Erfolg, wenn die Baugenehmigung rechtswidrig erteilt wurde und N dadurch in seinen Rechten verletzt ist, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
  • Der Streit um einen Bebauungsplan: Gemeinde S erlässt einen Bebauungsplan. A ist diesbezüglich empört, da nach diesen Vorgaben sein seit langem geplanten Bauvorhaben rechtlich unzulässig wird. Er kann mittels einer Normenkontrolle nach § 47 VwGO dagegen vorgehen.

Sämtliche Konstellationen lassen sich auch im Wege des einstweiligen Rechtschutzes nach §§ 80, 80a oder 123 VwGO in Klausuren einbauen. Oftmals wird dabei z.B. die Überprüfung der Rechtmäßigkeit eines Bebauungsplans inzident zu prüfen sein. Jura-Individuell-Tipp: Am besten lässt sich das Baurecht anhand der gesetzlichen Bestimmungen erarbeiten und erlernen. Arbeiten Sie daher eng am Gesetz und lesen Sie die angesprochenen Normen und Artikel nach!

D. Relevante Baurechtsnormen – schematischer Überblick

BauR Schema

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Die planungsrechtliche Lage eines Grundstücks nach dem BauGB

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Nach den Regelungen des BauGB können Grundstücke innerhalb verschiedener „Gebietstypen“ liegen, man spricht diesbezüglich von der planungsrechtlichen Lage eines Grundstücks. Die richtige Einordnung einer Grundstücks, welches bebaut werden soll, spielt insbesondere bei der Erteilung einer Baugenehmigung eine große Rolle: Anhand der planungsrechtlichen Lage wird bestimmt, ob ein Bauvorhaben dort zulässig ist.

I. Die verschiedenen Gebietstypen

Es wird zwischen den folgenden drei Gebieten unterschieden:

1. Bebauungsplangebiet

Darunter fallen alle Gebiete, für die bereits einen Bebauungsplan erlassen wurde. Der Bebauungsplan kann sich dabei auch noch in der Planaufstellung befinden, vgl. § 33 BauGB. Dann ist dieser bereits formell und materiell planreif, jedoch aus unterschiedlichen Gründen noch nicht wirksam.

Man unterscheidet drei verschiedene Arten von Bebauungsplänen:

a) Der qualifizierte Bebauungsplan nach § 30 Abs. 1 BauGB:

Bei qualifizierten Bebauungsplan sind Festsetzungen hinsichtlich

  • Art und Maß der baulichen Nutzung eines Grundstücks
  • der überbaubaren Grundstücksflächen
  • der örtlichen Verkehrsflächen

getroffen worden. Darüber hinaus ist die Erschließung gesichert.

b) Der vorhabenbezogene Bebauungsplan nach Art. 30 Abs. 2 BauGB

Ein vorhabenbezogener Bebauungsplan wird entwickelt, wenn bereits konkrete Pläne für eine Bebauung durch einen Bauherren vorhanden sind. Die zuständige Gemeinde entwickelt dann anhand der Pläne für das zu bauende Vorhaben und auf Grundlage von § 12 BauGB mit dem Bauherren einen sog. „Vorhaben- und Erschließungsplan“. Der vorhabenbezogene Bebauungsplan enthält dann die entsprechenden Festsetzungen. Darüber muss ist die Erschließung gesichert sein.

c) Der einfache Bebauungsplan nach Art. 30 Abs.3 BauGB

Bei einem einfachen Bebauungsplan fehlen die Voraussetzungen für einen qualifizierten Bebauungsplan (d.h. keinerlei Festsetzungen hinsichtlich Art und Maß der baulichen Nutzung etc.), das Bauvorhaben ist nur nach Maßgabe der §§ 34, 35 BauGB zulässig, je nachdem ob das zu bebauende Grundstück im Innen- oder Außenbereich liegt.

2. Innenbereich nach § 34 BauGB

Als Innenbereich werden Gebiete bezeichnet, die aus im Zusammenhang bebauten Ortsteilen bestehen und nicht durch einen qualifizierten oder vorhabenbezogenen Bebauungsplan überplant sind. Hier darf grundsätzlich gebaut werden.

Ein im Zusammenhang bebauter Ortsteil ist dabei jede Bebauung, die trotz eventuell vorhandener Baulücken den Eindruck der Geschlossenheit und Zusammengehörigkeit erweckt, nach Anzahl der vorhandenen Bauten ein gewisses städtebauliches Gewicht besitzt und Ausdruck einer organischen Siedlungsstruktur ist.

Jura Individuell Tipp: Lernen Sie diese Definition am besten auswendig!

Der Innenbereich ist insoweit von sog. „Splittersiedlungen“ abzugrenzen, die keinen Anknüpfungspunkt für eine städtebauliche Weiterentwicklung bieten.

3. Außenbereich nach § 35 BauGB

Der Außenbereich ist grds. alles was nicht in den Geltungsbereich eines Bebauungsplan oder in den Innenbereich fällt. Das Bauen ist im Außenbereich grds, nicht gestattet (vgl. BVerwG Urteil vom 30.06.1964 – I C 80.62).

II. Überblick

1. Die verschiedenen Gebietstypen im Überblick

Planungsrechtl. Lage eines Grundstücks

2. Prüfungsreihenfolge nach Bauplanungsrecht

Prüfschema 29 ff. BauGB

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Anspruch auf Erteilung einer Baugenehmigung nach Art. 68 Abs. 1 S. 1 BayBO

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Vorbemerkung:

Als mögliche Anpruchsgrundlagen für die Erteilung einer Baugenehmigung kommen in Betracht:

Hauptfall in der Klausur ist der Anspruch aus Art. 68 Abs. 1 S. 1 BayBO, wonach eine Baugenehmigung zu erteilen ist, sofern dem Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen sind (Jura-Individuell-Tipp: Norm lesen!).

Im folgenden Schema wird daher die Prüfung dieses Anspruchs schematisch dargestellt.

A. Genehmigungsbedürftigkeit / Genehmigungspflicht, Art. 55 Abs. 1 BayBO

I.   Anlage i.S.v. Art. 2 Abs. 1 S. 4 BayBO

II. Errichtung, Änderung oder Nutzungsänderung i.S.v. Art. 55 Abs. 1 BayBO

III. keine Ausnahme, v.a. nicht

  • Verfahrensfreies Vorhaben nach Art. 57 BayBO
  • Genehmigungsfreistellung nach Art. 58 BayBO

Jura-Individuell-Tipp:

  • Über das Wort „Anlage“ in Art. 55 Abs. 1 BayBO den Art. 2 Abs. 1 S. 4 BayBO kommentieren!
  • Einmal den Katalog der Art. 57, 58 BayBO genannten verfahrensfreien, bzw. der von der Genehmigung freigestellten Verfahren komplett durchlesen.

B. Formelle Anforderungen, Art. 64, 65 BayBO

I.   Ordnungsgemäßer Bauantrag nach Art. 64 BayBO

  • schriftlich
  • bei der zuständigen Behörde (Art. 53, 54 BayBO → inzident schon bei der Passivlegitimation zu prüfen!)
  • gleichzeitige Einreichung von Bauvorlagen (Art. 64 Abs. 2 BayBO, BauVorlV)
  • Unterzeichnung durch Bauherrn/-herrin und Entwurfsverfasser/-in (Art. 54 Abs. 4, 50,51 BayBO)
  • Rechtsfolge bei Unvollständigkeit oder erheblichen Mängeln: Art. 65 Abs. 2 BayBO!

II.  Ggf. Antrag auf Abweichungen nach Art. 63 Abs. 2 S. 1 BayBO

III. Ordnungsgemäße Nachbarbeteiligung nach Art. 66 BayBO

C. Materielle Voraussetzungen / Genehmigungsfähigkeit, Art. 68 Abs. 1 S. 1 HS 1 BayBO

  • kein Entgegenstehen von im Genehmigungsverfahren zu prüfenden Vorschriften
  • u.U. Erweiterung des Prüfungsmaßstabs durch die Baugenehmigungsbehörde nach Art. 68 Abs. 1 S. 1 HS 2  BayBO

I. Prüfungsmaßstab nach Art. 59 ff. BayBO

oder

Jura-Individuell-Tipp: Einmal den Art. 2  Abs. 4 BayBO in aller Ruhe durchlesen, um für die einzelnen „Sonderbauten“ ein Gespür zu entwickeln!

II. Bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens nach Art. 59 S. 1 Nr. 1  BayBO bzw. Art. 60 S. 1 Nr. 1 BayBO i.V.m. §§ 29 – 38 BauGB

1. Kein Vorliegen einer Veränderungssperre (§§ 14, 16 ff. BauGB) oder einer Zurückstellung (§ 15 BayBO)

→ trotz fehlenden Nennung in Art. 59 f. BayBO, da sich die §§ 14 ff. BauGB direkt auf die Prüfung von §§ 29ff. BauGB auswirken!

2. Vorhaben im bauplanungsrechtlichen Sinne:

Errichtung, Änderung oder Nutzungsänderung einer baulichen Anlage planungsrechtlicher Art (= dauerhaft mit dem Boden verbundene Anlage mit bodenrechtlicher Relevanz; bodenrechtliche Relevanz = wenn Aspekte betroffen sind, die bei der städtebaulichen Entwicklung zu berücksichtigen sind)

3. Einordnung des geplanten Vorhabens in die verschiedenen Gebietstypen des BauGB (§§ 30, 34, 35 BauGB)

a) Qualifizierter Bebauungsplan, §§ 30 Abs. 1, 31 BauGB

aa) Festsetzungen über Art / Maß der Bebauung, überbaubare Grundstücksflächen, örtl. Verkehrsflächen

bb) Wirksamkeit des Bebauungsplans (u.U. Inzidentprüfung des Bebauungsplans erforderlich)

cc) Vereinbarkeit des Vorhabens mit den Festsetzungen / Befreiung / Ausnahme nach §§ 30 Abs. 1, 31 BauGB

dd) keine besondere Unzulässigkeit des Vorhabens im Einzelfass nach § 15 BauGB

b) Vorhabenbezogener Bebauungsplan, § 30 Abs. 2 BauGB

aa) Vorliegen eines vorhabenbezogenen Bebauungsplans i.S.v. § 12 BauGB

bb) Vorhaben entspricht den Festsetzungen / Ausnahme / Befreiung nach §§ 30 Abs. 2, 31 BauGB

cc) Erschließung gesichert, § 30 Abs. 2 BauGB

c) Einfacher Bebauungsplan, § 30 Abs. 3 BauGB

aa) Festsetzungen über Art und Maß der Bebauung

bb) Wirksamkeit des einfachen Bebauungsplans (u.U. Inzidentprüfung des Bebauungsplans erforderlich)

cc) Vereinbarkeit des Vorhabens mit den vorhandenen Festsetzungen / Ausnahmen / Befreiung

dd) soweit keine Festsetzungen vorhanden sind: Voraussetzungen nach §§ 34, 35 BauGB je nach Lage des zu bebauenden Grundstücks

d) Unbeplanter Innenbereich, § 34 BauGB

aa) Im Zusammenhang bebauter Ortsteil

= organische Siedlungsstruktur mit Bebauungszusammenhang; prägende Wirkung durch Eindruck der Geschlossenheit und Zusammengehörigkeit; Abgrenzung zur Splittersiedlung)

bb) Einfügen des Vorhabens in die Eigenart der näheren Umgebung, § 34 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 BauGB

  •  Nähere Umgebung
  • Eigenart dieser Umgebung
  • Einfügen des Vorhabens in den durch diese Eigenart vorgegebenen Rahmen

⇒ wenn Umgebung einem Baugebiet nach BauNVO entspricht, Beurteilung hinsichtlich der Art der baul. Nutzung allein nach BauNVO (aber Ausnahmen und Befreiungen möglich), § 34 Abs. 2 BauGB

cc) Wahrung der Anforderungen an gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse, § 34 Abs. 1 Satz 2, HS 1 BauGB / keine Beeinträchtigung des Ortsbildes, § 34 Abs. 1 Satz 2, HS 2 BauGB

dd) Erschließung gesichert, § 34 I 1 BauGB

e) Unbeplanter Außenbereich, § 35 BauGB

aa) Privilegierte Vorhaben nach § 35 Abs. 1 BauGB

  • Vorhaben entspricht § 35 Abs. 1 Nr. 1- 7 BauGB
  • kein Entgegenstehen öffentlicher Belange (insb. § 35 Abs. 3 BauGB)
  • Erschließung gesichert

bb) Sonstiges Vorhaben nach § 35 Abs. 2 BauGB

  • keine Beeinträchtigung öffentlicher Belange nach § 35 Abs. 3 S. 1 Nr. 1-8 BauGB
  • teilprivilegierte Vorhaben nach § 35 Abs. 4 BauGB
  • Erschließung gesichert
  • kein Ermessen (trotz Wortlaut; Art. 14 GG)
f) Planaufstellung, § 33 BauGB

aa) formelle und materielle Planreife

bb) Vorhaben entspricht den künftigen Festsetzungen

cc) Anerkennung der Verbindlichkeit der künftigen Festsetzungen

dd) Erschließung gesichert

III. Vereinbarkeit mit Bauordnungsrecht nach BayBO

⇒stets zu prüfen nach Art. 60 S. 2 Nr. 2 BayBO

⇒im vereinfachten Bauverfahren nur soweit vom Prüfungsumfang umfasst, bzw. dieser nach Art 68 Abs. 1 S. 1 HS 2 BayBO erweitert wurde

  1. Örtliche Bauvorschriften (Art. 81 BayBO; Art. 59 S. 1 Nr. 1 Alt. 1 oder 2 BayBO)
  2. Beantragte Abweichungen (Art. 63 Abs. 1 S. 2 BayBO; Art. 59 S. 1 Nr. 2 BayBO)

IV. Vereinbarkeit mit sonstigem Öff. Recht nach Art. 59 S. 1 Nr. 3 BayBO

V. u.U. Zulässigkeit wegen passivem Bestandsschutz nach Art. 14 Abs. 1 GG

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Wirksamkeit eines Bebauungsplans – Kurzschema, Bayern

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Ergänzend zu unserem ausführlichen Prüfschema zur Wirksamkeit eines Bebauungsplan eignet sich dieses Kurzschema. 

A. Ermächtigungsgrundlage

§§ 1 Abs. 2, 2 Abs. 1 und 10 Abs. 1 BauGB

B. Formelle Rechtmäßigkeit

I. Zuständigkeit:

1. Verbandskompetenz: Gemeinde, vgl. § 2 Abs. 1 Satz 1 BauGB.

2. Organkompetenz: Gemeinderat, vgl. Art. 37 GO i.V.m. Art. 32 Abs. 2 Nr. 2 GO

II. Verfahren

1. (Plan-) Aufstellungsbeschluss, vgl. § 2 Abs. 1 Satz 2 BauGB.

2. Ortsübliche Bekanntmachung, vgl. § 2 Abs. 1 Satz 2 BauGB

3. Ermittlung des Abwägungsmaterials durch Umweltprüfung und Öffentlichkeitsbeteiligung nach § 2 Abs. 3 BauGB.
a. Umweltprüfung nach § 2 Abs. 4 Satz 1 BauGB
b. Frühzeitige Beteiligung der Öffentlichkeit nach §§ 3 ff. BauGB
aa) Bürgerbeteiligung nach § 3 Abs. 1 BauGB
bb) Behördenbeteiligung nach § 4 Abs. 1 BauGB

4. Öffentliche Auslegung des Planaufstellungsbeschlusses nach § 3 Abs. 2 und 3
a. Ortsübliche Bekanntgabe nach § 3 Abs. 2 Satz 2 BauGB
b. öffentliche Auslegung nach § 3 Abs. 2 Satz 1 BauGB

5. Ordnungsgemäßer Satzungsbeschluss nach § 10 Abs. 1 BauGB

6. Evtl. Genehmigungserfordernis nach §§ 6 Abs. 1, 10 Abs. 2 BauGB

III. Form

1. Ausfertigung nach Art. 26 Abs. 2 GO.

2. Bekanntmachung nach § 10 Abs. 3 BauGB

C. Materielle Rechtmäßigkeit

I. Erforderlichkeit der Planung nach § 1 Abs. 3 BauGB

1. Keine Negativplanung
2. Keine Gefälligkeitsplanung

II. Zulässige Festsetzungen nach § 9 Abs. 1-7 BauGB

III. Anpassungsgebot nach § 1 Abs. 4 BauGB

IV. Entwicklungsgebot nach § 8 Abs. 2 Satz 1 BauGB

V. Abstimmungsgebot nach § 2 Abs. 2 BauGB

VI. Kein Verstoß gegen das Abwägungsgebot nach § 1 Abs. 7 BauGB

VI. Kein Verstoß gegen das Abwägungsgebot nach § 1 Abs. 7 BauGB

a. Die Abwägungsfehlerlehre des BVerwG
b. Der Grundsatz der räumlichen Trennung nach § 50 BImSchG
c. Das Gebot der Konfliktbewältigung
d. Verbot der Vorwegbindung
e. Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht

VII. Die Unbeachtlichkeit nach §§ 214 ff. BauGB

 

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Unbestimmte Rechtsbegriffe im Öffentlichen Recht

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Der „unbestimmte Rechtsbegriff“ gehört – wie auch das Ermessen – zu den wichtigsten Begriffen des Öffentlichen Rechts.

1. Begriffsbestimmung

Unter einem „unbestimmten Rechtsbegriff“ versteht man ein Merkmal in einer Norm oder einem Gesetz, welches der Gesetzgeber bewusst nicht genau definiert oder festgelegt hat. Damit dieses Merkmal einen Sinn ergibt, bedarf es der Auslegung. Es sind dabei unterschiedliche Umstände zu bewerten.

Warum gibt es so etwas wie den unbestimmten Rechtsbegriff? Grund für das Vorhandensein unbestimmter Rechtbegriffe ist, dass der Gesetzgeber nicht jeden regelungsbedürftigen Sachverhalt vorhersehen und bestimmen kann. Viele Paragraphen und gesetzlichen Regelungen eröffnen daher für den Rechtsanwender einen gewissen Spielraum bei der Anwendung der Norm.

Auf der Rechtsfolgenseite einer Norm kann so z.B. ein Ermessen eingeräumt sein. Der Rechtsanwender – im öffentlichen Recht in der Regel eine Behörde – kann, nach entsprechender Überlegung und Abwägung aller Umstände, unter mehreren Handlungsalternativen wählen.

Der unbestimmte Rechtsbegriff kann hingegen sowohl auf der Rechtsfolgen- als auch auf der Tatbestandsseite einer Norm vorkommen.

Typische Beispiele hierfür sind

  • Die „öffentliche Sicherheit und Ordnung“ im Polizeirecht
  • „Schädliche Umwelteinwirkungen“ nach dem Immissionsschutzgesetz
  • Das „Wohl der Allgemeinheit“ im Baurecht oder das „Einfügen“ nach § 34 BauG
  • Die „Unzuverlässigkeit“ eines Gastwirts nach dem GastG

2. Beurteilungsspielraum und gerichtliche Kontrolle

Fraglich ist, inwieweit unbestimmte Rechtsbegriffe der gerichtlichen Kontrolle unterliegen.

Diesbezüglich ist danach zu unterscheiden, ob der Verwaltung vom Gesetzgeber ein Beurteilungsspielraum eingeräumt wurde oder nicht.

Einerseits wird angenommen, dass der Gesetzgeber unbestimmte Rechtbegriffe einsetzt, um der vollziehenden Verwaltung aufgrund ihrer größeren Sachnähe und Kompetenz einen eigenen, gerichtlich nur beschränkt kontrollfähigen Bewertungsspielraum zukommen zu lassen. Diese Ansicht verkennt aber, dass jegliches behördliche Handeln welches sich innerhalb der Grenzen des Beurteilungsspielraums bewegt, inhaltlich gerichtlich nicht mehr überprüfbar wäre. Das Verwaltungsgericht könnte nur noch überprüfen ob sich die Behörde von sachfremden Erwägungen hat leiten lassen oder willkürlich gehandelt hat. Eine inhaltliche Überprüfung wäre nicht möglich.

Dieser Ansicht lässt jedoch den Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG außen vor, wonach die Gerichte stets verpflichtet sind, die von den Bürgern in zulässiger Weise angegriffenen behördlichen Entscheidungen in rechtlicher sowie in tatsächlicher Hinsicht vollständig zu kontrollieren.

Demzufolge ist es daher nur ausnahmsweise und bei Vorliegen besonderer Voraussetzungen gerechtfertigt, der Verwaltung einen eigenen, gerichtlich nur beschränkt überprüfbaren Bewertungsspielraum zukommen zu lassen (vgl. BVerfGE 64, 261 (279), 129, 1 (20ff.)).

Zusammenfassend lässt sich daher festhalten:

a) Kein Beurteilungsspielraum gegeben – volle gerichtliche Kontrolle

Besteht kein Beurteilungsspielraum der Behörde, ist die Auslegung eines unbestimmten Rechtsbegriffs gerichtlich voll überprüfbar. Es handelt sich dann nämlich um Rechtsanwendung, welche nach der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG voll gerichtlich überprüfbar sein muss.

Beispiel:

  • Bei der Frage der Unzuverlässigkeit eines Gastwirts nach dem GastG kann es nur eine richtige Antwort geben: Entweder er ist es oder nicht. Hier besteht seitens der entscheidenden Behörde kein Bewertungsspielraum. Die Einstufung der Behörde hinsichtlich der Zuverlässigkeit des Gastwirts ist im konkreten Fall vollumfänglich gerichtlich überprüfbar.

b) Beurteilungsspielraum gegeben – eingeschränkte gerichtliche Kontrolle (Ausnahmefall!)

Besteht hingegen ein Beurteilungsspielraum der Behörde, so ist dieser der gerichtlichen Kontrolle nur beschränkt zugänglich. Ein eigener Beurteilungsspielraum einer Behörde ist in der Regel dann anzunehmen, wenn durch Auslegung der Norm, die den unbestimmten Rechtsbegriff enthält zumindest durch Auslegung zu entnehmen ist, dass die Behörde über den konkreten Fall abschließend entscheiden darf.

Beispiel:

  • Prüfungsentscheidungen (z.B.: Bewertungen einer Klausur): Hier hat das Gericht lediglich die Möglichkeit festzustellen, ob der Prüfungsverlauf unter Verletzung von Verfahrensvorschriften oder Bewertungsmängeln vollzogen worden ist und bejahendenfalls die Erheblichkeit der Mängel für den Prüfungsverlauf zu prüfen. Es hat aber nicht die Möglichkeit eine Entscheidung anstelle der Prüfer zu treffen. Seine Befugnis erstreckt sich in der Regel nur darauf festzustellen, ob die Prüfer von falschen Tatsachen ausgegangen sind, allgemein gültige Bewertungsmaßstäbe nicht beachtet haben oder sich von sachfremden Erwägungen haben leiten lassen. Die Einordnung der Qualität einer Prüfungsleistung und die Festlegung einer Bestehensgrenze obliegt den Prüfern und kann gerichtlich weder überprüft noch aufgehoben werden. Den Prüfern steht bei der Ermittlung des Prüfungsergebnisses grundsätzlich ein Beurteilungsspielraum zu, welcher nur eingeschränkt überprüfbar ist (vgl. OVG NW, Urteil vom 14.03.1994, 22 A 201/93). Das Gericht kann folglich nur prüfen, ob ein Bewertungsfehler im oben genannten, prüfungsrechtlichen Sinne gegeben ist.
  • Leistungsbeurteilungen im Beamtenrecht oder dienstrechtliche Einstellungsentscheidungen
  • Prognoseentscheidungen im Umweltrecht (z.B. § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG)

3. Die Auslegung unbestimmter Rechtbegriffe

Rechtsbegriffe – insbesondere unbestimmte Rechtbegriffe – sind in der Regel auslegungsbedürftig. Gerade bei der Anwendung von Normen mit unbestimmten Rechtsbegriffen kommt es oftmals auf eine differenzierte Auslegung an, da die Norm der Verwaltung eine Handlungsrichtung vorgibt ohne dieses Handeln dabei konkret zu bestimmen.

Die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe ist stets einzelfallabhängig, es geht darum diesen Begriffen in ihrem jeweiligen Kontext begriffliche Inhalte zuzuordnen.

Wie oben bereits erläutert steht den Behörden nur im Ausnahmefall ein Beurteilungsspielraum zu. Dies hat zur Folge, dass eine behördliche Auslegung gerichtlich abgeändert oder aufgehoben werden kann, sofern die Richter zu einer anderen Auslegung als die Behörde kommen.

Es kommen bei der Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen die allgemein gültigen Auslegungsregeln zum Tragen:

  • Die grammatikalische Auslegung (oder auch Auslegung nach dem Wortlaut)
  • Die historische Auslegung
  • Die systematische Auslegung
  • Die teleologische Auslegung

Bei der Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen wird davon ausgegangen, dass es für jeden unbestimmten begriff im individuellen Fall nur eine einzige Auslegung gibt. Wie diese jedoch im Einzelfall konkret aussieht, unterliegt dem Beurteilungsspielraum der Behörden, bzw. der Verwaltungsgerichte.

Kommt das Gericht zu der Entscheidung, dass die Auslegung eines unbestimmten Rechtsbegriffs durch eine Behörde falsch ist, so ist die von der Behörde getroffene Entscheidung nicht rechtswirksam.

In Fällen, in denen der Behörde ein Beurteilunsgspielraum zusteht, innerhalb dessen Grenzen die Behörde eine Entscheidung nach eigener Auslegung und pflichtgemäßem Ermessen treffen kann, darf das Verwaltungsgericht hingegen lediglich prüfen, ob sich die Behörde an die Grenzen der Auslegung gehalten hat. Kommt das Gericht zu der Entscheidung, dass dies der Fall ist, so bleibt die Entscheidung der Behörde bestehen, das Gericht kann sie nicht beanstanden.

4. Hinweise für die Fallbearbeitung beim Vorliegen unbestimmter Rechtsbegriffe

Unterliegt eine behördliche Entscheidung der vollen gerichtlichen Kontrolle (d.h. kein Beurteilungsspielraum) so gilt dies auch für die Fallbearbeitung: Gelangt man nach ausgiebiger Prüfung der Voraussetzungen des unbestimmten Rechtsbegriffs zu einem anderen Ergebnis als die Behörde im Sachverhalt, ist die Rechtswidrigkeit der behördlichen Entscheidung sowie die daraus resultierende Verletzung des Klägers in seinen Rechten festzustellen (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Als Rechtsfolge ist daher die behördliche Entscheidung aufzuheben.

Bei der eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle (Beurteilungsspielraum) darf hingegen nur geprüft werden, ob der unbestimmte Rechtsbegriff durch die Behörde fehlerfrei ausgelegt wurde. Nur wenn Fehler festgestellt werden, darf die behördliche Entscheidung beantandet und als rechtwidrig eingestuft werden.

Veranschaulichende Grafik
Unbestimmter Rechtsbegriff

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Der Aufbau der Bauaufsicht in Bayern –Übersicht

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Die Bauaufsicht obliegt in Bayern den sog. Bauaufsichtsbehörden, vgl. Art. 53 Abs. 1 BayBO.

Diese unterteilen sich in die

  • obere Bauaufsichtsbehörde
  • die höheren Bauaufsichtsbehörden und
  • die unteren Bauaufsichtsbehörden.

Deren Hierarchie stellt sich wie folgt dar:

Struktur Bauaufsicht Bayern

Die unteren Bauaufsichtsbehörden gliedern sich – je nach Zuständigkeitsbereich – wie folgt auf:

Struktur Untere Bauaufsicht Bayern

Jura-Individuell-Tip: Passen Sie vor allem auf, wenn im Sachverhalt eine der besonders leistungsfähigen Gemeinden angesprochen wird! Diese Gemeinden sollten Ihnen vom Namen her geläufig sein, so dass Sie sofort hellhörig werden! Als kleine Gedankenstütze empfiehlt es sich den § 5 Abs. 1, bzw. Abs. 2 ZustVBau entsprechend neben Art. 53 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, bzw. Nr. 2 BayBO zu kommentieren!

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Bauaufsichtliche Maßnahmen – Baurecht Bayern

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Die Bauaufsichtsbehörden überwachen nach Art. 54 Abs. 2 Satz 1 BayBO, dass bei der Verwirklichung von baulichen Vorhaben die maßgeblichen öffentlich-rechtlichen Vorschriften eingehalten werden. Dabei erstreckt sich nach Art. 55 Abs. 2 BayBO die Überwachung auf alle baurechtlichen Vorschriften. Dies bedeutet, dass die Bauaufsicht auch bei Vorliegen eines verfahrensfreien Vorhabens, bei genehmigungsfreigestellten Vorhaben oder Vorhaben die dem vereinfachten Genehmigungsverfahren unterfallen einschreiten kann.

Im Einzelnen gibt es folgende bauaufsichtliche Maßnahmen:

A. Die bauaufsichtlichen Maßnahmen im Einzelnen

Die oben angesprochenen bauaufsichtlichen Maßnahmen stellen ein beliebtes Thema in Baurechtklausuren dar und werden im Folgenden näher erläutert und anhand eine Prüfschemas aufgearbeitet.

1. Die Baueinstellung nach Art. 75 Abs. 1 Satz 1 BayBO

a) Allgemeines

Sofern eine Anlage im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet, geändert oder beseitigt wird, kann die Bauaufsichtsbehörde die Einstellung der Arbeiten anordnen, vgl. Art. 75 Abs. 1 Satz 1 BayBO.

Der Begriff der Anlage umfasst dabei neben der baulichen Anlage i.S.v. Art 1 Abs. 1 Satz 1, Art. 2 Abs. 1 Satz 1 BayBO auch sonstige Anlage i.S.v. Art. 1 Abs. 1 Satz 2 BayBO.

Diese Anlage muss im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet worden sein. Diesbezüglich ist zwischen der formellen und materiellen Illegalität der Anlage zu unterscheiden:

Formelle Illegalität ist stets dann gegeben, wenn es sich um ein genehmigungspflichtiges Bauvorhaben handelt und keine Baugenehmigung erteilt wurde oder wenn zwar eine Genehmigung erteilt wurde, die Anlage aber tatsächlich abweichend von der Genehmigung errichtet wird.

Materielle Illegalität liegt dann vor, wenn die Anlage überhaupt nicht genehmigungsfähig ist.

Nach der h.M. reicht im Bezug auf die Errichtung der Anlage im Widerspruch zu den öffentlich-rechtlichen Vorschriften das Vorliegen von formeller Illegalität aus. Diese Annahme begründet sich dadurch, dass es Sinn und Zweck einer Baueinstellungsverfügung nach Art. 75 BayBO ist, den Bauherren auf das Baugenehmigungsverfahren zu verweisen. Stellt die Bauaufsichtsbehörde fest, dass ein Bauvorhaben ohne die erforderliche Genehmigung errichtet wird, so kann sie durch Anordnung der Baueinstellung einen Baustopp erwirken. Dann darf erst weitergebaut werden, wenn der Bauherr sich die entsprechende Genehmigung eingeholt hat. Für die Anordnung der Einstellungsverfügung ist es dabei ausreichend, wenn gewisse Anhaltspunkte ersichtlich sind, dass vorliegend eine Genehmigung erforderlich ist. Sollte sich herausstellen, dass die Anlage doch nicht genehmigungspflichtig ist, so ist die Baueinstellung vom Amts wegen aufzuheben.

Jura-Individuell-Hinweis: Handelt es sich um ein verfahrensfreies Vorhaben nach Art. 57 BayBO, so ist ausnahmsweise für die Baueinstellungsverfügung die materielle Illegalität erforderlich! Mangels Genehmigungspflichtigkeit des Vorhabens kann hier nämlich gar keine formelle Illegalität vorliegen.

b) Prüfschema

I. Rechtsgrundlage: Art. 75 Abs. 1 Satz 1 BayBO

II. Formelle Rechtmäßigkeit

Die Baueinstellung ist formell rechtmäßig, wenn sie von der zuständigen Behörde unter Einhaltung der einschlägigen Verfahrens- und Formvorschriften erlassen wurde.

a) Zuständigkeit

Die sachliche Zuständigkeit ergibt sich aus Art. 53 Abs. 1 Satz 1 BayBO, danach ist die untere Bauaufsichtsbehörde zuständig.

Jura-Individuell-Hinweis: Zu den Bauaufsichtbehörden nach Art. 53 Abs. 1 BayBO haben wir hier eine kleine Übersicht zusammengestellt!

Die örtliche Zuständigkeit ist in Art. 3 Abs. 1 Nr. 1 BayVwVfG geregelt, danach ist die Behörde zuständig, in dessen Bezirk das Grundstück liegt, welches bebaut werden soll / wird.

b) Verfahren

An diesem Punkt ist in der Klausur hauptsächlich an Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG zu denken: Der Adressat der Baueinstellungsverfügung, i.d.R. der Bauherr / die Bauherrin, ist davor anzuhören. Bitte denken Sie in diesem Zusammenhang stets an die Heilungsmöglichkeit dieses Verfahrensfehlers nach Art. 45 BayVwVfG.

c) Form

Bezüglich der einzuhaltenden Formvorschriften ist Art. 37 Abs. 2 Satz 1, 2 BayVwVfG zu beachten. Danach kann die Baueinstellungsverfügung grundsätzlich auch mündlich angeordnet werden, ggf. ist sie nach Art. 37 Abs. 2 Satz 2 BayVwVfG schriftlich zu bestätigen.

Jura-Individuell-Hinweis: Sollte der Sofortvollzug der Einstellungsverfügung angeordnet werden, ist stets Schriftform erforderlich, vgl. § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO!

Die Baueinstellungsverfügung ist entsprechend Art. 39 BayVwVfG zu begründen.

III. Materielle Rechtmäßigkeit

a) Tatbestand der Befugnisnorm (Art. 75 Abs. 1 Satz 1 BayBO)

Die Baueinstellungsverfügung erfolgte rechtmäßig, wenn das Bauvorhaben im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet, geändert oder beseitigt wird, vgl. Art. 75 Abs. 1 Satz 1 BayBO. Dies ist der Fall wenn sie formell illegal ist (bzw. materiell illegal bei verfahrensfreien Vorhaben, s. oben).

b) Adressatenauswahl

Die Einstellungsverfügung muss sich an den richtigen Adressaten richten. Dies ist in der Regel der Bauherr / die Bauherrin, da diese(r) für das Bauvorhaben verantwortlich ist.

c) Ermessen

Die Baueinstellungsverfügung muss ermessensfehlerfrei ergangen sein. Bei Art. 75 Abs. 1 Satz 1 BayBO handelt es sich um eine sog. „Kann-Vorschrift“, das heißt die Behörde kann, muss aber nicht die Einstellung anordnen.

Jura-Individuell-Hinweis: Regelmäßig wird aber in der Klausur ein sog. „intendiertes Ermessen“ vorliegen, wonach die Baueinstellungsverfügung die einzige Möglichkeit ist, wieder rechtmäßige Zustände herzustellen!

2. Die Baubeseitungung nach Art. 76 Satz 1 BayBO

a) Allgemeines

Werden Anlagen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet oder geändert, so kann die Bauaufsichtsbehörde nach Art. 76 Satz 1 BayBO die teilweise oder vollständige Beseitigung der Anlagen anordnen, wenn nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände hergestellt werden können.

Ein Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften ist hier im Gegensatz zur Baueinstellung erst dann gegeben, wenn sowohl formelle wie auch materielle Illegalität der baulichen Anlage vorliegen. Begründen lässt sich dies damit, dass die Baubeseitigung einen wesentlich tiefgreifenderen Eingriff in Art. 14 GG darstellt als die Baueinstellung: Der Abriss einer baulichen Anlage – im Gegensatz zur Baueinstellung – nicht wieder rückgängig zu machen. Ebenso fordert Art. 76 Satz 1 Halbsatz 2 BayBO, dass sich nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände herstellen lassen. Dies wäre z.B. durch die nachträgliche Erteilung einer Baugenehmigung möglich.

Es muss sich daher zum Einen um ein genehmigungspflichtiges Bauvorhaben handeln, für das keine Baugenehmigung erteilt wurde oder um eine Anlage, für die zwar eine Genehmigung erteilt wurde, sie aber abweichend von der Genehmigung errichtet wurde ( = formelle Illegalität). Zum Anderen darf die Anlage überhaupt nicht genehmigungsfähig sein ( = materielle Illegalität).

Kann sich der Bauherr oder die Bauherrin jedoch auf passiven Bestandsschutz berufen, so ist die Anordnung einer Baubeseitigung ausgeschlossen.

Unter Bestandsschutz versteht man im Baurecht das Recht eines Grundstückseigentümers eine bauliche Anlage (sowie deren Nutzung), die ursprünglich legal (das heißt unter Einhaltung der zum Zeitpunkt der Errichtung geltenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften oder nach Erteilung einer Baugenehmigung) errichtet wurde, auch dann weiter in dieser Art und Weise zu erhalten und zu benutzen zu dürfen, wenn sich zwischenzeitlich die rechtlichen Vorgaben geändert haben und die Anlage nach der jetzigen Rechtslage formell oder materiell illegal wäre und so nicht mehr errichtet werden dürfte. Der passive Bestandsschutz besteht darin, dass sich der Eigentümer jederzeit darauf berufen kann, den damals rechtmäßigen Zustand zu erhalten.

b) Prüfschema

I. Rechtsgrundlage: Art. 76 Satz 1 BayBO

II. Formelle Rechtmäßigkeit, siehe Ausführungen zum Prüfschema „Baueinstellung“.

Die Baubeseitigung ist formell rechtmäßig, wenn sie von der zuständigen Behörde unter Einhaltung der einschlägigen Verfahrens- und Formvorschriften erlassen wurde.

a) sachliche und örtliche Zuständigkeit

b) Verfahren

c) Form

III. Materielle Rechtmäßigkeit

a) Tatbestand der Befugnisnorm (Art. 76 Satz 1 BayBO)

Die Baubeseitigung erfolgte rechtmäßig, wenn das Bauvorhaben im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet oder geändert wurde und sich nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände herstellen lassen, vgl. Art. 76 Satz 1 BayBO.  Dies ist der Fall wenn das Bauvorhaben sowohl formell wie materiell illegal ist.

b) Kein passiver Bestandsschutz

c) Adressatenauswahl, s. Prüfschema zur „Baueinstellung“

d) Ermessen, s. Prüfschema zur „Baueinstellung“

3. Die Nutzungsuntersagung nach Art. 76 Satz 2BayBO

a) Allgemeines

Werden Anlagen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften genutzt, so kann diese Nutzung nach Art. 76 Satz 2 BayBO untersagt werden.

Nach der h.M. liegt der erforderliche Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften auch hier bereits bei formeller Illegalität der baulichen Anlage vor. Diese ist insbesondere dann zu bejahen, wenn die Anlage anders als genehmigt genutzt wird.

Die materielle Illegalität wirkt sich im Bezug auf die Entscheidung ob überhaupt eine Nutzungsuntersagung ausgesprochen wird nur ermessenslenkend aus. So ist eine Nutzungsuntersagung aufgrund der formellen Illegalität ermessensfehlerhaft, sofern eine Nutzung offensichtlich genehmigungsfähig ist.

Auch im Bezug auf die Nutzungsuntersagung kann sich der Eigentümer auf Bestandsschutz berufen.

b) Prüfschema

I. Rechtsgrundlage: Art. 76 Satz 2 BayBO

II. Formelle Rechtmäßigkeit, siehe Ausführungen zum Prüfschema „Baueinstellung“.

Die Baueinstellung ist formell rechtmäßig, wenn sie von der zuständigen Behörde unter Einhaltung der einschlägigen Verfahrens- und Formvorschriften erlassen wurde.

a) sachliche und örtliche Zuständigkeit

b) Verfahren

c) Form

III. Materielle Rechtmäßigkeit

a) Tatbestand der Befugnisnorm (Art. 76 Satz 1 BayBO)

Die Nutzungsuntersagung erfolgte rechtmäßig, wenn die Anlage im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften genutzt wird. Dies ist der Fall wenn die Nutzung formell illegal ist.

b) Kein passiver Bestandsschutz

b) Adressatenauswahl, s. Prüfschema zur „Baueinstellung“

c) Ermessen, s. Prüfschema zur „Baueinstellung“

B. Bauaufsichtliche Maßnahmen in der Klausur

Bauaufsichtliche Maßnahmen stellen Verwaltungsakte i.s.V. Art 35 S. 1 BayVwVfG dar. Ein beliebter Klausuraufhänger sind daher Rechtschutzmaßnahmen gegen bauaufsichtliche Maßnahmen.

Beispiel: Bauherr A erhält eine Baueinstellungsverfügung. Dies stellt für ihn eine belastende Maßnahme dar. Er kann sich dagegen mittels der Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO wehren. Sollte die sofortige Vollziehbarkeit angeordnet werden, kommt der einstweilige Rechtsschutz in Betracht.

Vielen Dank, dass Sie diesen Beitrag gelesen haben. Wir hoffen, dass er Ihnen weiterhelfen oder zumindest Ihr Interesse wecken konnte. Hier finden Sie den Beitrag Bauaufsichtliche Maßnahmen – Baurecht Bayern auf unserer Website Jura Individuell.

Wirksamkeit eines Bebauungsplans – ausführliches Prüfschema

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Folgendes Schema soll einen Überblick über die Wirksamkeit eines Bebauungsplans nach bayerischem Baurecht geben.

A. Ermächtigungsgrundlage: §§ 1 Abs. 2, 2 Abs. 1 und 10 Abs. 1 BauGB

Als Ermächtigungsgrundlage für den Erlass eines Bebauungsplans dienen stets die §§ 1 Abs. 2, 2 Abs. 1 und 10 Abs. 1 BauGB.

B. Formelle Rechtmäßigkeit

Im Rahmen der formellen Rechtmäßigkeit ist zu prüfen, ob das Verfahren zum Erlass des Bebauungsplans ordnungsgemäß durchgeführt wurde. Das heißt, der Bebauungsplan muss vom zuständigen Organ unter Beachtung sämtlicher Verfahrensvorschriften in der richtigen Form erlassen worden sein.

I. Zuständigkeit:

Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 BauGB sind die Bauleitpläne von den Gemeinden in eigener Verantwortung aufzustellen.
Dies wird auch als „kommunale Planungshoheit“ bezeichnet, diese Kompetenz der Gemeinden ist in Art. 28 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich gewährleistet: Die Gemeinden haben das Recht, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft eigenverantwortlich zu regeln. Dazu zählt es auch, die eigenen städtebaulichen Vorstellungen und Ideen zu regeln und sicherzustellen.

1. Verbandskompetenz

Zuständig ist die Gemeinde, vgl. § 2 Abs. 1 Satz 1 BauGB.

2. Organkompetenz

Das zuständige Organ innerhalb der Gemeinde ist der Gemeinderat, vgl. Art. 37 GO i.V.m. Art. 32 Abs. 2 Nr. 2 GO.
Die Organkompetenz richtet sich nach landesrechtlichen Vorschriften, in Bayern somit nach der GO: Nach dem Art. 37 GO (Zuständigkeit des ersten Bürgermeisters) nicht einschlägig ist, richtet sich die Organkompetenz nach Art. 32 Abs. 2 Nr. 2 GO, somit ist grds. Der Gemeinderat für den Erlass eines Bebauungsplans zuständig, es sei denn, dieser hat seine Kompetenz auf nach Art. 32 Abs. 2 Nr. 2 GO auf den Bauausschuss übertragen.

II. Verfahren

1. (Plan-) Aufstellungsbeschluss

Grundsätzlich wird das Verfahren zum Erlass eines Bebauungsplans mit der Entscheidung des Gemeinderats, einen Bebauungsplan aufzustellen in die Wege geleitet. Diese Entscheidung nennt man (Plan-) Aufstellungsbeschluss, durch ihn wird das Verfahren förmlich eröffnet, vgl. § 2 Abs. 1 Satz 2 BauGB.

Jura-Individuell-Hinweis: Der förmliche Planaufstellungsbeschluss ist keine Wirksamkeitsvoraussetzung für einen Bebauungsplan! Er ist nach baurechtlichen Vorschriften nicht zwingend erforderlich, § 2 Abs. 1 Satz 2 BauGB erwähnt den Beschluss lediglich, setzt ihn aber nicht zwingend voraus. Daher handelt es sich hierbei lediglich um eine fakultative Voraussetzung des Planaufstellungsverfahrens (vgl. Jäde/Dirnberger/Weiß, BauGB 7. Auflage, § 2 Rn. 2 ). Ein Fehlen des Beschlusses kann daher keinen Verfahrensmangel darstellen und somit auch nie zur Ungültigkeit eines Bebauungsplanes führen! Zu beachten ist jedoch, dass der Planaufstellungsbeschluss jedoch an anderen Stellen des BauGB zwingend vorausgesetzt wird. So z.B. bei bauaufsichtlichen Maßnahmen, wie dem Erlass von Veränderungssperren nach § 14 BauGB oder der Zurückstellung von Baugesuchen nach § 15 BauGB. Diese Maßnahmen sind nur zulässig, wenn zuvor ein Planaufstellungsbeschluss gefasst wurde.

Die Organkompetenz des Gemeinderats ergibt sich wiederum aus Art. 37 GO i.V.m. Art. 32 Abs. 2 Nr. 2 GO.

2. Ortsübliche Bekanntmachung

Gemäß § 2 Abs. 1 Satz 2 BauGB ist der Aufstellungsbeschluss ortsüblich bekannt zu machen.

Die Organkompetenz liegt hier beim ersten Bürgermeister, da es sich im Gegensatz zu der Entscheidung über die Aufstellung des Bebauungsplans um einen reinen Vollzugsakt handelt. Hierfür ist nach Art. 36 Satz 1 GO der erste Bürgermeister zuständig.

3. Ermittlung des Abwägungsmaterials durch Umweltprüfung und Öffentlichkeitsbeteiligung

Nach § 2 Abs. 3 BauGB hat die Gemeinde die Pflicht sämtliches entscheidungserhebliche Abwägungsmaterial zu ermitteln und bewerten.

a. Umweltprüfung

Nach § 2 Abs. 4 Satz 1 BauGB ist grundsätzlich eine Umweltprüfung durchzuführen. Hierbei werden alle Belange des Umweltschutzes nach § 1 Abs. 6 Nr. 7 und § 1a und die voraussichtlichen Umweltauswirkungen des Bebauungsplans ermittelt und bewertet und in einem Umweltbericht festgehalten. Sinn und Zweck der Umweltprüfung ist es, die planende Gemeinde dabei zu unterstützen, die Belange des Umweltschutzes sachgerecht bei ihrer Entscheidung über die Planaufstellung berücksichtigen zu können. Die Umweltprüfung ist nach § 2a Satz 2 Nr. 2 und § 2a Satz 3 BauGB zwingender Bestandteil eines Bebauungsplans (vgl. Jäde/Dirnberger/Weiß, BauGB 7. Auflage, § 2 Rn. 50). Das Fehlen der Umweltprüfung stellt somit einen erheblichen formellen Fehler eines Bebauungsplans dar und kann zu dessen Unwirksamkeit führen!

b. Frühzeitige Beteiligung der Öffentlichkeit

Neben der bereits erwähnten Umweltprüfung sind auch alle privaten und öffentlichen Belange zu ermitteln, die durch den geplanten Bebauungsplan berührt werden. Dies erfolgt mittels der sog. Bürger- und Behördenbeteiligung nach §§ 3 ff. BauGB. Die Beteiligung der Öffentlichkeit sollte möglichst frühzeitig erfolgen, um eine ordnungsgemäße Abwägungsentscheidung der Gemeinde nach § 1 Abs. 7 BauGB ermöglichen. Der planenden Gemeinde kommt bzgl. des genauen Zeitpunkts ein gewisser Ermessensspielraum zu. Eine gesetzlich normierte Frist der Öffentlichkeitsbeteiligung existiert nicht.

aa) Bürgerbeteiligung nach § 3 Abs. 1 BauGB

Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 BauGB sind die Bürger in einem ersten Schritt über die von der Gemeinde geplanten Maßnahmen frühzeitig zu unterrichten. Dies bedeutet, dass die Öffentlichkeit über die planerischen Ziele sowie deren Sinn, Zweck, Auswirkungen und mögliche Alternativen informiert werden muss. Den Bürgern muss eine Gelegenheit zur Anhörung gegeben werden, diese ist u.U. entbehrlich.
Hintergrund dieser frühzeitigen Bürgerbeteiligung ist es, die Gemeinden über Anliegen, Wünsche oder Bedenken der betroffenen Bürger zu informieren, so dass diese Informationen bei der Entscheidung über die Planaufstellung Berücksichtigung finden.

bb) Behördenbeteiligung nach § 4 Abs. 1 BauGB

Nach § 4 Abs. 1 BauGB sind neben den betroffenen Bürgern auch die Behörden und sonstigen Träger öffentlicher Belange entsprechend § 3 Abs. 1 Satz 1 BauGB frühzeitig über die geplanten Vorhaben zu unterrichten und zu beteiligen, sprich zu einer Äußerung aufzufordern. Betroffene Behörden können beispielsweise das Wasserwirtschaftsamt, die Umweltschutzbehörde, die Denkmalschutzbehörde, die Naturschutzbehörde, das Straßenbauamt einer Gemeinde oder sogar eine andere benachbarte Gemeinde sein.
Die Behörden können nach § 4 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 BauGB innerhalb eines Monats Stellungnahmen zu den Planungsentwürfen abgeben. Diese Frist kann bei Vorliegen eines wichtigen Grundes nach § 4 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BauGB angemessen verlängert werden. Verspätet eingegangene Stellungnahmen müssen gem. § 4 Abs. 6 Satz 1 BauGB von der Gemeinde bei der Abwägungsentscheidung nicht berücksichtigt werden, es sei denn sie kannte den Inhalt der verspäteten Stellungnahme oder hätte diesen kennen können und die verspätete Stellungnahme ist für den geplanten Bebauungsplan relevant. Dann muss die Gemeinde die Stellungnahme zwingend berücksichtigen (vgl. Jäde/Dirnberger/Weiß, BauGB, 7. Auflage, § 4a Rn. 26, 27). Unterbleibt dies, könnte ein formeller Abwägungsmangel vorliegen!

4. Öffentliche Auslegung des Planaufstellungsbeschlusses

Nach § 3 Abs. 2 und 3 BauGB beschließt die Gemeinde auf Grundlage der frühzeitigen Öffentlichkeitsbeteiligung den Planentwurf und dessen öffentliche Auslegung für die Dauer eines Monats.

Jura-Individuell-Hinweis: Wie der Planaufstellungsbeschluss ist auch der Auslegungsbeschluss im BauGB nicht gesetzlich vorgeschrieben. Fehlt er, liegt demzufolge auch kein Verfahrensfehler vor (vgl. Jäde/Dirnberger/Weiß, BauGB, 7. Auflage, § 3 Rn. 13)!

a) Ortsübliche Bekanntgabe

Der Ort und die Dauer der Auslegung des Planentwurfs sind nach § 3 Abs. 2 Satz 2 BauGB mindestens eine Woche vor Beginn ortsüblich bekanntzugeben.

Jura-Individuell-Hinweis: Die Wochenfrist der Bekanntmachung nach § 3 Abs. 2 Satz 2 BauGB ist eine Ereignisfrist und berechnet sich nach Art. 31 BayVwVfG i.V.m. § 187 Abs. 1 BGB. Dies bedeutet, dass der Tag an dem die Bekanntmachung erstmals erfolgt, bei der Fristberechnung nicht mitgezählt wird.

b) Auslegung

Im Anschluss an die ortsübliche Bekanntmachung schließt sich gemäß § 3 Abs. 2 Satz 1 BauGB die öffentliche Auslegung an. Nach der Rechtsprechung genügt es, wenn die öffentliche Auslegung beispielsweise zu den üblichen Öffnungszeiten des Parteiverkehrs im Rathaus erfolgt. Eine Bereitstellung der Planentwürfe während der gesamten Dienstzeit der Gemeinde ist nicht erforderlich (vgl. Jäde/Dirnberger/Weiß, BauGB, 7. Auflage, § 3 Rn. 17).

Auszulegen ist der Planentwurf inkl. Begründung und Umweltbericht, vgl. §§ 5 Abs. 5, 9 Abs. 8 BauGB i.V.m. §§ 2 Abs. 4 , 2a BauGB.

Jura-Individuell-Hinweis: Im Gegensatz zur öffentlichen Bekanntmachung stellt die Auslegungsfrist eine Ablauffrist dar, welche sich nach Art. 31 BayVwVfG i.V.m. § 187 Abs. 2 BGB berechnet, dar. Dies bedeutet, dass der erste Tag der Auslegung zur Frist hinzuzählt.

Während der Auslegungszeit kann sich jeder Bürger zum Planentwurf äußern. Eine persönliche Betroffenheit (beispielweise durch Eigentum an einem im Planungsgebiet liegendem Grundstück) ist nicht erforderlich. Die Gemeinde hat alle vorgebrachten Äußerungen zu prüfen und in ihre Abwägungsentscheidung mit einzubeziehen.

Im Gegensatz zur Monatsfrist bzgl. der Stellungnahmen durch die betroffenen Behörden enthält § 3 Abs. 2 Satz 1 BauGB keine Ausschlussfrist. Das heißt, die Gemeinde kann nach pflichtgemäßem Ermessen auch verspätet eingegangene Einwendungen oder Anregungen von Bürgern berücksichtigen, sie muss allerdings nicht. Nach § 3 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BauGB kann sie diese auch unter Verweis auf die Verspätung unberücksichtigt lassen.

Jura-Individuell-Hinweis: In diesem Zusammenhang ist stets an eine mögliche Präklusion eines Bürgers gemäß § 47 Abs. 2 a VwGO in einem späteren Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO gegen den Bebauungsplan zu denken!

5. Ordnungsgemäßer Satzungsbeschluss

Sobald die Gemeinde das entscheidungserhebliche Material nach Durchführung von Öffentlichkeitsbeteiligung und der Bewertung der vorgebrachten Einwendungen vollständig und gerecht nach § 1 Abs. 7 BauGB abgewogen hat, beschließt sie den Bebauungsplan nach § 10 Abs. 1 BauGB als Satzung.

6. Evtl. Genehmigungserfordernis nach §§ 6 Abs. 1, 10 Abs. 2 BauGB

Bebauungspläne sind – im Unterschied zu Flächennutzungsplänen – grundsätzlich nicht genehmigungspflichtig. Jedoch bedürfen selbständige Bebauungspläne nach § 8 Abs. 2 Satz 2 BauGB, vorzeitige Bebauungspläne nach § 8 Abs. 4 BauGB und vorzeitig bekanntgemachte Bebauungspläne nach § 8 Abs. 3 Satz 2 BauGB der Genehmigung durch die höhere Verwaltungsbehörde. Diese bestimmt sich in Bayern nach § 203 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 2 Abs. 3, 4 ZustVBau. Die höhere Verwaltungsbehörde überprüft den von der Gemeinde beschlossenen Bebauungsplan rein auf Rechtmäßigkeit, ein Ermessen steht ihr nicht zu. Die Genehmigung (bzw. deren Versagung) durch die höhere Verwaltungsbehörde stellt einen gebundenen Verwaltungsakt dar.

III. Form

Der als Satzung gemäß § 10 Abs. 1 BauGB beschlossene Bebauungsplan muss durch das zuständige Organ ausgefertigt und bekannt gemacht werden.

1. Ausfertigung

Unter der Ausfertigung versteht man dabei die eigenhändige Unterzeichnung der Satzungsurkunde, sie bemisst sich nach Art. 26 Abs. 2 GO.
Zuständig für die Ausfertigung ist der erste Bürgermeister nach Art. 36 Satz 1 GO, da es sich auch hier wieder um einen reinen Vollzugsakt handelt. Durch die Ausfertigung beurkundet der erste Bürgermeister, dass sämtliche gesetzlichen Vorschriften zum Erlass des Bebauungsplans eingehalten wurden (sog. Legalitätsfunktion) und dass die Satzung, so wie sie beurkundet wird, dem Willen der Gemeinde entspricht (sog. Authentizitätsfunktion), vgl. Jäde/Dirnberger/Weiß, BauGB, 7. Auflage, § 10 Rn. 53 ff.

2. Bekanntmachung

Schlussendlich ist der Bebauungsplan nach § 10 Abs. 3 BauGB ortsüblich bekanntzumachen. Hierzu ist gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 BauGB der Satzungsbeschluss ortsüblich bekannt zu geben. Daneben muss nach § 10 Abs. 3 Satz 1 BauGB der Bebauungsplan inklusive Begründung und Umweltbericht zur Einsicht bereit gehalten werden.

Jura-Individuell-Hinweis: Sollte es sich um eine genehmigungspflichtigen Bebauungsplan handeln, so ist neben dem Satzungsbeschluss auch die Erteilung der Genehmigung durch die höhere Verwaltungsbehörde ortsüblich bekannt zu machen!

C. Materielle Rechtmäßigkeit

Im Rahmen der materiellen Rechtmäßigkeit wird überprüft, ob der Bebauungsplan inhaltlich mit höherrangigem Recht vereinbar ist.
Prüfungsmaßstab ist hauptsächlich das BauGB, es können sich aber auch Einschränkungen aus anderen baurechtlichen Normen oder sonstigem höherrangigem Recht ergeben. Vor allem sind die materiell-rechtlichen Planungsgrundsätze einzuhalten.

Jura-Individuell-Hinweis: Für die materielle Rechtmäßigkeit eines Bebauungsplans gibt es kein fest vorgegebenes Prüfungsschema. Es empfiehlt sich aber, mit § 3 Abs. 3 BauGB zu beginnen und als letzten Prüfungsschritt § 1 Abs. 7 BauGB zu prüfen.

I. Erforderlichkeit der Planung nach § 1 Abs. 3 BauGB

Gemäß § 1 Abs. 3 BauGB haben die Gemeinden Bauleitpläne (d.h. Flächennutzungsplan und Bebauungsplan) aufzustellen, sobald dies für die städtebauliche Entwicklung und Ordnung erforderlich ist (sog. „Planmäßigkeitsgebot“). Das BauGB normiert damit eine „Planungsbefugnis“ und „Planungspflicht“ der Gemeinden, wenn es zur Entwicklung der Stadt/Gemeinde vernünftigerweise geboten ist. Den Gemeinden kommt bzgl. der Bauleitplanung ein weites städtebauliches Ermessen zu.
Aufgrund der Planungshoheit der Gemeinde, hat diese das Recht, die städtebauliche Entwicklung inhaltlich in eigener Verantwortung festzulegen. Die entwicklerischen Ideen und Konzepte der Gemeinde dürfen weder durch die Rechtsaufsichtsbehörden oder die Verwaltungsgerichtsbarkeit in Frage gestellt werden. Ob die von der Gemeinde gewählte Gestaltung der Bauleitplanung die bestmöglichste Lösung darstellt oder nicht, darf nicht überprüft werden, dies würde einen unzulässigen Eingriff in die gemeindliche Selbstverwaltung darstellen (Jäde/Dirnberger/Weiß, BauGB 7. Auflage, § 1 Rn. 19f). Aus diesem Grund ist die Erforderlichkeit der Planung nach § 1 Abs. 3 BauGB nur eingeschränkt überprüfbar.

1) Keine Negativplanung

Ein Verstoß gegen § 1 Abs. 3 BauGB ist die sog. „Negativplanung“. Eine solche ist regelmäßig dann gegeben, wenn eine Regelung in einem Bebauungsplan nur wegen der negativen (ausschließenden) Wirkung getroffen wird (vgl. Jäde/Dirnberger/Weiß, BauGB 7. Auflage, § 1 Rn. 44). Eine Negativplanung liegt immer dann vor, wenn die Gemeinde durch die Bauleitplanung versucht, völlig andere Ziele zu verfolgen oder andere Vorhaben verhindern will, ohne dass diese Verhinderung aus planerischen Gründen erfolgt.
Als Beispiel ist hier zu nennen, wenn die Gemeinde nur um die Errichtung großer industrieller Bauten (z.B. Lagerhallen, Fabrikgelände etc.) eine große Fläche des Gemeindegebiets als Freifläche zur Naherholung (Parkanlage, Sportmöglichkeiten, Hundewiese etc.) ausweist. Das Naherholungsgebiet wird in diesem Fall nur vorgeschoben, um die Entwicklung eines industriell geprägten Stadtbilds zu unterbinden.

2) Keine Gefälligkeitsplanung

Ein weiterer Verstoß gegen § 1 Abs. 3 BauGB liegt in einer reinen Gefälligkeitsplanung. Dieser ist regelmäßig dann zu bejahen, wenn sich die Gemeinde bei der Planung nicht von städtebaulichen Gründen im Sinne von § 1 Abs. 5 und 6 BauGB motivieren lässt, sondern die Planung allein dem privaten Interesse einzelner Personen dient.

II. Zulässige Festsetzungen nach § 9 Abs. 1-7 BauGB

Nach § 9 Abs. 1-7 BauGB kann eine Gemeinde in ihrem Bebauungsplan Festsetzungen treffen. Die möglichen Festsetzungen sind in § 9 BauGB abschließend geregelt (z.B. Festsetzung eine Fläche als Fläche für Gemeinschaftsanlagen wie Kinderspielplätze, Freizeiteinrichtungen nach § 9 Abs. 1 Nr. 22 BauGB oder Grünfläche wie Parkanlagen, Kleingärten nach § 9 Abs. 1 Nr. 15 BauG). Auch hier ist die planerische Gestaltungsfreiheit an das Erforderlichkeitsgebot des § 1 Abs. 2 Satz 1 BauGB gebunden.

III. Anpassungsgebot nach § 1 Abs. 4 BauGB

Nach § 1 Abs. 4 BauGB sind die Bauleitpläne den Zielen der Raumordnung (ROG – Raumordnungsgesetz) anzupassen.
Jura-Individuell-Hinweis: Das ROG zählt (zumindest nach der bayerischen Prüfungsordnung) nicht zum Pflichtstoff im ersten und zweiten Staatsexamen. Kenntnisse werden in diesem Bereich folglich nicht erwartet. Daher sollte es ausreichen, wenn man § 1 Abs. 4 BauGB als materiell-rechtliche Voraussetzung eines Bebauungsplans lediglich kennt.

IV. Entwicklungsgebot nach § 8 Abs. 2 Satz 1 BauGB

Nach § 8 Abs. 2 Satz 1 BauGB sind Bebauungspläne aus dem Flächennutzungsplan zu entwickeln. Hier wird nochmals die Zweistufigkeit der Bauleitplanung nach § 1 Abs. 2 BauGB deutlich: Der Flächennutzungsplan stellt dabei den vorbereitenden und der Bebauungsplan den verbindlichen Bauleitplan dar.
Zu beachten ist, dass nach § 8 Abs. 3 BauGB Flächennutzungs- und Bebauungsplan auch parallel aufgestellt werden können („Parallelverfahren“) oder ausnahmsweise das Entwicklungsgebot nach § 8 Abs. 2 Satz 2 BauGB nicht zu beachten ist, wenn der Bebauungsplan ausreicht, um die städtebauliche Entwicklung zu ordnen.

V. Abstimmungsgebot nach § 2 Abs. 2 BauGB

Nach § 2 Abs. 2 BauGB ist die Gemeinde verpflichtet, ihre planerischen Belange mit den Belangen der Nachbargemeinden abzustimmen (sog. „Interkommunales Abstimmungsgebot“). Bezüglich der Nachbargemeinde ist nicht erforderlich, dass deren Gebietsgrenzen an das Gebiet der planenden Gemeinde angrenzen. Der Nachbarbegriff des § 2 Abs. 2 BauGB ist weiter als der sonst im Baurecht übliche Nachbarbegriff, er ist vielmehr mit dem Nachbarbegriff aus dem Immissionsschutzrecht nach § 3 Abs. 1 BImSchG zu vergleichen. Ausschlaggebend ist daher, dass sich örtliche, private oder öffentliche Belange zweier Gemeinden berühren.
Die Abstimmungspflicht aus § 2 Abs. 2 BauGB ist ein Unterfall der Planungsabwägung nach § 1 Abs. 7 BauGB, das heißt, die Berücksichtigung der nachbarlichen Belange hat im Rahmen der Abwägung (s. nächster Prüfungspunkt) zu erfolgen.
VI. Kein Verstoß gegen das Abwägungsgebot nach § 1 Abs. 7 BauGB

VI. Kein Verstoß gegen das Abwägungsgebot nach § 1 Abs. 7 BauGB

Nach § 1 Abs. 7 BauGB sind bei der Aufstellung der Bebauungspläne die öffentlichen und die privaten Belange gegeneinander und untereinander abzuwägen. Das sog. „Abwägungsgebot“ nach § 1 Abs. 7 BauGB ist die zentrale materiell-rechtliche Norm im Hinblick auf die gemeindliche Bauleitplanung.

Jura-Individuell-Hinweis: Damit gibt es im BauGB neben § 2 Abs. 3 BauGB eine weitere Norm die sich mit dem Abwägungsgebot befasst. § 2 Abs. 3 BauGB bezieht sich auf die formale Voraussetzung der Abwägung, nämlich die Ermittlung und Bewertung der abwägungsrelevanten Tatsachen. § 1 Abs. 7 BauGB umfasst die materiell-rechtliche Seite der Bauleitplanung, nämlich den gerechten Ausgleich der verschiedenen Belange untereinander. Das Abwägungsgebot wird somit bei der Prüfung der Wirksamkeit eines Bebauungsplans sowohl auf der formellen wie auch auf der materiellen Seite relevant!

Materiell ist die Abwägung dreigeteilt: Abzuwägen sind demnach

  • die öffentlichen Belange untereinander
  • die öffentlichen und privaten Belange gegenseitig
  • die privaten Belange untereinander.

Die Gemeinde hat die einzelnen Belange zu erforschen, zu entscheiden, welchen Belangen sie nach der konkreten planerischen Planung sie den Vorrang einräumt und welche aufgrund dieser Entscheidung zurücktreten müssen.

a) Die Abwägungsfehlerlehre des BVerwG

Das Bundesverwaltungsgericht stellt an das Gebot der gerechten Abwägung folgende Voraussetzungen (vgl. BVerwG 34, 301 ff.):

  • Eine Abwägung muss überhaupt stattfinden.
  • Im Rahmen dieser Abwägung müssen alle einschlägigen Belange berücksichtigt werden (im Bereich der Bauleitplanung sind das alle Belange, die die von der gemeindlichen Planung berührt sein können).
  • Die Bedeutung der betroffenen Belange und deren Gewichtung darf nicht verkannt werden.
  • Der Ausgleich zwischen den einzelnen Belangen darf nicht in einer Weise vorgenommen werden, die außer Verhältnis zur Gewichtung der einzelnen Belange steht.

Hält sich die Gemeinde nicht an diese Vorgaben, kommen folgende Abwägungsfehler in Betracht, das Gebot der gerechten Abwägung ist verletzt:

  • Der Abwägungsausfall: Es wird gar keine Abwägungsentscheidung getroffen.
  • Das Abwägungsdefizit (auch Ermittlungsdefizit genannt): Es findet eine Abwägung statt, die Gemeinde hat aber nicht alle ermittlungsrelevanten Belange bei ihren Überlegungen ermittelt oder berücksichtigt.
  • Die Abwägungsfehleinschätzung: Hier verkennt die Gemeinde die Bedeutung einzelner Belange indem sie diese fehlerhaft gewichtet.
  • Die Abwägungsdisproportionalität: Der Ausgleich der einzelnen Belange untereinander wird außer Verhältnis zu dem objektiven Gewicht vorgenommen.

Liegt einer der genannten Verstöße gegen das Gebot der gerechten Abwägung vor, so ist der Bebauungsplan unwirksam! Etwas anderes gilt nur, wenn der Verstoß so gering ist, dass er als unbeachtlich eingestuft werden kann.

b) Der Grundsatz der räumlichen Trennung nach § 50 BImSchG

Darüber hinaus ist im Rahmen der Abwägung der Trennungsgrundsatz nach § 50 BImSchG zu beachten (vgl. Jäde/Dirnberger/Weiß, BauGB 7. Auflage, § 1 Rn. 104). Dies bedeutet, dass bei der Festsetzung von Baugebieten auf die dadurch entstehenden Emissionen und Immissionen geachtet werden muss. Eine geordnete städtebauliche Entwicklung liegt nur dann vor, wenn bei der Planung miteinander unverträgliche Nutzungen und Auswirkungen ausreichend räumlich voneinander getrennt werden. Ist dies nicht der Fall, liegt eine Abwägungsdisproportionalität vor. So dürfen z.B. immissionsträchtige Vorhaben wie Industrie oder Landwirtschaft nicht in unmittelbarer Nähe zu einem reinen Wohngebiet geplant werden, vielmehr muss eine ausreichende räumliche Trennung vorgenommen werden.

c) Das Gebot der Konfliktbewältigung

Nach der h.M. darf die Abwägung auch nicht gegen das sog. Gebot der Konfliktbewältigung verstoßen (vgl. Jäde/Dirnberger/Weiß, BauGB 7. Auflage, § 1 Rn. 31 ff.). Dies bedeutet, dass die Gemeinde die erkannten großräumigen Konflikte die mit ihrer Planung verbunden sind, selbständig zu lösen hat. So hat sie beispielsweise bei der Planung eines Industriegebiets selbständig für die Erschließung der Straßen und der Verkehrswege zu dem neuen Industriegebiet zu sorgen und für geeignete Immissionsschutzmaßnahmen zu den benachbarten Wohngebieten (z.B. durch Errichten eines Lärmschutzwalls) zu achten.

d) Verbot der Vorwegbindung

Es widerspricht zusätzlich dem Gebot der gerechten Abwägung, wenn die Gemeinde zu Beginn der Planung bereits gewisse Vorwegbindungen getroffen hat. Dies können einzelne Verträge oder Zusagen sein, durch die sich die Gemeinde vorab an bestimmte Planungen gebunden hat. Nach defr h.M. liegt dann ein Abwägungsdefizit vor, da die Gemeinde aufgrund der Vorwegbindung nicht mehr alle erheblichen Belange in Rahmen der Abwägung berücksichtigen wird.

Ein solcher Verstoß gegen § 2 Abs. III BauGB ist jedoch unbeachtlich, wenn die Vorwegnahme der Entscheidung sachlich gerechtfertigt ist, die Entscheidungszuständigkeit gewahrt wurde und die vorweggenommene Entscheidung inhaltlich korrekt ist (vgl. Jäde/Dirnberger/Weiß, BauGB, 7. Auflage, § 1 Rn. 113 ff.).

e) Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht

Die Bauleitplanung muss darüber hinaus der BauNVO sowie anderen Gesetzen (z.B. NaturschutzG, ImmissionsschutzG) entsprechen.

VII. Die Unbeachtlichkeit nach §§ 214 ff. BauGB

Satzungen sind grds. bei formeller oder materiellen Rechtswidrigkeit nichtig. Im Bereich des Bauplanungsrecht sind diesbezüglich aber die §§ 214, 215 BauGB zu beachten, wonach bestimmte Rechtsverstöße nach Inkrafttreten des Bebauungsplans unbeachtlich sind und so die Wirksamkeit eines Bebauungsplans nicht beeinträchtigen.

  • § 214 BauGB regelt abschließend die Beachtlichkeit von Fehlern: § 214 Abs. 1 BauGB bezieht sich dabei auf die Verfahrens- und Formfehler der BauGB, materielle Fehler sind in § 214 Abs. 2 und 3 BauGB geregelt. Man sollte sich bei diesem Prüfungspunkt die Frage stellen, ob der Fehler in § 214 BauGB genannt und evtl. unbeachtlich ist.
  • § 215 BauGB bestimmt welche nach § 214 BauGB grundsätzlich beachtlichen Fehler durch Zeitablauf ihren Beachtlichkeit verlieren (Jahresfrist). An diesem Prüfungspunkt ist zu prüfen, ob der nach § 214 BauGB beachtliche Fehler nach dieser Vorschrift unbeachtlich wird.
  • § 214 Abs. 4 BauGB regelt, dass nach §§ 214, 215 beachtliche Fehler durch ein ergänzendes Verfahren behoben werden können, es besteht somit eine Heilungsmöglichkeit. An diesem letzten Punkt ist zu prüfen, ob die nach §§ 214, 215 BauGB beachtlichen Fehler nicht durch ein Ergänzungsverfahren nach dieser Vorschrift behoben werden können.

Jura-Individuell-Tip: Zur Ergänzung dieses Schemas eignet sich und Kurzschema zur Wirksamkeit eines Bebauungsplans!

Vielen Dank, dass Sie diesen Beitrag gelesen haben. Wir hoffen, dass er Ihnen weiterhelfen oder zumindest Ihr Interesse wecken konnte. Hier finden Sie den Beitrag Wirksamkeit eines Bebauungsplans – ausführliches Prüfschema auf unserer Website Jura Individuell.

Examensrelevante Probleme im Versammlungsrecht 

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Der nachfolgende Artikel soll die Systematik des Versammlungsrechts veranschaulichen und dabei helfen, mögliche Verständnisprobleme zu beseitigen sowie naheliegende Fehler zu vermeiden. Ein solides Wissen im Versammlungsrecht wird nämlich nicht nur im Grundstudium (Grundrechte, Polizeirecht), sondern vor allen Dingen im Examen vorausgesetzt.

A. Die Rechtsquellen des Versammlungsrechts

I. Art. 8 GG

1. Der sachliche Schutzbereich

Unter einer Versammlung versteht man eine Zusammenkunft mehrerer (mindestens zweier) Personen zur Verfolgung eines gemeinsamen Zweckes. Menschenansammlungen, z.B. in Folge eines Verkehrsunfalles, fallen nicht hierunter, weil es an einer inneren Verbundenheit der zufällig anwesenden Personen fehlt.

Umstritten ist allerdings, anhand welcher rechtlicher Kriterien beurteilt werden soll, ob ein gemeinsamer Zweck verfolgt wird.

a) Versammlungsbegriff

aa) Weiter Versammlungsbegriff

Nach einer in der Literatur vertretenen Auffassung, die den Versammlungsbegriff extensiv auslegt, sind keine spezifischen Anforderungen an die inhaltliche Qualität des verfolgten Zweckes zu stellen, sodass jeder beliebige Zweck ausreichen würde, um eine Zusammenkunft von Menschen als Versammlung zu qualifizieren. Aufgrund der sachlichen Nähe der Versammlungsfreiheit zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht müsse jede Form menschlichen Zusammentreffens, die der Persönlichkeitsentfaltung des Einzelnen diene, vom Schutzbereich des Art. 8 GG umfasst sein. Deshalb würden nach dem weiten Versammlungsbegriff auch kommerzielle Veranstaltungen wie die Loveparade dem sachlichen Anwendungsbereich der Versammlungsfreiheit unterfallen.

bb) Enger Versammlungsbegriff

Einen anderen Ansatz wählen die Anhänger des engen Versammlungsbegriffes, die eine historische Lesart befürworten. Demnach habe der Verfassungsgeber bei der Konzeption des Art. 8 GG vor allem die politischen Demonstrationen vor Augen gehabt, zumal diese in der Geschichte besonders oft staatlichen Restriktionen ausgesetzt gewesen seien. Vor diesem Hintergrund müsse der gemeinsam verfolgte Zweck öffentliche Angelegenheiten betreffen, damit die Zusammenkunft den Schutz des Art. 8 GG verdiene.

cc) Erweiterter Versammlungsbegriff (Auffassung des Bundesverfassungsgerichts)

Ausgehend von diesen beiden Extrempositionen beschreitet das Bundesverfassungsgericht einen Mittelweg: Die Versammlungsfreiheit sei im Zusammenhang mit der verfassungsrechtlich gewährleisteten Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG zu lesen. Demnach bezwecke die Versammlungsfreiheit in erster Linie den Schutz der kollektiven Meinungsäußerung. Veranstaltungen, die der bloßen „Volksbelustigung“ dienen und reinen Unterhaltungswert haben, würden dieser Ansicht nach aus dem Schutzbereich des Art. 8 GG herausfallen. Andererseits ist es aber gleich, ob der Inhalt der Meinungsäußerung nun private oder öffentliche Angelegenheiten berührt. Deswegen wäre z.B. ein Zusammenkommen von Mitgliedern eines Kleingartenvereins als Protest gegen den Vereinsvorsitzenden genauso dem Schutzbereich der Versammlungsfreiheit zuzuordnen wie große politische Demonstrationen.

dd) Stellungnahme

Die Versammlungsfreiheit ist in einer freiheitlichen demokratischen Staatsordnung ein elementares Gut, ihr kommt im Grundrechtsgefüge ein hoher Rang zu. Mit dem enormen Stellenwert der Versammlungsfreiheit korrespondieren die strengen Rechtmäßigkeitsanforderungen bei Eingriffen in dieses Grundrecht. Deshalb kann es nicht überzeugen, beliebigen menschlichen Zusammenkünften den Schutz des Art. 8 GG zukommen zu lassen. Der weite Versammlungsbegriff ist daher abzulehnen.

Die enge Auslegung des Versammlungsbegriffs erscheint wiederum zu restriktiv. Denn auch bei der Meinungsfreiheit, zu der sich die Versammlungsfreiheit als komplementäres Grundrecht verhält, wird nicht danach differenziert, ob die Meinung private oder öffentliche Angelegenheiten betrifft. Auch wird eine trennscharfe Abgrenzung zwischen privaten und öffentlichen Angelegenheiten nicht in jedem Einzelfall gelingen, sodass ein solch enger Ansatz der Rechtssicherheit abträglich ist. Nach hier vertretener Ansicht ist unter einer Versammlung also eine Zusammenkunft mehrerer Personen zu verstehen, die sich durch eine gemeinschaftliche Meinungsäußerung auszeichnet. Dabei spielt es keine Rolle, welcher Stilmittel sich die Versammlungsteilnehmer bedienen. Selbst durch einen Schweigemarsch wird eine gemeinsame Haltung zum Ausdruck gebracht, z.B. Gefühle der Trauer. Gleiches gilt für den Einsatz von Musik, wenn der Meinung hierdurch besonderes Gehör verschafft werden soll (bspw. das 2018 in Chemnitz unter dem Motto „Wir sind mehr“ veranstaltete Konzert als Zeichen gegen Rechts in Abgrenzung zu solchen Konzerten, die der bloßen Unterhaltung dienen).

b) Friedlich und ohne Waffen

Sachlich eingegrenzt wird der Schutzbereich durch die im Verfassungstext ausdrücklich normierte Anforderung, wonach die Versammlung friedlich und ohne Waffen abgehalten werden muss.

aa) Friedlich

Eine Versammlung ist nicht mehr friedlich, wenn sie einen gewalttätigen und aufrührerischen Verlauf annimmt. Die Gewalthandlungen können sich sowohl gegen Personen als auch gegen Sachen richten, wobei der Handlung eine gewisse Aggressivität beizumessen sein muss. Beispielsweise würde ein bloßes Schubsen von Gegendemonstranten nicht ausreichen, um der Versammlung einen gewalttätigen Charakter zu bescheinigen. Aufrührerisch verhalten sich Versammlungsteilnehmer, wenn sie aktiv Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte leisten, was etwa bei Sitzblockaden nicht der Fall wäre.

Auch wird das Verhalten einzelner Versammlungsteilnehmer nicht der Versammlung als solcher zugerechnet. Wenn also einige wenige Demonstranten gewalttätig werden, ist nur ihnen, nicht aber den mehrheitlich friedlichen Versammlungsteilnehmern der Schutz des Art. 8 GG zu versagen.

bb) ohne Waffen

Waffen sind nicht nur solche im Sinne des WaffenG (z.B. Butterflymesser, Totschläger, Schlagringe), sondern auch Gegenstände, die objektiv dazu geeignet sind, Menschen Verletzungen zuzufügen und die erkennbar zum Zwecke der Personenschädigung mitgeführt werden (etwa Eisenstangen oder Baseballschläger).

2. Persönlicher Schutzbereich

Bei der Versammlungsfreiheit handelt es sich ausweislich des Wortlautes von Art. 8 Abs. 1 GG um ein Deutschengrundrecht, wobei EU-Ausländern aufgrund des in Art. 18 AEUV verankerten Diskriminierungsverbotes selbiges Schutzniveau zu gewähren ist. Wenn sich indes Nicht-EU-Ausländer versammeln wollen, kommt für sie nur eine Berufung auf die allgemeine Handlungsfreiheit in Betracht.

II. Das Versammlungsgesetz

Das VersG beschränkt sich im Gegensatz zu Art. 8 GG, dem eine derartige Differenzierung nicht zu entnehmen ist, auf öffentliche Versammlungen (vgl. § 1 VersG), also auf solche, die jedermann offen stehen, wohingegen nicht-öffentliche Versammlungen, bei denen der Personenkreis namentlich oder auf andere Weise begrenzt ist, vom VersG nicht erfasst werden. Andererseits ist das VersG weitreichender als Art. 8 GG, da der Schutz jedermann gewährt wird und nicht nur deutschen Staatsangehörigen.

B. Die Polizeifestigkeit der Versammlung

I. Einleitung

Wenn von der Polizeifestigkeit der Versammlung die Rede ist, darf man nicht einer falschen Vorstellung unterliegen. Gemeint ist nicht, dass der Polizei keine Befugnisse im Zusammenhang mit Versammlungen zustehen, sondern dass sie grundsätzlich nur auf der Grundlage des Versammlungsrechts einschreiten darf. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die Landespolizeigesetze mit ihren weitreichenden Befugnissen nicht dem strengen Rechtfertigungsmaßstab genügen, der für Eingriffe in die Versammlungsfreiheit anzulegen ist. Daher gilt: Soweit das VersG anwendbar ist, entfaltet es eine Sperrwirkung gegenüber dem jeweiligen Landespolizeigesetz.

Anmerkung: Nachfolgend werden die Vorschriften des Versammlungsgesetzes des Bundes zitiert. Diesbezüglich ist zu beachten, dass die Landesgesetzgeber seit der Föderalismusreform die Möglichkeit haben, hiervon abweichende Regelungen zu treffen. Sofern dies aber nicht der Fall ist, gilt das VersG fort, vgl. Art. 125a Abs. 1 GG. Gegenwärtig haben erst Bayern, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein von ihrer Abweichungsbefugnis Gebrauch gemacht. In allen anderen Bundesländern ist nach wie vor das VersG des Bundes maßgeblich. 

II. Die Befugnisse nach dem VersG

1. Versammlungsverbot bzw. Durchführung der Versammlung unter Auflagen 

Gem. § 15 Abs. 1 VersG kann die zuständige Behörde eine Versammlung bzw. einen Aufzug im Voraus verbieten oder als mildere Maßnahme von bestimmten Auflagen (z.B. abweichende Route für den Demonstrationszug) abhängig machen, falls konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sonst bei der Durchführung der Versammlung bzw. des Aufzuges die öffentliche Sicherheit oder Ordnung unmittelbar gefährdet ist. Eine Versammlung darf allerdings nur dann verboten werden, wenn eine Gefahrenabwehr auf andere Weise ausgeschlossen ist, z.B. in Konstellationen, in denen nicht genügend Polizeikräfte zur Absicherung der Versammlung bereitgestellt werden können, weil diese für andere, bereits angemeldete Versammlungen benötigt werden.

Anmerkung: Begrifflich ist zu differenzieren zwischen Versammlungen und Aufzügen. Mit Versammlungen sind stationäre Kundgebungen gemeint, wohingegen Aufzüge in Bewegung befindliche Demonstrationszüge bezeichnen.

2. Versammlungsauflösung

Im Unterschied zu § 15 Abs. 1 VersG, der als Ermächtigungsgrundlage für Verbote und Auflagen im Vorfeld einer Versammlung bzw. Aufzug fungiert, findet § 15 Abs. 3 VersG auf bereits begonnene Veranstaltungen Anwendung. Nach § 15 Abs. 3 VersG kann die zuständige Behörde die Versammlung bzw. den Aufzug auflösen, wenn diese nicht angemeldet ist, wenn von den Angaben der Anmeldung abgewichen oder den Auflagen zuwidergehandelt wird oder sofern die Voraussetzungen zu einem Verbot nach § 15 Abs. 1 oder § 15 Abs. 2 VersG gegeben sind. Die Versammlungsauflösung ist das schärfste Instrument der Behörden, um einer von einer laufenden Versammlung ausgehenden Gefahr Herr zu werden.

Zu beachten ist, dass § 15 Abs. 3 VersG einer verfassungskonformen Auslegung bedarf, da eine wortlautgetreue Anwendung zu unverhältnismäßigen Eingriffen in die Versammlungsfreiheit führen würde. So genügen bloß formelle Verstöße in Form einer fehlenden oder fehlerhaften Anmeldung nicht, um eine Versammlung aufzulösen. Vielmehr muss eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung vorliegen, die nicht anders als durch Auflösung der Versammlung abgewendet werden kann. Die Versammlungsauflösung ist mithin ultima ratioAls mildere Maßnahme ist beispielsweise der Ausschluss einzelner, gewalttätiger Teilnehmer von der Versammlung (vgl. § 18 Abs. 3 VersG) in Erwägung zu ziehen.

3. Minusmaßnahmen nach dem Polizeigesetz im Anwendungsbereich des VersG

Der Grundsatz der Polizeifestigkeit der Versammlung soll die Versammlungsteilnehmer vor unverhältnismäßigen Eingriffen bewahren. Deswegen ist der Rückgriff auf das allgemeine Polizeirecht im Anwendungsbereich des VersG prinzipiell nicht statthaft. Falls jedoch der Gefahr im konkreten Fall mit einer milderen Maßnahme als der Versammlungsauflösung begegnet werden kann, ist es verfassungsrechtlich geboten, auf diese Minusmaßnahme zurückzugreifen. Sofern also die Tatbestandsvoraussetzungen des § 15 Abs. 3 VersG erfüllt sind, ist die Anwendung ebenso geeigneter, aber milderer Maßnahmen nach dem Polizeigesetz erst recht erlaubt.

Beispiel: Die Versammlungsteilnehmer halten wiederholt Plakate und Transparente mit beleidigendem Inhalt hoch. Wenn Aufforderungen der Polizei, die Plakate bzw. Transparente einzustecken, erfolglos bleiben, müsste die Versammlung an sich nach § 15 Abs. 3 VersG aufgelöst werden, um die gerade stattfindenden Ehrverletzungen i.S.d. §§ 187 ff. StGB (=gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit) zu beseitigen. Hier böte sich aber auch eine Sicherstellung der Plakate und Transparente als minder schwere Maßnahme an. In der Klausur müssten also zunächst die Tatbestandsvoraussetzungen des § 15 Abs. 3 VersG geprüft werden. Im Kontext der Rechtsfolge wäre dann aber aus Gründen der Verhältnismäßigkeit auf die Sicherstellung nach dem Landespolizeigesetz (z.B. § 43 PolG NRW) zurückzugreifen.

4. Maßnahmen nach dem Polizeigesetz außerhalb des Anwendungsbereiches des VersG

Abgesehen von den soeben beschriebenen Minusmaßnahmen ist das Polizeirecht maßgeblich, wenn das VersG schon gar nicht anwendbar ist. Folglich muss geklärt werden, wie weit das VersG reicht.

a) Vorfeldmaßnahmen

Das VersG gilt grundsätzlich nicht für Vorfeldmaßnahmen. Wenn die Polizei zum Beispiel die Identität der zu einer Versammlung anreisenden Teilnehmer feststellt oder diese durchsucht, beurteilt sich dies nach dem jeweiligen Landespolizeigesetz. Eine Ausnahme ist allerdings dann zu machen, wenn Vorfeldmaßnahmen derart in die Länge gezogen werden, dass dadurch die Teilnahme an der Versammlung faktisch verhindert wird. In diesen Fällen bildet das VersG den rechtlichen Maßstab für das polizeiliche Einschreiten.

Achtung: Zwar ist das VersG bei Vorfeldmaßnahmen prinzipiell nicht anwendbar, doch ist die Anreise zur Versammlung gleichwohl von Art. 8 GG geschützt. Der Schutzbereich von Art. 8 GG und der Anwendungsbereich des VersG sind somit nicht deckungsgleich.

b) Maßnahmen nach Beendigung der Versammlung

Wird die Versammlung vom Versammlungsleiter beendet oder von der Polizei aufgelöst, erlischt die Sperrwirkung des VersG. Wenn Teilnehmer danach des Platzes verwiesen werden, bemisst sich dies allein anhand des Polizeigesetzes (z.B. § 34 Abs. 1 PolG NRW). Schwieriger sind die Fälle der Einkesselung einzuordnen, zumal sich hier die Frage stellt, ob eine Versammlung durch Einkesselung aufgelöst werden kann.

aa) Die Einkesselung der Versammlungsteilnehmer

Die Einkesselung beschreibt eine hoheitliche Maßnahme, bei der die Versammlungsteilnehmer durch eine Kette von nebeneinanderstehenden Polizeibeamten eingeschlossen sind und so daran gehindert werden, sich fortzubewegen. Dadurch soll etwa ein Aufeinandertreffen von Demonstranten und Gegendemonstranten mit daraus resultierenden körperlichen Auseinandersetzungen vermieden werden. Allgemein gesprochen dient die Einkesselung der Verhinderung von Gewalttaten und anderen Straftaten, die mit großer Wahrscheinlichkeit von den eingeschlossenen Versammlungsteilnehmern begangen werden würden, wären sie nicht eingeschlossen. Weil die Versammlungsteilnehmer für einen nicht zu vernachlässigenden Zeitraum gegen ihren Willen auf einem eng umgrenzten Raum festgehalten werden, liegt eine Freiheitsentziehung vor, die polizeirechtlich als Gewahrsam zu qualifizieren ist.

bb) Die mit der Einkesselung verbundenen rechtlichen Probleme

(1) (Konkludente) Auflösung der Versammlung durch Einkesselung?

Unterstellt, es liegt eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung vor, ist zu überlegen, ob die Polizei die Versammlung durch Einkesselung der Versammlungsteilnehmer auflösen darf, wenn die Gefahr mit milderen Maßnahmen nicht abgewehrt werden kann. Diesbezüglich ist zu beachten, dass die in § 15 Abs. 3 VersG angeordnete Rechtsfolge der Versammlungsauflösung mit einer Zerstreuung der Menschenmenge einhergeht (vgl. § 18 Abs. 1 i.V.m. § 13 Abs. 2 VersG). Wird jedoch eine Versammlung eingekesselt, geschieht zunächst das genaue Gegenteil: Die Versammlungsteilnehmer müssen an Ort und Stelle verharren, bis sie nach und nach den Kessel verlassen dürfen. Darin eine (konkludente) Versammlungsauflösung zu sehen, würde dem verfassungsrechtlich verankerten Bestimmtheitsgrundsatz nicht Genüge tun. Nach dem Bestimmtheitsgrundsatz muss den Adressaten einer hoheitlichen Maßnahme hinreichend klar sein, welchen Inhalt die sie betreffende Maßnahme hat. Der Bestimmtheitsgrundsatz verlangt deswegen eine förmliche, d.h. ausdrückliche Auflösung der Versammlung (vgl. OVG Münster, NVwZ 2001, S. 1315 f.). Die Einkesselung, die sich konträr zu der Rechtsfolge des § 15 Abs. 3 VersG verhält, genügt diesen Anforderungen nicht. 

(2) Einkesselung als Minusmaßnahme zur Versammlungsauflösung?

Etwas anderes würde dann gelten, wenn man die Einkesselung nicht als Variante der Versammlungsauflösung, sondern als Minus zur Auflösung begreift. Dies überzeugt allerdings nicht: Die Einkesselung stellt eine Freiheitsentziehung, mithin einen besonders gravierenden Grundrechtseingriff dar. Insbesondere wird es den Versammlungsteilnehmern gleich sein, ob sie nun aufgrund einer Versammlungsauflösung oder de facto infolge einer Einkesselung ihre Versammlung nicht fortsetzen können. Die Einkesselung wiegt daher nicht weniger schwer als die Versammlungsauflösung.

Eine andere Bewertung ist aber geboten, wenn der störende Teil einer Versammlung eingekesselt wird, um der friedlichen Mehrheit die Fortsetzung der Versammlung zu ermöglichen. In Fällen, in denen nicht zu befürchten steht, dass eine Demonstration im Ganzen einen unfriedlichen Verlauf annimmt, die Störung also nur von einer Minderheit ausgeht, muss für die friedlichen Versammlungsteilnehmer der Schutz der Versammlungsfreiheit erhalten bleiben. Die Einkesselung der Störer wäre daher mit Blick auf die gesamte Versammlung als Minusmaßnahme zu qualifizieren (vgl. VG Frankfurt, Beschluss vom 3.6.2014, BeckRS 2015, 45684). Sobald jedoch Störer wie Nichtstörer betroffen sind, kann die Einkesselung nicht mehr als Minusmaßnahme einzustufen sein.

(3) Rechtlich zulässige Form der Einkesselung

Es ist notwendig, dass die Versammlung zunächst in einer rechtlich zulässigen Weise aufgelöst wird. Dafür müssen die Voraussetzungen des § 15 Abs. 3 VersG gegeben sein. Ist dies der Fall und wird eindeutig die Auflösung der Versammlung erklärt, endet der Anwendungsbereich des VersG. Wenn danach immer noch eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung besteht, weil z.B. aller Voraussicht nach ein Aufeinandertreffen von Demonstranten und Gegendemonstranten mit entsprechenden Gefahren für Leib und Leben zu erwarten ist, kann die bereits aufgelöste Versammlung  auch eingekesselt werden. Hierfür müssen die Voraussetzungen des Gewahrsams nach dem Landespolizeigesetz erfüllt sein.

Fazit: Die Versammlung kann rechtlich nicht durch eine Einkesselung aufgelöst werden. Liegt eine ordnungsgemäße Auflösung der Versammlung vor, kann aber bei fortbestehender Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung eine Einkesselung als rechtliche Folgemaßnahme auf der Grundlage des Polizeigesetzes zulässig sein. 

 

 

Vielen Dank, dass Sie diesen Beitrag gelesen haben. Wir hoffen, dass er Ihnen weiterhelfen oder zumindest Ihr Interesse wecken konnte. Hier finden Sie den Beitrag Examensrelevante Probleme im Versammlungsrecht  auf unserer Website Jura Individuell.

Rücknahme von Verwaltungsakten

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Die Prüfung der §§ 48 ff. VwVfG ist beliebtes Thema in Klausur und Examen, da hier das Verständnis des Bearbeiters für die Zusammenhänge des Verwaltungsrechts gut geprüft werden kann. Viele denken es wäre mit dem Auswendiglernen eines Prüfungsschemas getan, jedoch kann sich nur derjenige, der Systemverständnis zeigt von den übrigen Kandidaten positiv abheben. Folgender Artikel beschäftigt sich mit der Rücknahme rechtswidriger begünstigender VA nach § 48 I 1,2, II – IV VwVfG.

A. Grundsätzliche Überlegungen

Verwaltungsakte können einerseits durch Gerichte im Wege der Anfechtungsklage aufgehoben werden und andererseits durch Behördenentscheidungen selbst. Letztere umfassen die Rücknahme und den Widerruf von Verwaltungsakten. Das besondere an den §§ 48, 49 VwVfG ist, dass mit deren Hilfe die Bestandskraft von Verwaltungsakten durchbrochen werden kann.

B. Klausurvarianten

I. Anfechtungsklage

Die §§ 48 ff. VwVfG können im Rahmen einer Anfechtungsklage Prüfungsgegenstand sein. Damit ist die Konstellation gemeint, dass die Behörde einen VA gegenüber einem Bürger erlässt und diesen dann später wieder aufhebt. Gegen diesen AufhebungsVA kann der Betroffene mittels einer Anfechtungsklage vorgehen. Bei Erfolg führt dies zum Wiederaufleben des UrsprungsVA.

II. Verpflichtungsklage

Es kann aber auch sein, dass der Bürger versäumt hat gegen einen VA vorzugehen und dieser damit in Bestandskraft erwachsen ist. Liegen die Voraussetzungen des Wiederaufgreifens des Verfahrens nach § 51 VwVfG nicht vor, kann der Betroffene eine Verpflichtungsklage auf Erlass eines AufhebungsVA erheben. Allerdings ist ein solches Vorgehen nur dann erfolgreich, wenn es sich um einen gebundenen Anspruch handelt bzw. eine Ermessensreduktion auf Null vorliegt, was aber nur äußerst selten der Fall sein wird.

C. Die Rücknahme rechtswidrig begünstigender VA nach § 48 I 1, 2, II VwVfG

Zuerst muss die richtige Ermächtigungsgrundlage gewählt werden. § 48 VwVfG betrifft die Rücknahme rechtswidriger, § 49 VwVfG hingegen den Widerruf rechtmäßiger Verwaltungsakte.

I. Prüfungsschema zu § 48 I 1, 2, II VwVfG

Folgende Punkte sind im Rahmen der Begründetheit der Klage zu prüfen.

1. Ermächtigungsgrundlage

Die §§ 48 ff. VwVfG finden immer dann Anwendung, wenn sich keine passende Ermächtigungsgrundlage in Spezialgesetzen finden lässt. Vorrangig wären beispielsweise § 15 GastG, § 21 BImschG oder § 12 BeamtStG. Subsidiär ist damit auf die Ermächtigungsgrundlage des § 48 I 1, 2, II VwVfG zurückzugreifen.

2. Formelle Rechtmäßigkeit

a) Zuständigkeit

Die zurücknehmende Behörde muss sachlich und örtlich zuständig sein. Nach § 48 V VwVfG ist die Behörde nach Art. 3 VwVfG örtlich zuständig. Zuständig ist damit immer die Ausgangsbehörde, unabhängig davon, ob der zurückzunehmende VA von einer anderen Behörde erlassen wurde. Die sachliche Zuständigkeit bestimmt sich nach dem jeweiligen Fachrecht der Behörde.

b) Verfahren und Form

Diesbezüglich gelten die allgemeinen Grundsätze.

3. Materielle Rechtmäßigkeit

a) Rechtmäßigkeit des AusgangsVA
aa) Ermächtigungsgrundlage für den aufzuhebenden VA
bb) Formelle Rechtmäßigkeit des aufzuhebenden VA
cc) Materielle Rechtmäßigkeit des aufzuhebenden VA
b) Begünstigender VA

Der Verwaltungsakt muss auf eine Geld- oder Sachleistung gerichtet sein. Eine einmalige Geldleistung ist beispielsweise die Bewilligung eines Zuschusses. Laufende Geldleistungen sind mitunter Stipendien oder Hartz IV-Bezüge. Schließlich fällt unter teilbare Sachleistungen die Bewilligung von Kleidung oder Heizmaterial für Sozialhilfeempfänger, wie auch die Überlassung von Wohnräumen. Verwaltungsakte, die die Gewährung solcher Leistungen gewähren sind ebenso erfasst

aa) Vorliegen eines Vertrauenstatbestands

Der Betroffene muss auf den Bestand des VA vertraut haben. Davon ist im Regelfall auszugehen, es sei denn, der Empfänger hatte gar keine Kenntnis vom Verwaltungsakt. Ein Indiz für das Vertrauen auf den VA ist die Betätigung desselben.

bb) Schutzwürdigkeit des Vertrauens
(a) Unlautere Mittel

Eine Berufung auf das Vertrauen ist ausgeschlossen, sofern der Begünstigte den VA durch arglistige Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt hat. Bei der Bestimmung der Begriffsmerkmale ist auf die im BGB und StGB geläufigen Definitionen abzustellen. Das Erwirken stellt auf den Kausalzusammenhang zwischen Einsatz des Mittels und der Rechtswidrigkeit des VA ab. Ferner ist ein Verschulden zu fordern, da Nr. 1 eine Sanktion für das vorsätzliche Handeln darstellt.

(b) Unrichtige oder unvollständige Angaben

Vertrauen ist auch dann auszuschließen, wenn der Betroffene den VA durch unrichtige oder unvollständige Angaben erschlichen hat. Fehlerhaftigkeit ist gegeben, wenn es sich bei den Angaben um objektiv nachprüfbare Tatsachen handelt, die aufgrund der Manipulation zur Rechtswidrigkeit des VA geführt haben. Ein Verschulden ist hier nicht erforderlich, da bei Nr. 2 das Selbstverständnis für verantwortungsvolles Mitwirken bei der Sachverhaltsermittlung zugrunde gelegt wurde. Vorsicht ist aber bei der Bejahung der Nr. 2 geboten, weil dem Begünstigten hier schwerer ein unredliches Verhalten vorgworfen werden kann und die Behörde eventuell eigenständige Ermittlungen hätte anstellen müssen.

c) Kenntnis der Rechtswidrigkeit

Von einer Kenntnis ist auszugehen, wenn der Betroffene annehmen musste, dass der VA nicht richtig sein kann.

cc) Abwägung mit dem öffentlichen Interesse

Zum einen ist auf die Regelvermutung in § 48 II 2 abzustellen, wonach betätigtes Vertrauen in der Regel schutzwürdig ist. Darunter fallen der Verbrauch oder Dispositionen. Außen vor bleiben aber alle Anschaffungen, die wertmäßig noch im Vermögen des Betroffenen vorhanden sind. Auch die Schuldentilgung ist davon ausgenommen. Sonstige Aspekte die bei der Abwägung zu berücksichtigen sind:

– das Ausmaß der Rechtswidrigkeit

– der Zeitablauf seit dem Erlass des VA

– einmalige Leistung oder Dauerleistung

– welche Auswirkungen sich für den Begünstigten, Dritte oder die Allgemeinheit ergeben.

4. Ermessen

Bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 48 II VwVfG hat die Behörde kein Ermessen, ob sie den Verwaltungsakt zurücknimmt oder nicht. Der Vertrauensschutz wird hier auf der Tatbestandsseite geprüft und führt zwingend zu einem Rücknahmeverbot. Damit muss in diesen Fällen der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung hinter dem Bestandsschutz zurücktreten. Liegt hingegen kein schutzwürdiges Vertrauen vor, so kann die Behörde nach ihrem Ermessen über die Aufhebung des Verwaltungsaktes entscheiden, § 48 I 1.

5. Frist § 48 IV VwVfG

Die Rücknahme eines rechtswidrigen VA ist nach § 48 IV VwVfG nur innerhalb eines Jahres möglich, sobald die Behörde von den Tatsachen Kenntnis erlangt, die die Rücknahme rechtfertigen.

a) Ist das Fristerfordernis auch bei Rechtsanwendungsfehlern beachtlich?
aa) Das Problem

Wie ist mit dem Erfordernis einer Fristsetzung umzugehen, wenn die Behörde den gesamten Sachverhalt richtig erkannt hat, aber einen Fehler in der Anwendung des Rechts macht? Der Wortlaut des § 48 IV ist insofern eindeutig. Erfasst ist nur der Fall, dass die Behörde von einer falschen Sachlage ausging, also Tatsachen verkannt hat.

bb) Die Lösung

Denklogisch ergeben sich zwei Lösungsmöglichkeiten für den Fall der falschen Rechtsanwendung. Entweder beginnt keine Frist zu laufen oder die Frist beginnt bereits zum Zeitpunkt des Erlasses des VA. Letzteres kann aber ausgeschlossen werden, da es dafür eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes im Verwaltungsrecht bedürfte, der besagt, dass bei Fehlen von Fristregelungen, Fristbeginn immer der Zeitpunkt des VA-Erlasses ist. Da es einen solchen Grundsatz nicht gibt, kommt nur noch in Frage, dass gar keine Frist zu laufen beginnt. Mit Blick auf den rechtsstaatlichen Grundsatz der Rechtssicherheit ist es aber höchst fragwürdig, ob der Behörde beliebig Zeit gegeben werden darf ihre VAs zurückzunehmen. Eine unterschiedliche Behandlung dieser beiden Konstellationen der falschen Sachverhaltserfassung und der falschen Rechtsanwendung kann nicht gerechtfertigt werden. Der Betroffene ist in beiden Fällen gleich schutzwürdig. Um das Problem rechtlich zu lösen, kann man auf eine weite Auslegung zurückgreifen und Rechtsanwendungsfehler als vom Wortlaut gedeckt ansehen oder man wendet die Vorschrift analog auf Rechtsanwendungsfehler an. Eine weite Auslegung ist aufgrund des eindeutigen Wortlauts hier nicht mehr zu vertreten, weshalb nur eine Analogie möglich ist. Im Ergebnis bleibt der Behörde also auch bei Rechtsanwendungsfehlern nur ein Jahr Zeit den VA zurückzunehmen.

b) Wann beginnt die Frist zu laufen?

Schließlich ist noch zu fragen, wann die Frist zu laufen beginnt. Vertreten werden zwei Ansichten. Einerseits wird eine Bearbeitungsfrist angenommen, wonach es ausschließlich auf die Kenntniserlangung der Tatsachen ankommt, bzw. auf die Kenntniserlangung von der falschen Rechtsanwendung. Auf der anderen Seite wird zusätzlich noch die Kenntnis der Rechtswidrigkeit gefordert. Betrachtet man den Wortlaut, so ist die „Kenntnis von Tatsachen, welche die Rücknahme rechtfertigen“ erforderlich. Dadurch, dass eine Rechtfertigung erforderlich ist, kann die Kenntnis allein nicht ausreichend sein. Es handelt sich also um eine Entscheidungsfrist.

D. Die Rücknahme eines Verwaltungsaktes nach § 48 I 1, 2, III VwVfG

I. Prüfung § 48 I 1, 2, III VwVfG

1. Ermächtigungsgrundlage

Die richtige Ermächtigungsgrundlage ist § 48 I 1, 2, III VwVfG.

2. Formelle Rechtmäßigkeit

3.Materielle Rechtmäßigkeit

a) Rechtmäßigkeit des AusgangsVA
aa) Ermächtigungsgrundlage
bb) Formelle Rechtmäßigkeit
cc) Materielle Rechtmäßigkeit
b) Begünstigender VA

Hier wird eine negative Abgrenzung vorgenommen. Sonstige VA, sind alle VA, die nicht unter § 48 II VwVfG fallen. Als Beispiele können die Baugenehmigung, die Erteilung einer Gaststättenerlaubnis oder die Gewährung einer unteilbaren Sachleistung angeführt werden.

aa) Vorliegen eines Vertrauenstatbestands und Schutzwürdigkeit

Hier ergibt sich nichts anderes als bei § 48 II 3, auf den § 48 III 2 verweist.

bb) Abwägung mit dem öffentlichen Interesse

Eine Abwägung des Vertrauens mit dem öffentlichen Interesse findet bei Absatz 3 nicht statt. Der Vertrauensschutz wird durch die Gewährung des Vermögensausgleichs gewährt, aber nicht durch die Aufrechterhaltung des VA.

4. Ermessen

a) Kein gebundener Anspruch

Die Rücknehmbarkeit steht im Rahmen des § 48 III VwVfG im Ermessen der Behörde, § 48 I 1 VwVfG. Es besteht damit kein gebundener Anspruch. § 48 III VwVfG gewährt Vertrauensschutz nicht in Form des Bestandsschutzes, sondern in Form des Vermögensschutzes. Das bedeutet, dass bei Schutzwürdigkeit des Vertrauens zwingend ein Entschädigungsgebot folgt. Die Behörde hat das negative Interesse zu ersetzen, muss also den Betroffenen so stellen, wie er stünde wenn er nicht auf die Wirksamkeit des VA vertraut hätte. Die Entschädigung wird der Höhe nach durch das positive Interesse begrenzt.

Eine Bindung wäre nur im Fall der Ermessensreduzierung auf Null  möglich. Dies müsste unter Einbeziehung der Grundrechte sorgfältig abgewogen werden. Eine solche Vorgehensweise birgt jedoch große Unsicherheiten. Deshalb ist zu fragen, ob nicht auch im Rahmen des § 48 III VwVfG Bestandsschutz unter Anwendung des § 48 II VwVfG analog beansprucht werden kann.

b) Bindung über § 48 II VwVfG analog?
aa) Pro

Für die Aufrechterhaltung des VA spricht, dass § 48 III VwVfG keine Regelung für den Fall trifft, dass dem Betroffenen mit einer Geldentschädigung nicht gedient ist und es eines weitergehenden Schutzes bedarf als nur die Gewährung einer Entschädigung. Vergleicht man § 48 II VwVfG mit § 48 III VwVfG, so wird man feststellen, dass sich diese Vorschriften nicht wesentlich unterscheiden. § 48 II VwVfG regelt die Aufrechterhaltung des VA. Der Bestandsschutz dient allein dem Zweck ein sinnloses Hin und Her von Zahlungen zu verhindern. Andernfalls müsste der GeldleistungsVA zurückgenommen und eine Entschädigung ausgezahlt werden. Da dies aber äußerst umständlich wäre, hat der Gesetzgeber die Aufrechterhaltung des VA als zwingende Rechtsfolge des § 48 II VwVfG bei schutzwürdigem Vertrauen festgelegt. Weiterhin sind die Kriterien, die zur Feststellung der Schutzwürdigkeit des Vertrauens herangezogen werden in beiden Absätzen die gleichen. In Absatz 2 wird das öffentliche Vertrauen mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme abgewogen, wohingegen das öffentliche Interesse in Absatz 3 auf die Nichtzahlung der Entschädigung gerichtet ist. Diese Differenzierung ergibt sich aber denklogisch aus den unterschiedlichen VAs.

bb) Contra

Als Gegenargument ist der Wortlaut des § 48 III VwVfG anzuführen, der eindeutig nur von einem Ausgleich des Vermögensnachteils spricht und eben nicht von Bestandsschutz. Schließlich hat sich der Gesetzgeber für eine differenzierte Ausgestaltung entschieden, indem er zwei unterschiedliche Absätze mit unterschiedlichen Regelungen geschaffen hat.

cc) Stellungnahme

Letztlich ist entscheidend, dass die Aufrechterhaltung des VA in § 48 II VwVfG nur eine Praktikabilitätserwägung ist, um ein umständliches Vorgehen zu vermeiden. Ferner kann der mit Verfassungsrang ausgestattete Aspekt des Vertrauensschutzes in Form des Bestandsschutzes in der Prüfung des Absatz 3 nicht völlig unberücksichtigt bleiben, da eine Entschädigung nicht immer möglich oder nur unzureichend ist. Damit sprechen die überzeugenderen Gründe für die analoge Anwendung des § 48 II VwVfG.

3. Frist § 48 IV VwVfG

Diesbezüglich ergibt sich nichts anderes als oben geprüft.

E. Anmerkungen

siehe auch Prüfungsschema zu Art. 14 I 1 GG, „Klausur zur Berufsfreiheit

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